Islam: Dialog auch mit den Militanten?
Überlegungen zu Lösungsstrategien für globale und regionale Konflikte
Von Heinz Knobbe*
Der US-amerikanische Präsident lässt keinen Anlass verstreichen, um seine Überzeugung von der
Notwendigkeit des »Kampfes gegen den Terror« sowie der »Demokratisierung« der Staaten des
Nahen und Mittleren Ostens zu propagieren, seinen Irak-Feldzug zu rechtfertigen und seine
Strategie der Neuordnung dieser Region durchzusetzen. Nun hat auch Frankreichs Päsident Chirac
ins Kriegsgeschrei eingestimmt, den Einsatz von Atomwaffen gegen unbotmäßige Staaten nicht
ausgeschlossen. Wieder wird ein Video von Osama bin Laden mit neuen Drohungen präsentiert.
Und in Deutschland wollen christdemokratische Politiker einen verfassungswidrigen
Einbürgerungstest für Muslime durchsetzen. Militante Gebärden allerorten. All das wird Terror und
Gewalt nicht beenden, im Gegenteil. Was ist zu tun?
In seiner Rede vor der »Nationalen Stiftung für Demokratie« am 6. Oktober vergangenen Jahres in
Washington betonte Bush, die Entschlossenheit seiner Regierung, die Islamisten zu zerschlagen.
Seiner Meinung nach sei dem Bestreben der Islamisten, den amerikanischen und westlichen
Einfluss im erweiterten Nahen Osten zu beenden, als einzige Antwort entgegenzusetzten, »niemals
aufzugeben, niemals etwas anderes zu akzeptieren, als einen vollständigen Sieg« der USA,
»niemals zu ruhen, bis dieser Krieg gewonnen ist«. Mit Krieg überziehen will Bush auch die
»autoritären, außerhalb der Gesetze stehenden Regimes wie Syrien und Iran«, die die Ziele der
Islamisten, »Amerika und moderate muslimische Regierungen zu schwächen«, unterstützen würden.
Das einzige Fenster zum Frieden
Die Welt bangt, dass weitere Aggressionen unmittelbar bevorstehen. Und dies, obwohl doch der
einseitige Strategieansatz des vorrangigen Einsatzes militärischer Mittel als Instrument zur
Konfliktregelung offenkundig – wie Irak und Afghanistan zeigen – gescheitert ist. Die Terrorakte vom
Juli 2005 in London und in Scharm el Sheikh haben zu einer Eskalation des Konflikts geführt, der
auch die europäischen Strassen erfasst, wie das Aufbegehren der jungen Menschen muslimischer
Herkunft in den Vororten der französischen Hauptstadt demonstrierte. Einige Zeitungen sprachen
schon von einer französischen Intifada. Diese Vorfälle beweisen jedoch nur eins: Die bisher verfolgte
Antiterrorstrategie hat die internationale Lage eher verschlechtert, denn entkrampft. Der
saudiarabische Minister für Bildung und Erziehung, Dr. Al-Abid, beklagte unlängst in Berlin auf
einem deutsch-arabischen Symposium »zur Stärkung einer Kultur des Friedens«, dass zur
Regelung von Konflikten in den letzten Jahren die Gewalt vorherrsche, sie jedoch nicht zum Frieden
führe. Lediglich »der Dialog ist ein Fenster zum Frieden«, betonte er und rief die Teilnehmer zum
Handeln auf.
Sowohl das gegenwärtige militärische als auch das politische Instrumentarium des Westens führt an
den Hauptfragen vorbei, nämlich an der Klärung des politischen Kerns der Bedrohung, d .h. der zu
regelnden Streitfragen und somit des Inhalts des Konflikts. Es gilt, zu einem
entspannungsfördernden Umgang mit den islamistischen Oppositionsbewegungen zu gelangen, um
antiwestliche Stimmungen aufzulösen. Sofortige Schritte sollten darauf abzielen, den Kriegszustand
zu überwinden und zur Vertrauensbildung überzugehen, um langfristig ein gleichberechtigtes
Zusammenleben der Zivilisationen zu gewährleisten.
Streitkultur statt Kuscheldialog
Natürlich dürfen wir auch in Deutschland das Konfliktpotenzial nicht unterschätzen – über das
übrigens der Leiter der Kompetenzgruppe Islamismus des Landes Baden-Württemberg (!) jüngst auf
einer gemeinsamen Veranstaltung der Hans-Seidel-Stiftung und des Zentrums Moderner Orient
ausführlich referierte. Ohne Zweifel muss der Staat seine Bürger vor Gewalttaten islamistischer
Kräfte schützen, Aktionen, die von diesen vorbereitet werden, aufdecken und verhindern.
Auf jener Tagung riefen deutsche Islamwissenschaftler aber auch dazu auf, die Probleme zwischen
dem Westen und der islamischen Welt zuvorderst durch einen umfassenden Dialog zu entschärfen.
Dazu gehört auch, zu akzeptieren, dass die politischen Bewegungen in islamischen Ländern ihre
Forderungen religiös artikulieren.
Zweifellos werden wir uns auf eine lang anhaltende Periode einzustellen haben, es wird nicht leicht
sein, einen Ausgleich zu erreichen zwischen den autoritären Herrschaftsträgern und der
Gesellschaftsopposition der islamischen Nachbarregionen einerseits sowie zwischen diesen, den
säkularen Systemen Europas wie auch zu den muslimischen Minderheiten in westlichen Ländern
andererseits. Welche Prinzipien sollten dem Dialog, der Vertrauensbildung zu Grunde liegen?
Erstens: Respektierung der Integrität der Zivilisation des Anderen sowie der Unterschiedlichkeit der
Gesellschaften und ihrer politischen Systeme. Hier ergibt sich bereits die Frage, ob die in
Deutschland lebenden gläubigen Muslime den traditionellen Anspruch ihrer Religion auf Gestaltung
der politischen, rechtlichen und sozialen Grundlagen des menschlichen Lebens aufgeben und eine
säkulare Ordnung akzeptieren wollen oder nicht. Zweifel sind angesagt. Aber an der Anerkennung
und Befolgung der Gesetze des Landes, in dem man lebt, ist nicht zu rütteln. Fraglich ist auch, ob
die muslimischen Gemeinschaften das von den westlichen Gesellschaften erhobene Prinzip der
Gegenseitigkeit in der Praxis zu realisieren bereit sind. Im Gegenzug muss andererseits der Westen
darauf verzichten, den islamischen Gesellschaften eigene Demokratievorstellungen überstülpen zu
wollen. Kritik und Selbstkritik sollte immanenter Bestandteil des Dialogs sein.
Zweitens geht es um die Suche nach Gemeinsamkeiten, wobei Reizthemen nicht auszuklammern,
Widersprüche und Streitfragen auf ihren eigentlichen sachlichen Kern zu reduzieren sind, um die
Felder von Übereinstimmung oder Dissens und – darauf aufbauend – Auswege bestimmen zu
können. Gefragt ist Zusammenarbeit auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten, gewaltfreie
Koexistenz in den Fragen, in denen tiefere Widersprüche bestehen. Dem könnte der Abschluss
einer Vereinbarung über Grundlagen des gegenseitigen Verhältnisses, ein »Code of Conduct«,
dienen, der für Konfliktsituationen einen gegenseitig gewaltfreien Umgang regelt. Eine Art von
Kuscheldialog freilich wäre fehl am Platze. Ohne kritische Streitkultur wird es nicht gehen.
Islamische Ghettos in Europas Metropolen
Drittens darf der Prozess der Vertrauensbildung nicht auf den interreligiösen und interkulturellen
Dialog beschränkt bleiben. Wichtig ist ein umfassendes Verständnis: sozio-ökonomisch, politisch,
rechtlich und kulturell. Wenn diese Elemente nicht im Komplex vorhanden sind, so wird sich in
Europa ein »Ghetto-Islam« entwickeln und der »Heilige Krieg« schneller zur Realität. Die
Voraussage des schwedischen Diplomaten Ingmar Carlson aus dem Jahre 1999, dass sich dieser
Konflikt »nicht in Form eines Krieges zwischen dem Westen und der islamischen Welt oder eines
›Kampfes der Kulturen‹ à la Huntington, sondern als eine Art permanenter Partisanenkrieg der
Vorstadt-Ghettos unserer Großstädte« entwickeln kann, ist bereits eingetroffen.
Viertens sollte nach praktischen Handlungsfeldern gesucht, z. B. gemeinsame Projekte in Angriff
genommen werden. Eine Möglichkeit wäre die Vorbereitung einer Art KSZE für den Nahen und
Mittleren Osten. Europa vielfältige Erfahrungen aus dem KSZE- wie auch dem europäischen
Einigungsprozess könnten in ein solches Projekt für die islamischen Nachbarregionen eingebracht
werden. Ebenso wie der Barcelona-Prozess über den Nahen Osten hinaus ausgedehnt werden
könnte. Derart würde Europa seine Bereitschaft zu einem »Neuanfang« im Verhältnis zur
islamischen Welt demonstrieren.
Fünftens wären die Zielgruppen des Dialogs zu bestimmen. Ohne Einbeziehung der islamischen
Gesellschaftsopposition, einschließlich radikaler Kräfte, in den Prozess der Vertrauensbildung, ohne
Einbindung der politischen Islamisten, auch der militanten, wird es keinen dauerhaften Frieden in der
Region geben. Von dieser Erkenntnis ist offensichtlich die palästinensische Führung um Abbas
ausgegangen, als sie die Hamas zur Zusammenarbeit einlud. Die Europäer hingegen lehnten das
Angebot eines Waffenstillstands durch den Stellvertreter von bin Laden, den Ägypter Ayman
Zawahiri, vom April 2004 an jedes Land, das sich verpflichtet, Attacken auf Muslime und die
Einmischung in deren Angelegenheiten zu beenden, einfach ab. Wörtlich sagte er: »Es wird keine
Rettung geben, bis Ihr Euch von unserem Land zurückzieht, aufhört, unser Öl und Ressourcen zu
stehlen, und Schluss macht, korrupte Herrscher zu unterstützen.«
Warum sollten mit Radikalen, Militanten keine Gespräche geführt werden? Die Franzosen hatten
solche mit der algerischen FLN, die Briten mit der IRA geführt. Und selbst der Theoretiker der
amerikanischen Neokonservativen Richard Pipes hat ja Putin aufgerufen, mit den tschetschenischen
Terroristen zu verhandeln.
Waffenstillstand mit Al Qaida
Allen J. Zerkin von der New Yorker Universität forderte in einem Artikel im »Daily Star« vom 18.
Oktober 2005 ein neues Herangehen an die militanten Islamisten. »Früher oder später könnten wir
keine andere Wahl haben, als einen Waffenstillstand mit Al Qaida anzustreben«, schrieb er.
Die europäische Politik gegenüber dem Islam, islamistischen Bewegungen und Parteien darf nicht
bei demokratischen Oppositionellen und gemäßigten Islamisten enden. Kompromisse müssen
gerade mit radikalen Kräften gefunden werden. Es ist Zeit, dass Europa seine Politik gegenüber dem
islamischen Raum und den dort stattfindenden Prozessen überprüft und den Weg des Dialogs mit
allen relevanten Bewegungen und Parteien, die sich zum Islam bekennen, beschreitet.
* Heinz Knobbe ist Vorstandsvorsitzender des Nahost-Forums und Mitbegründer der Initiative "Diplomats for Peace with the Islamic World". (Siehe auch:
Brief ehemaliger Diplomaten aus West- und Ostdeutschland.)
Aus: Neues Deutschland, 21. Januar 2006
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