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Ein Anlass zum Datenspeichern

Das Attentat löst eine neue Debatte über innere Sicherheit in Deutschland aus

Von Aert van Riel *

CSU-Politiker haben erneut die Forderung erhoben, die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland wieder einzuführen. Die Bundesministerien für Inneres und Justiz lehnen jedoch das Wiederaufflammen der Debatte zum jetzigen Zeitpunkt ab.

Kaum waren die Beileidsbekundungen aus Deutschland in Richtung Norwegen verhallt, meinten einige CSU-Politiker offenbar, nun sei der richtige Zeitpunkt gekommen, erneut die Debatte über innere Sicherheit zu befeuern. Hans-Peter Uhl, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, forderte in der »Passauer Neuen Presse« die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung. »Im Vorfeld muss die Überwachung von Internetverkehr und Telefongesprächen möglich sein. Nur wenn die Ermittler die Kommunikation bei der Planung von Anschlägen verfolgen können, können sie solche Taten vereiteln und Menschen schützen«, sagte Uhl.

Unterstützung erhielt der CSU-Politiker von der Deutschen Polizeigewerkschaft. Deren Vorsitzender Rainer Wendt lehnte den Vorschlag der Konkurrenzorganisation Gewerkschaft der Polizei, eine Datei für auffällige Personen im Internet einzurichten, ab, nannte aber die Vorratsdatenspeicherung »ein wirksames Strafverfolgungsinstrument«. Auch Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) meinte, die Vorratsdatenspeicherung sei nach den Anschlägen in Norwegen unverzichtbar.

Im März 2010 wurde die Vorratsdatenspeicherung, wonach Daten von Telefon- und Internetverbindungen zur Kriminalitätsbekämpfung sechs Monate lang gespeichert werden konnten, vom Bundesverfassungsgericht gekippt, weil die Regelungen gegen das Telekommunikationsgeheimnis verstießen. Seitdem streitet die Koalition über eine Neuregelung. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) will, dass Daten von Telefon- oder Internetkontakten nur bei einem konkreten Verdacht gespeichert werden können. Uhl forderte die Liberalen dazu auf, ihren Widerstand aufzugeben. Die Union ist für die anlasslose Speicherung.

Doch sowohl das vom Befürworter der Vorratsdatenspeicherung Hans-Peter Friedrich (CSU) geführte Innen- als auch das Justizministerium lehnten den Vorstoß zum jetzigen Zeitpunkt ab. »Die Vorgänge in Norwegen geben in diesem Zusammenhang keine zusätzlichen Argumente«, sagte ein Sprecher des Innenministeriums. Das Sicherheitsniveau sei schon sehr hoch.

Neben den rechtlichen Aspekten wird von Kritikern bemängelt, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht zur Verbrechensprävention, sondern nur für nachfolgende Ermittlungen geeignet ist. »In Norwegen werden nach unserem Kenntnisstand IP-Adressen in der Praxis bereits über mehrere Wochen hinweg gespeichert. Außerdem stehen den Behörden weitere Überwachungsmaßnahmen zur Verfügung. Und dennoch hatten sie den Täter nicht auf dem Radar«, sagte etwa Dennis Grabowski, Vorsitzender des Vereins »no abuse in internet« (naiin).

Die Sicherheitsdebatte bezieht sich aber nicht nur auf die Vorratsdatenspeicherung. Bisher wurde aus Regierungskreisen hauptsächlich vor einer Bedrohung durch Islamisten gewarnt – doch nun wird auch über mögliche Anschläge von Rechtsextremisten diskutiert. Der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), schloss einen Anschlag wie in Norwegen auch in Deutschland nicht aus. Das rechtsextreme Milieu sei nach dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren im Jahr 2003 eher problematischer geworden, sagte er der »Mitteldeutschen Zeitung«. SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz erklärte, in Deutschland gebe es viele Menschen, die ein ähnliches vordergründiges Profil hätten wie der Norweger Anders Behring Breivik. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles forderte erneut ein Verbot der rechtsextremen NPD: »Wir können uns aber keinen weiteren Anlauf leisten, der scheitert.«

Innenminister Friedrich war dagegen in der »Bild am Sonntag« trotz des in diesem Fall eindeutig rechtsextremen Täters wieder einmal bemüht, vor jeglichen »Extremismen« zu warnen: »Die abscheulichen Taten in Norwegen belegen leider erneut, welche Gefahren von fanatisierten Einzeltätern ausgehen können, und zwar unabhängig von ihrer Motivlage.« Ihm lägen derzeit keine Hinweise auf rechtsterroristische Aktivitäten in der Bundesrepublik vor.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011


Deutsche Trittbrettfahrer

Von Arnold Schölzel **

Drei Tage nach dem Doppelanschlag in Norwegen, bei dem mindestens 93 Menschen getötet wurden, nutzten deutsche »Sicherheitsexperten« das Verbrechen, um schärfere Überwachungsgesetze zu fordern. Vor einer Haftrichterin in Oslo bekannte sich Attentäter Anders Behring Breivik am Montag (25. Juli) nicht schuldig. Die islamophobe Szene Westeuropas und neofaschistische Organisationen distanzierten sich von dem Verbrechen Breiviks, nicht von seiner Ideologie. Am Mittag gedachten Norwegen und die Nachbarländer Dänemark und Schweden mit einer Schweigeminute der Opfer des Anschlags.

Breivik bleibt laut einer Entscheidung der zuständigen Richterin für acht Wochen in Untersuchungshaft, vier Wochen davon in Isolation. Die Richterin erklärte nach dem nicht-öffentlichen Haftprüfungstermin, der 32jährige habe angegeben, Europa retten und sein Land gegen den Islam und den Marxismus verteidigen zu wollen.

In der Bundesrepublik nutzten CSU-Politiker die Gelegenheit, um schärfere Überwachung zu fordern. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Bernhard Witthaut, plädierte sogar für eine Erfassung aller »auffälligen Personen« im Internet. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Hans-Peter Uhl (CSU), sprach sich für die Vorratsdatenspeicherung aus und bezeichnete es als »irrwitzig«, den Sicherheitsbehörden »die Instrumente zu versagen, die sie zur Täterermittlung benötigen«. Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) schloß sich ihm an: Es müsse »über mehrere Monate hinweg« nachvollziehbar sein, »wer mit wem telefoniert, wer wem eine E-Mail oder SMS geschickt hat«. Der Innenminister des Bundeslandes, Joachim Hermann (CSU), unterstützte Witthaut im Deutschlandfunk: »Es gehört offensichtlich dazu, daß wir auch im Internet präventiv unterwegs sind, daß wir beobachten, wo gibt es radikale Einträge.«

Die Bundesregierung riet von einer neuen Debatte über die Datenspeicherung ab. »Die Vorgänge in Norwegen geben in diesem Zusammenhang keine zusätzlichen Argumente«, erklärte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Die Linke-Vorsitzende Gesine Lötzsch nannte Uhls Äußerung »bedrückend«. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sprach sich für einen Neuanlauf im NPD-Verbotsverfahren aus, allerdings müßten die Länder ihre »V-Männer« aus der Neonazipartei »abziehen«.

Zahlreiche Vertreter westeuropäischer Rechtsparteien meldeten sich am Montag zu Wort. Sie erklärten – wie Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen PVV, es handele sich bei dem Norweger um einen »gewalttätigen und kranken Psychopathen«. Wissenschaftler und antirassistische Initiativen wiesen dagegen darauf hin, daß es sich bei Breivik nicht um ein Einzelphänomen handele. So erklärte der Wiener Historiker Gerhard Botz im österreichischen Standard: »Was Breivik getan hat, liegt im geistigen Umfeld vor.« Ihr Verhältnis zu dem Attentat illustrierte die deutsche NPD, deren Verbot das Bundesverfassungsgerich 2003 mit der Begründung »fehlende Staatsferne« verweigerte, am Montag so: »In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß die politische Klasse der BRD erst vor wenigen Tagen den Bombenanschlag vom 20. Juli erneut als legitimes Mittel der Politik gefeiert hat. Auch bei diesem Anschlag kamen Unschuldige zu Tode.«

** Aus: junge Welt, 26. Juli 2011


Auffällig

Von Markus Drescher ***

Terroranschläge in westlichen Ländern haben auf manche Politiker und sogenannte Sicherheitsexperten eine ähnliche Wirkung wie Licht für Motten. Die einen fliegen scheinbar sinnlos immer wieder gegen Glühbirnen. Bei den anderen ist es offensichtlich eine magische Anziehungskraft für sinnfreie Äußerungen. So forderte der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut, eine Datei für »auffällige Personen« mit »kruden Gedanken« einzurichten.

Obwohl, einige Kandidaten gäbe es da: An erster Stelle Witthaut selbst. Sind es doch solche Forderungen nach noch mehr Überwachung ohne rechtsstaatliche Grundlage, die der Demokratie mehr schaden, als es jeder Anschlag jemals könnte. Ein weiterer Anwärter: der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl, der die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung fordert. Dass das Bundesverfassungsgericht die alte Regelung für verfassungswidrig erklärt hat – egal! Und dann sind da noch diejenigen, die nun zur allgemeinen Extremistenjagd blasen wie Kurt Beck (SPD), dabei links und rechts in einen Topf werfen und völlig ignorieren, dass Rassismus und anderes menschenfeindliches Gedankengut die vermeintlich gute »Mitte der Gesellschaft« durchziehen.

All die Genannten sollten gründlich über die Worte des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg nachdenken: »Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Humanität. Aber nie Naivität.«

*** Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2011 (Kommentar)


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