Die falsche Antwort auf den 11. September wäre der Überwachungsstaat
12 Menschenrechts-, Wissenschafts- und Bürgervereinigungen kritisieren Schilys Sicherheitspakete
Am 24. Oktober 2001 hielten 12 Bürger- und Menschenrechtsvereinigungen eine Pressekonferenz ab, auf der sie sich gegen die geplanten Verschärfungen im Ausländer- und Asylrechtsgesetz sowie in anderen Gesetzen wandten. Wir dokumentieren die Erklärung und die unterzeichnenden Organisationen im Wortlaut:
Die falsche Antwort auf den 11. September:
Der ÜBERWACHUNGSSTAAT
Die Toten von New York City und Washington D.C. lagen noch
unter den Trümmern, da gaben Politiker und sogenannte
Sicherheitsexperten bereits die Devise aus, es müsse
innenpolitisch gewaltig aufgerüstet werden. Unverantwortlicherweise suchen sie nicht nach Ursachen, sondern bekämpfen Gewalt mit Gewalt und halten damit einen
verhängnisvollen Kreisel innen- wie außenpolitisch in Schwung.
Unter dem pauschalen Titel: „Bekämpfung des Terrorismus“
schlägt Bundesinnenminister Schily mit Hochgeschwindigkeit
Maßnahmen vor, die augenscheinlich entweder längst in der
Schublade schlummerten (Abschaffung des Religionsprivilegs,
Telefonüberwachung) oder solche, die eine Grauzone legalisieren
sollen, in der sich die Sicherheitsbehörden bereits praktisch
bewegen – wie bei der informationellen Zusammenarbeit mit den
Ausländerbehörden. Kaum einer der Vorschläge hat einen
konkreten Bezug zu den Anschlägen – außer jenem, dass sie
ohne die zur Zeit bei einem Teil der Bevölkerung vorherrschende
Angst kaum durchsetzungsfähig wären. Das Ausmaß der
Planungen wird nun durch die Vorlage der Sicherheitspakete I, II
und II+ öffentlich, wobei ein Ende des Schily’schen Aktionismus
nicht absehbar ist.
Wir, die unterzeichnenden Organisationen und Personen, halten
die Gesetzentwürfe und geplanten Maßnahmen für falsch. Die
Balance zwischen staatlich garantierten Freiheits-rechten der
BürgerInnen und den Eingriffsbefugnissen des Staates darf nicht –
wie gegenwärtig – zugunsten abstrakter Staatssicherheit
aufgehoben werden. Fast jede der vorgeschlagenen Maßnahmen
greift massiv in die Grundrechte ein. Keine aber schafft mehr
Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger. Im demokratischen
Rechtsstaat sind Eingriffe nach dem Motto „irgendetwas muss
geschehen“ oder: „wer nichts zu verbergen hat, der ...“ nicht
hinzunehmen. Im Gegenteil ist der Staat bis ins Detail beweis- und
darlegungspflichtig dafür,
-
dass jede einzelne Maßnahme
geeignet ist, dem vorgegebenen Zweck der Terroristenabwehr zu
dienen;
- dass nachweislich keine Mittel zur Verfügung stehen, die unsere
Grundrechte nicht oder weniger verletzen.
- dass staatliche Maßnahmen nicht unverhältnismäßig in die
Rechte des/der Einzelnen eingreifen.
Schon auf der ersten Stufe einer solchen Prüfung bleiben die
Regierungsvorschläge im grundrechtlichen Filter hängen. Sie
taugen praktisch nicht zur Terrorismusbekämpfung. Sie
demonstrieren, dass es den inneren Aufrüstern darauf ankommt,
Bürgerinnen und Bürger mit Hilfe einer bewusst erzeugten
Sicherheitspanik gleichzuschalten. Auf der einen Seite drängt
angeblich die Zeit, weil weitere Anschläge unmittelbar
bevorstehen. Auf der anderen Seite erfordern aber viele der
Vorschläge – wie Fingerabdrücke in Reisepässen, Regelanfragen
bei Nachrichtendiensten sowie Veränderungen des materiellen
Strafrechts (§ 129 b StGB) – erhebliche, teils jahrelange
Aufwendungen und könnten die ihnen zugedachte Wirkung ohnehin
erst mittelfristig entfalten.
Ein Großteil der Maßnahmen verletzt vor allem die ohnehin
übermäßig eingeschränkten Grund- und Menschenrechte der in
Deutschland nicht staatsbürgerlich lebenden Menschen. Seit
Wochen stehen 3,3 Millionen in Deutschland lebende Muslime und
viele andere AusländerInnen unter Generalverdacht.
Universitätspräsidien verletzen ihre Fürsorgepflichten und geben
pauschal Daten von Studierenden aus islamischen Ländern preis.
Schon vor den Anschlägen wurden beträchtliche Teile unserer
Bevölkerung durch Gesetze und bürokratische Maßnahmen
diskriminiert, mit Vorurteilen überzogen und tätlich, zum Teil mit
tödlichem Ausgang, angegriffen. Bis gestern waren allerdings meist
„nur“ die „auffälligen“ Ausländer im Visier der rassistischen Hetzer:
Nunmehr stehen alle Fremden unter Verdacht. Da kommen alle
„Bündnisse für Toleranz“ zu spät.
Wer nicht will, dass die Bundesrepublik Deutschland für Nicht-
Deutsche unbewohnbar wird, der/die muss politisch gegen die
Fremdenfeindlichkeit in Gesetzen und Verwaltungspraxis und in
der Gesellschaft kämpfen. Maßnahmen der inneren Sicherheit, die
sich ausschließlich gegen AusländerInnen richten und an
nationalen, ethnischen oder religiösen Merkmalen anknüpfen, sind
grundsätzlich abzulehnen. Die Gefahr durch Terrortrupps wird nicht
durch Repression gegen Flüchtlinge gebannt, die vor dem erlebten
Terror aus ihren Herkunftsländern fliehen mussten.
Die historischen Erfahrungen mit totalitären Systemen gerade in
Deutschland dürfen keiner neuen Weltmachtrollenrealität geopfert
werden. Im letzten Jahrhundert waren die größten deutschen
Verbrecher, auf deren Konto nicht nur zwei Weltkriege und die
Vernichtung der europäischen Juden gingen, politische und
militärische Führer sowie ihre willigen Vollstrecker in
übermächtigen Staatsapparaten. Daraus zog man nach 1945
unter anderem zwei Lehren, die drohen, vergessen zu werden: die
Trennung von Informations-/ Geheimdiensten und Polizei (sie sollte
eine neue Gestapo verhindern) und eine föderalisierte Polizei an
Stelle des Reichssicherheitshauptamtes.
Das Beispiel des Staatssicherheitsdienstes in der DDR zeigt, wie
ein die Gesellschaft insgesamt durchdringende Sicherheitskrake
das Gegenteil bewirkt. Sie löst alle Sicherheit und am Ende sogar
diejenige des Sicherheitssystems selbst auf. Die aktuelle Situation
belegt eindrücklich, wie töricht, kostenreich und fehlorientiert der
Wahn ist, mit geheimdienstlichen und gewalttätigen
Sicherheitsapparaten selbst die mächtigsten Gesellschaften nach
innen und nach außen schützen zu können. Nicht die CIA, nicht
das FBI, nicht die größte Militärmacht der Erde konnten die erste
moderne Demokratie, die USA, vor den Anschlägen warnen,
geschweige denn schützen. Es ist daher falsch, wenn deutsche
und europäische Sicherheitspolitiker ihnen auf diesem Irrweg der
milliardenschweren technologischen Aufrüstung folgen wollen.
In einer Welt politischer, sozialer und kultureller Widersprüche gibt
es keine einfachen Lösungen. Es gibt jedoch eindeutig falsche
Lösungen. Repression nach innen und außen erzeugt nur den
Schein von Sicherheit und beschert allenfalls Pyrrhussiege. Sie ist
nicht nur gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung
unverantwortlich. Nur die mühsame Suche nach weltweit
demokratischen und sozialen Lebensverhältnissen, welche
zugleich den Boden von Grund- und Menschenrechten bilden,
verspricht den legitimen Sicherheitsinteressen aller Menschen
gerecht zu werden.
„Der Sinn von Politik ist Freiheit.“
Hannah Arendt
Unterzeichnende der oben stehenden Presseerklärung:-
Humanistische Union (HU), Vors. Dr. Till Müller-Heidelberg
- Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein (RAV), Vors.
Wolfgang Kaleck
- Internationale Liga für Menschenrechte, Wahied Wahdat-Hagh,
Kilian Stein
- Strafverteidigervereinigungen, Organisationsbüro, Margarete v.
Galen
- Vereinigung Berliner Strafverteidiger, Rüdiger Portius
- Bürgerrechte & Polizei / CILIP, Dr. Norbert Pütter
- Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) Sönke Hilbrans
- Vereinigung Demokratischer Juristinnen u. Juristen (VDJ) Vors.
Prof. Dr. Martin Kutscha
- Komitee für Grundrechte und Demokratie, Spr. Prof. Dr. Wolf-
Dieter Narr
- Chaos Computer Club, Sprecher Andy Müller-Maguhn,
- JungdemokatInnen/ Junge Linke, Martin Hantke,
- Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, Ralf
Siemens
- Volker Eick, Mitglied im Interdisziplinären Arbeitskreis Innere
Sicherheit (AKIS), Arbeitskreis Politikfeldanalyse - Innere
Sicherheit in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft
- Jan Schallaböck, Ralf Bendrath, Netzwerk Neue Medien
- Petra Isabel Schlagenhauf, Rechtsanwältin, Berlin
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