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Streitfrage: Sollten salafistische Vereine verboten werden?

Es debattieren: Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und der Menschenrechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz


Die Politik hat mit dem Salafismus eine neue Sicherheitsbedrohung in Deutschland ausgemacht. Salafisten sind Muslime, die sich an der Gründungszeit des Islam orientieren. Ihnen werden unter anderem Verbindungen zum islamistischen Terrorismus unterstellt. Ausgegangen wird von bis zu fünftausend Salafisten in Deutschland.
Aufsehen erregten die radikalen Muslime zum einen mit Verteilungen des Korans in Innenstädten. Zum anderen lieferten sie sich Straßenschlachten mit der Polizei, nachdem die rechte »Pro Bewegung« sie mit sogenannten Mohammed-Karikaturen provozierte.
Im Juni dieses Jahres wurde ein Verbot gegen das Netzwerk Millatu Ibrahim aus Solingen erlassen. Doch was bringen Verbote gegen salafistische Organisationen und Vereine?



Nicht nur eine Frage religiöser Toleranz

Von Hans-Eberhard Schultz *

Als Rechtsanwalt hatte ich in den vergangenen Jahren zunehmend das zweifelhafte Vergnügen, eine Reihe sogenannter Islamisten und Hassprediger vor Behörden und Gerichten zu vertreten. Zweifelhaft wegen der großen Schwierigkeit, ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen, auch wenn im Ergebnis Ermittlungsverfahren u. a. wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in »terroristischen oder kriminellen Vereinigungen« eingestellt und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit für Moscheevereine gerichtlich als rechtswidrig festgestellt wurde. All diesen Verfahren war gemeinsam, dass sie auf unhaltbaren geheimdienstlichen Angaben beruhten. Trotzdem ist es bisher nicht gelungen zu verhindern, dass betroffene Imame weiter ungestraft als »Hassprediger« bezeichnet werden dürfen.

Vereinsverbote stehen in der repressiven Tradition unserer staatlichen Obrigkeit, der nicht von ihr kontrollierte Organisationen verdächtig sind. Sie sind verfassungsrechtlich mehr als problematische Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit. Die Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes sollte eigentlich eine Hürde für Verbote salafistischer Vereinigungen darstellen. Tut sie offensichtlich aber nicht.

Die bei uns vorherrschende Einschätzung von Salafisten beruht auf einem Konstrukt von Verfassungsschutz und anderen Geheimdiensten, das wissenschaftlich unhaltbar und politisch gefährlich ist. Salafisten werden zwar nicht mehr pauschal als »Terroristen« gebrandmarkt, zumindest aber als Vorkämpfer »gewaltbereiter Dschihadisten« und »geistiger Nährboden« für »islamistischen Terrorismus« eingestuft.

Tatsächlich handelt es sich bei dem Salafismus nach Aussagen unabhängiger Experten weltweit um eine breite Strömung innerhalb des Islam, die sich den »ursprünglichen Werten« ihrer Religion verschrieben hat und überwiegend keinen Einfluss auf Politik und Staat nehmen will. Jedenfalls liegt es den (zahlenmäßig sehr wenigen) Salafisten bei uns fern, in Deutschland oder Europa einen »Gottesstaat« errichten zu wollen - was immer darunter in den verschiedenen Ländern islamischer Prägung verstanden wird.

In der Politik und den Massenmedien fungiert die gegenwärtige zum Teil hysterische Debatte über den Salafismus als Ablenkungsmanöver von der berechtigten Kritik an den deutschen Geheimdiensten: Ausgerechnet ihnen, denen eine Mitschuld an der rassistischen Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds nicht abgesprochen werden kann, soll das Märchen vom »Salafismus als neuem Hauptfeind der inneren Sicherheit« abgenommen werden? Obwohl ihnen außer zwei verletzten Polizisten keine weiteren Gewalttaten zugeschrieben werden - insgesamt also weniger als bei vielen Auseinandersetzungen am Rande von Fußballspielen.

Daneben wird das kostenlose Verteilen von Exemplaren des Korans angeprangert, wobei das Sicherheitsrisiko kaum größer sein dürfte als das beim Verteilen von Schriften der Zeugen Jehovas oder anderer Bibelmissionare. Begleitet wird das von reißerisch aufgemachten Fernseh-»Dokumentationen«, in denen sich Eltern darüber sorgen, dass ihre volljährigen Kinder durch »Salafisten-Moscheen« von ihnen entfremdet werden. Damit wird die Gefahr an die Wand gemalt, dass Jugendliche einer Gehirnwäsche unterzogen, im Nahen Osten zu Dschihadisten ausgebildet und als Terroristen zu uns zurückgeschickt werden. Das Ganze mündet dann in einer »Vermissten Kampagne« des Bundesinnenministeriums und Fragebögen für Eltern und Erzieherinnen, die an plumper Bauernfängerei kaum zu überbieten sind.

Pikant in dem Zusammenhang: Nach allgemeiner Ansicht wird eine angeblich besonders gewaltbereite Strömung der Salafisten, der »Wahabismus«, ausgerechnet von Saudi-Arabien aus finanziert. Einem islamischen Staat, der sich der Unterstützung des Westens und speziell der Bundesrepublik erfreut, wie die geplante Lieferung von mehreren hundert Leopardpanzern an das saudische Königshaus zeigt.

Das seit den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 verstärkte allgemeine »Feindbild Islam« wird zunehmend ersetzt durch das neue »Feindbild Salafismus«, mit dem Individuen und Organisationen ausgegrenzt und ihrer Rechte beraubt werden. So wird antimuslimischer Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft und den Institutionen befördert.

Insofern ist es nicht nur eine Frage religiöser Toleranz, sondern eine Frage unserer Demokratie - unabhängig von der Rolle bestimmter Salafisten in arabischen Ländern -, für die Religionsfreiheit und die Erhaltung der Menschenrechte auch von »Islamisten« bei uns einzutreten. Deshalb lehne ich Verbote salafistischer Vereine ab.

* Hans-Eberhard Schultz, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte. (www.menschenrechtsanwalt.de); Eberhard-Schultz-Stiftung


Rote Linie der Gewalt

Von Kenan Kolat **

Nicht erst seit den gewaltsamen Ausschreitungen in Solingen und Bonn rund um die Aktionen Pro Deutschlands und den Gegenkundgebungen hat sich eine sehr lebhafte öffentliche Debatte um die Anziehungskraft extremistischer Strömungen innerhalb des Islam auf Jugendliche und des Umgangs mit diesen entwickelt. Sowohl staatliche als auch zivilgesellschaftliche Akteure und Akteurinnen - unter ihnen in besonderen Maße die Muslime selbst - suchen nach geeigneten Mitteln gegen diese Gruppierungen. Bei der Frage geeigneter Mittel scheiden sich die Geister. Nicht wenige setzen sich für repressive Maßnahmen ein und fordern seit den jüngsten Ereignissen und als Reaktion auf die erschreckenden Bilder sogar ein Verbot salafitischer Vereine.

Ich möchte alle Beteiligten aufrufen, sich ernsthaft und sachlich mit den Phänomenen des religiös motivierten Extremismus auseinanderzusetzen und keine Schnellschüsse zu produzieren. Bevor wir Gegenstrategien entwerfen, brauchen wir genaue Kenntnisse und fundierte Analysen über die Beweggründe junger Menschen, die sich extremistischen Ideologien und Gruppierungen zuwenden. Vor allem ist zu fragen und genau zu analysieren, was diese jungen Menschen bewegt und warum sie sich Ideologien der Ungleichwertigkeit zuwenden und sich bestimmten ex-tremistischen Gruppierungen anschließen.

Dabei sollte nicht nur die sicherheitspolitische Perspektive im Vordergrund stehen, sondern die gesamte Palette der Einflussfaktoren, die menschliches Handeln freisetzt. Denn nur über die genaue Kenntnis aller relevanten Faktoren können geeignete Gegenstrategien entwickelt werden.

Bei der Suche nach den vielfältigen Einflussfaktoren kommen wir an der Tatsache der Ausgrenzung der Muslime nicht vorbei. Die Zuschreibungen von außen, mit denen Jugendliche auf ihre religiöse Identität reduziert werden, könnten ein Faktor bei der Hinwendung dieser zu identitätsstiftenden Ideologien sein.

Viele Jugendliche suchen nach religiösen Antworten und Spiritualität und mangels entsprechender Angebote landen sie bei Gruppen, die ihnen die Beantwortung aller ihrer Fragen versprechen und ihnen über die Zugehörigkeit zu einer exklusiven Gruppe eine Aufwertung ihrer Person bieten. Hier sind wir alle gefragt, die staatlichen Einrichtungen, die Zivilgesellschaft und die muslimischen Verbände. Gemeinsam müssen wir an spezifischen Angeboten für junge Menschen auf der Sinnsuche arbeiten.

Nach der Analyse der Beweggründe junger Menschen zu Ideologien der Ungleichwertigkeit sollten wir uns die extremistischen Tendenzen und Gruppierungen innerhalb des Islam genauer anschauen. Auch hier plädiere ich für eine genaue Analyse und die Entwicklung differenzierter und passgenauer Gegenmittel. Dabei sind auch repressive Maßnahmen zu verfolgen.

Es bedarf einer gemeinsamen Verständigung über die rote Linie, ab wann können präventive Mittel nicht mehr wirken und ab welchem Punkt müssen repressive bzw. sicherheitspolitische Mittel eingesetzt werden. Für mich ist die Grenze ganz klar bei Befürwortung und Propagierung von Gewalt als legitimes Mittel für die Verwirklichung eigener Ziele zu setzen, seien diese diesseitig oder jenseitig verortet. Diese rote Linie gilt für alle. Unabhängig der kulturellen Herkunft seiner Akteure sind alle Gruppen zu verbieten, die Gewalt legitimieren, propagieren oder einsetzen.

** Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Der Diplom-Ingenieur ist Mitglied der SPD.

Die Debattenbeiträge erschienen in: neues deutschland, Samstag, 20. Oktober 2012


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