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Wehret den Anfängen

Während Norwegens Ministerpräsident als Antwort auf die Terroranschläge "mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität" fordert, trumpfen hierzulande Sicherheitsfanatiker auf

Von Wolfgang Lieb *

Wie beim Pawlowschen Hund läuft bei deutschen »Sicherheitspolitikern« der Speichel zusammen, wenn irgendwo auf der Welt ein schrecklicher Terroranschlag geschehen ist. Reflexartig wird die Verschärfung oder Einführung von Überwachungsgesetzen gefordert. So nahm der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Hans-Peter Uhl, das norwegische Gewaltverbrechen zum Anlaß, die Wiedereinführung der vom Bundesverfassungsgericht im März vorigen Jahres kassierten Vorratsdatenspeicherung (wieder einmal) zu fordern.

Es ist der typische Reizreaktionsmechanismus autoritären Denkens, das Verbrechens»prävention« mit Überwachung oder vorbeugender Repression gleichsetzt. Alle Bürgerinnen und Bürger sollen sicherheitshalber schon mal unter Generalverdacht gestellt werden, bevor man auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, worauf sich ein Verdacht begründen könnte, der Menschen zu derart scheußlichen Verbrechen motiviert und schließlich auch veranlaßt. Man wird Wahnsinnsverbrechen gewiß nie verhindern können, aber die viel naheliegendere Möglichkeit als die Totalüberwachung, um solche Schreckenstaten zu verhüten, ist, Lehren daraus zu ziehen. Man braucht einen klaren Blick für die Gefahren, die drohen könnten, um sie zu verhüten. Doch dieser klare Blick fehlt leider nicht nur bei den Sicherheitsfanatikern.

Abwiegelnde Brandstifter

Ja, Herr Broder, es wäre nach dem Terroranschlag in Norwegen anständig und notwendig gewesen innezuhalten und nachzudenken. Nachdenken nicht etwa darüber, woher Sie die Ersatzteile für Ihren »Morris Traveller aus dem Jahre 1971« in England bekommen, was sie dem Tagesspiegel als Ihre einzige Sorge nannten, sondern ein Nachdenken über das Warum, über die Umstände, über die Motivation, die Menschen ohne jede Gewissenbisse und Schuldgefühle zu einer so unfaßbaren Tat treiben können. Nachdenken darüber, wie sich ein solches Weltbild aufbauen konnte, in dem sich der Haß auf den Islam, auf »Mulitkulti«, auf Einwanderer, auf die angebliche »Political Correctness«, auf alles Kritische – von den 68ern bis hin zur »Frankfurter Schule« – so tief eingefressen hat, daß Gewalt »als der letzte Ausweg« und der kaltblütige Massenmord hilf- und wehrloser junger Menschen als »grausam, aber gerecht« (so der Massenmörder Anders Breivik) empfunden werden kann.

Ja, Herr Broder, man muß aufklären und nach den »Ursachen« fragen. Allerdings nicht so dummdreist, wie Sie das unkommentiert in der Ihnen bereitwillig zu Ihrer Verteidigung als Plattform sich andienenden Welt tun. Ihr Beitrag in diesem weit rechts stehenden Blatt zeigt nur, auf welchem geradezu unterirdischen Niveau Sie argumentieren, wenn Sie eine »Ursachenforschung« für dieses Verbrechen mit folgenden Beispielen lächerlich zu machen versuchen: »Ja, hätte man Hitler damals an der Kunstakademie angenommen, wäre er nicht in die Politik gegangen, wäre der Zweite Weltkrieg ausgefallen, würde Wroclaw noch immer Breslau heißen. Und hätte der blonde und blauäugige Norweger nicht Broder und Sarrazin gelesen, sondern Patrick Bahners und Roger Willemsen, wäre er nicht zum Massenmörder geworden.«

Niemand will Ihnen die »Verantwortung für einen Massenmord« in die Schuhe schieben, aber kaum bestreitbar ist, daß der »blonde, blauäugige Norweger« beim Feuilletonchef der FAZ, Patrick Bahners, oder bei Roger Willemsen – wenn er sie denn überhaupt gelesen hätte – sicher keine Versatzstücke für sein krudes Weltbild gefunden hätte. Ganz im Gegensatz zu Ihren und Sarrazins angstfördernden Darstellungen der islamischen Gefahr und der bösartigen Abwertung von Menschen aus muslimischen Kulturen und Ethnien.

Das wirklich Schlimme ist, daß Sie sich mit Ihren Ansichten in den Medien auch tatsächlich noch verkaufen können. Und damit kommen wir zum eigentlichen Thema zurück: Die deutschen Sicherheitsbehörden sehen keine Verbindung der norwegischen Anschläge zu Deutschland, sagte der Sprecher des Bundesinnenministeriums.

Aber das, was der norwegische Massenmörder in seinem Bekennerschreiben zusammengekleistert hat, kann man tausendfach täglich auf Deutsch im »Weltnetz« (wie die Neonazis sagen) oder in einschlägigen Schriften nachlesen. Unmittelbar nach dem Anschlag kann man da Sprüche lesen wie etwa diesen: Vielleicht wird einmal in den Geschichtsbüchern stehen, daß es am 22.Juli des Jahres 2011 war, als ein junger Wikinger namens Anders Behring Breivik in alter Berserkertradition den Anstoß zur entscheidenden Wende im Kampf um Europas Zukunft gab. Er hat in seinem Land getan, was er für nötig hielt, um ein unübersehbares Zeichen des Widerstandes zu setzen.

Es gibt eine weitverbreitete Neonazimusikszene, mit »Schulhof-CDs«, es gibt geradezu eine Neonaziindustrie mit einem weitverzweigten Onlineversandhandel, es gibt »No-Go-Areas« für Menschen mit anderer Hautfarbe, und es gibt Neonazihochburgen nicht nur im Osten, sondern auch im Aachener Land im äußersten Westen.

Ohne Zweifel hätte der Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel auch von einem Islamisten mit einem anderen verquasten Weltbild begangen worden sein können. Und zig wehrlose Menschen einzeln zu erschießen ist im Hinblick auf die Toten auch nichts anderes, als Hunderte von Menschen mit einem Flugzeug umzubringen. Aber man vergleiche einmal, welches Feindbild durch die (Sicherheits-)Politiker, geschürt von den Medien und gestützt auf die untergründige »Islamkritik« von Leuten wie Broder oder Sarrazin, gegen den Islamismus aufgebaut wurde, mit der verharmlosenden Betroffenheitsrhetorik, wenn es zu einem Totschlag durch rechte Schläger kommt. (Ein Brandanschlag auf ein Wohnhaus von Sinti und Roma wie am Montag in Leverkusen, bei dem sich die Bewohner glücklicherweise retten konnten, bleibt eine lokale Episode.) Kann man die Zahl der jeweils Getöteten aufrechnen, kann man relativieren, daß die einzelnen Todesfälle zeitlich auseinanderliegen? Ist es nicht noch schlimmer, daß wir es bei uns mit vielen Einzeltätern oder rechten Gangs zu tun haben, die brandstiften und totprügeln? In der EU gab es im vergangenen Jahr 249 Terroranschläge, davon hatten drei einen islamistischen Hintergrund.

Es gibt nach aller Wahrscheinlichkeit in unserem Land erheblich mehr haßbesessene und gewaltbereite Rechtsextremisten als sich im heiligen Krieg wähnende Islamisten. Wo sind denn die Broders und die Sarrazins, die vor solchen Zeitbomben warnen?

In der Mitte angekommen

»In der Mitte angekommen« heißt es in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über rechtsextreme Einstellungen und Einflußfaktoren in Deutschland. Und immer wieder gilt als »Einstiegsdroge« die Ausländerfeindlichkeit. Auch zahlreiche andere sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, daß rechtsextremes »Gedankengut« tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Die Antiislambewegung reicht vom frustrierten Kleinbürger bis zum Neonazi. Jeder fünfte würde Sarrazin wählen. Kein Wunder, wenn man beobachten mußte, wie die Medien ihn bedienten und wie selbst die SPD nicht mehr den Mut fand, sich von ihm zu trennen, weil sie offenbar um Wähler bangte.

Da gibt es aus parteipolitischen Gründen eine Riesendebatte über einen angeblichen Antisemitismus in der Partei Die Linke. Aber die zunehmende Fremdenfeindlichkeit nicht nur in Deutschland, sondern – wie die Wahl­erfolge rechtspopulistischer Parteien zeigen – in ganz Europa, ja sogar in den USA wird klaglos hingenommen. Das gehört inzwischen sozusagen zur Tagesordnung.

»Wehre den Anfängen«, wird der römische Dichter Ovid gerne zitiert. Das ganze Zitat lautet allerdings: »Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.« Statt in den Anfängen sind wir längst im fortgeschrittenen Stadium, und das Suchen nach einer Medizin hat noch nicht einmal begonnen.

Ein wenig Hoffnung macht die Solidarität in der Trauer der Norweger. Und ein Beispiel gibt der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg: »Wir sind weiter erschüttert von dem, was uns getroffen hat. Aber wir geben nie unsere Werte auf. Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität. Aber nie Naivität.« Statt der platten Kondolenzadressen hätte man sich einen solchen Satz auch von den politischen Repräsentanten in Deutschland gewünscht.

* Wolfgang Lieb war von 1979 bis 1983 Mitarbeiter in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes, später Regierungssprecher und Leiter des Landespresse- und Informationsamtes Nordrhein-Westfalens unter Ministerpräsident Johannes Rau. Er ist Mitherausgeber der Website www.nachdenkseiten.de, wo sein Beitrag in einer längeren Fassung zuerst erschienen ist.

Aus: junge Welt, 27. Juli 2011



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