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Laut, bunt und friedlich

Mit kreativen Aktionen und weiteren Demonstrationen reagieren Hamburger auf Polizeischikanen. "Gefahrengebiet" verkleinert

Von Florian Osuch *

Erneut haben in Hamburg Hunderte gegen das von der Polizei eingerichtete »Gefahrengebiet« protestiert. Am Samstag zog eine Lärmdemo durch den Stadtteil St. Pauli. Mit Tröten, Rasseln und anderen Krachmachergegenständen protestierten Bewohner gegen die anhaltenden Polizeischikanen in ihrem Viertel. An dem Umzug beteiligten sich auch Familien mit ihren Kindern, die von den allabendlichen Polizeisirenen genervt sind. Bereits am Freitag hatten sich mehrere hundert Personen zu einer Kissenschlacht an der Reeperbahn getroffen und wollten so ihren Unmut über die massiven Polizeikontrollen ausdrücken. Tags zuvor waren bis zu 600 Menschen zu einer Fahrraddemo quer durch die Hamburger City und die betroffenen Bezirke Altona, St. Pauli sowie das Schanzenviertel gekommen.

Bewohner der Viertel reagieren inzwischen mit Spott auf die Polizeipräsenz. An Fenstern wurden Banner mit der Aufschrift »Wir fordern Blauhelme« angebracht. Es soll bereits Angebote zu Führungen durch die polizeiliche Sonderzone geben. Andere bereiten sich auf Kontrollen vor, indem sie Klobürsten oder andere »gefährliche« Gegenstände mitführen, die sie den Beamten dann präsentieren. So ist das WC-Utensil zum Symbol des Protests geworden.

Studierende der Universität Hamburg rufen für den heutigen Nachmittag zu einer weiteren Demonstration auf. Sie wollen vom Uni-Campus zu den »Esso-Häusern« ziehen. Die sanierungsbedürftigen Gebäude an der Reeperbahn sollen abgerissen werden, ein Investor plant einen Neubau (jW berichtete). Die Bewohner mußten ihre Wohnungen wegen drohender Einsturzgefahr bereits verlassen. In einem Aufruf für die Demonstration wird der Hamburger SPD-Senat scharf angegriffen. Auf die Forderungen nach einem Recht auf bezahlbares Wohnen antworte die Stadt »mit der spekulativen Vermarktung von Wohnraum und dem bedingungslosen Festhalten an Prestigeprojekten wie der Elbphilharmonie«, heißt es. Für kommenden Sonnabend ist eine Bündnisdemonstration unter dem Motto »Ausnahmezustand stoppen! Politische Konflikte politisch lösen!« geplant, zu der auch die Linkspartei aufruft.

Die vielfältigen Aktionen der vergangenen Tage zeigen den Charakter der Proteste: Es geht laut, frech, bunt und friedlich zu. Eine Kombination, mit der die Polizeiführung offenbar schlechter umgehen kann als mit Randale. In der vergangenen Woche fanden jeden Abend spontane Stadtteilspaziergänge gegen die Einrichtung des »Gefahrengebietes« statt. Die Polizei setzte immer wieder kleine Gruppen fest und nahm Personen in Gewahrsam. Die eingesetzten Beamten wirkten jedoch mitunter desorganisiert und überfordert, konnten spontane Aufzüge nie vollständig unterbinden. Wohl auch deshalb wurde das am 3. Januar eingerichtete »Gefahrengebiet« inzwischen auf drei »Gefahreninseln« verkleinert. Man habe zuletzt bei Durchsuchungen kaum noch relevantes Material gefunden, heißt es. Daß kurz nach Silvester gelegentlich Feuerwerk in den Taschen und Rucksäcken der Kontrollierten gefunden wurde, ist allerdings wenig verwunderlich.

Nach Angaben von Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, sind seit Beginn der Maßnahmen Anfang Januar »weit über 1000« Personen von Durchsuchungen, Platzverweisen und Aufenthaltsverboten betroffen gewesen. Schneider hält es rechtsstaatlich für »mehr als bedenklich«, daß sich die Polizei selbst ermächtigt, solche Sonderrechtszonen einzurichten. »Ausschließlich die Polizei entscheidet über den ›kleinen Ausnahmezustand‹, und sie unterliegt dabei nicht einmal der Kontrolle des Senats, der Bürgerschaft oder der Gerichte«, kritisierte Schneider gegenüber jW.

Das »Gefahrengebiet« war nach einem angeblichen Anschlag auf ein Polizeirevier eingerichtet worden. Die Polizei hatte behauptet, bis zu 40 Vermummte hätten am 28. Dezember eine Wache mit Steinen attackiert und dabei einen Beamten schwer verletzt. Nachdem der Hamburger Jurist Andreas Beuth dies als »Falschdarstellung« bezeichnet hatte, korrigierte sich die Polizei. Inzwischen habe die Polizei ihre erste Darstellung »nahezu komplett widerrufen«, erklärte Beuth gegenüber junge Welt.

* Aus: junge Welt, Montag, 13. Januar 2014


Hamburger Willkürzone aufgehoben

Scholz sieht Zweck des »Gefahrengebiets« erfüllt

Von Velten Schäfer **


»Achtung, hier beginnt der Polizeistaat« steht auf einem riesigen Transparent, das seit einigen Tagen von St. Pauli aus gut sichtbar in Richtung Hamburger Hafen grüßt. Das ist nun bis auf Weiteres nicht mehr zutreffend. Obwohl Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) die Maßnahme bis zuletzt in der Presse verteidigte, wurden nun auch die verbliebenen »Gefahreninseln« rund um drei Polizeiwachen nunmehr aufgehoben.

Seit dem vierten Januar hatte die Polizei dort willkürlich Passanten durchsuchen, des Stadtteils verweisen oder sogar in »Gewahrsam« nehmen dürfen. Bereits vor dem Wochenende war das »Gefahrengebiet« allerdings räumlich und zeitlich eingeschränkt worden. Zuletzt galt die Suspendierung der Grundrechte nur noch im Umfeld der Davidwache an der Reeperbahn sowie rund um zwei weitere Polizeiposten.

Begründet worden war die in ihrer Flächigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Grundrechtsbeschränkung mit Krawallen und Angriffen von vermeintlichen Linksextremisten gegen Polizeibeamte. Zumindest an einer der beiden als Anlässe genannten Attacken auf die Davidwache gibt es allerdings erhebliche Zweifel. Die Polizei hatte ihre erste Darstellung des Vorgangs nach Widersprüchen zurücknehmen müssen – ein gleichfalls ungewöhnlicher Vorgang.

Noch in der Montagsausgabe der »Süddeutschen Zeitung« hatte Scholz erklärt, die Maßnahme habe sich »bewährt« und werde sich auch »weiter bewähren«. Nach Scholz Darstellung haben die »Kontrollen (...) die Maßnahme bestätigt«. Schließlich habe die Polizei Schlagwerkzeuge und Feuerwerkskörper gefunden; es sei aber nicht zu weiteren Vorfällen gekommen.

Dem allerdings schien der Augenschein teils zu widersprechen. So fielen Flaneuren im zum »Gefahrengebiet« zählenden Schanzenviertel gerade in den letzten Tagen vermehrt beschädigte Schaufensterscheiben an teuren Geschäften auf. Die drakonische Maßnahme der allein regierenden Sozialdemokraten könnte durchaus zu derlei »Mutproben« herausgefordert haben.

Tatsächlich dürfte nicht zuletzt der wachsende öffentliche Druck zum Ende des Sonderrechtsgebietes im Herzen der Hansestadt geführt haben. Und der ist auch jetzt noch nicht beendet: Für den kommenden Samstag mobilisieren u. a. die Hamburger LINKE, die IG-Metall-Jugend, der Flüchtlingsrat und die evangelische Gemeinde im Stadtteil Eimsbüttel zu für 13 Uhr zu einer Demonstration im Schanzenviertel.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. Januar 2014


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