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Teilweise wanzenfreie Zone

Plädoyer für eine Generalrevision der Sicherheits- und "Anti-Terror"-Gesetze

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004, wonach der "Große Lauschangriff" in Teilen grundgesetzwidrig ist. Der Beitrag erschien in der kritischen Wochenzeitung "Freitag".


Von Rolf Gössner*

Die Verwanzung von Privatwohnungen passt nicht so recht in einen liberal-demokratischen Rechtsstaat, der die Menschenwürde achtet und die Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger respektiert. Zu dieser Quintessenz muss kommen, wer das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 zum Großen Lauschangriff liest. Doch die Konsequenz daraus hat die Mehrheit der Richter gescheut. Sie erklärt Wohnungen nicht gänzlich zu wanzenfreien Zonen, sondern legt den Wanzen ein paar respektable Brocken in den Weg. Diese Hürden dürften die ohnehin schon aufwändigen und kostenträchtigen Lauschangriffe noch aufwändiger und teurer machen. Damit besteht vielleicht die Chance, dass dieser Grundrechtseingriff von höchster Intensität zu einer "Ultima-ratio"-Maßnahme wird, die Wanze zum wirklich allerletzten Mittel der Strafverfolgung.

Wir erinnern uns: Im Superwahljahr 1998 beschloss die ganz große Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP den Großen Lauschangriff. Er wurde in Wahlkampfzeiten zur unverzichtbaren Wunderwaffe im Kampf gegen die "Organisierte Kriminalität" hochstilisiert, ohne die der Rechtsstaat in Gefahr gerate. Tatsächlich ist der Rechtsstaat in Gefahr geraten - durch die Demontage des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Seit dieser Legalisierung sind knapp 120 Große Lauschangriffe auf Wohnungen durchgeführt worden - wie sich herausgestellt hat, nicht nur auf verfassungswidrige Weise, sondern auch mit wenig Erfolg. Dabei sind intimste Lebensvorgänge und -äußerungen unzähliger Unbeteiligter und Unschuldiger ausgeforscht worden.

Es ist besorgniserregend, dass Grundwerte der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts, dass die Privatwohnung als "letztes Refugium" zur Wahrung der Menschenwürde weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Seit Jahren huldigt die Politik einem ausufernden Sicherheitsdenken, das sich die wachsende Gleichgültigkeit in der Bevölkerung gegenüber den Gefährdungen der Freiheit zunutze macht. Wir erleben eine stete innenpolitische Aufrüstung und damit einhergehend einen permanenten Abbau der Bürgerrechte - nicht erst seit dem 11.9.2001, aber seitdem extrem verstärkt. Wir waren konfrontiert mit einer eskalierenden Sicherheitspolitik, die schließlich in "Anti-Terror-Gesetzen" mündete - Sicherheitsgesetze, die zwar kaum mehr Sicherheit bieten, stattdessen zunehmende Rechtsunsicherheit produzieren.

Das Verfassungsbewusstsein scheint in der politischen Klasse stark geschwunden zu sein. Auch die rot-grüne Bundesregierung, die sich zuweilen als Hüterin der Bürgerrechte geriert, verteidigte den Großen Lauschangriff vor Gericht bedenkenlos als "wirksames Instrument" im Kampf gegen die Kriminalität. In über fünf Jahren hielten es die sie tragenden Bundestagsfraktionen nicht für nötig, dieses Instrument verfassungsverträglich auszugestalten - nun werden sie dazu gezwungen. Darüber zu wundern braucht man sich nicht, denn Otto Schily (SPD), der heutige Bundesinnenminister, gehört zu den Vätern dieser verfassungswidrigen Regelungen. Strenggenommen ist das ein Fall für den "Verfassungsschutz".

Innenminister und Gesetzgeber erwiesen sich in den vergangenen Jahren häufig als nicht verfassungsfest. Erst im vorigen Monat wurden jene Ländergesetze für verfassungswidrig erklärt, mit denen eine nachträgliche Sicherungsverwahrung legalisiert werden sollte. In den vergangenen Jahren sind etliche Rasterfahndungsmaßnahmen für grundrechtswidrig erklärt worden. Davor traf es die verdachtsunabhängige Schleierfahndung, bei der prinzipiell alle Verkehrsteilnehmer im öffentlichen Raum ohne Anlass angehalten, kontrolliert, gegebenenfalls durchsucht werden dürfen. Die Ausgestaltung dieser Polizeirechtsnorm in Mecklenburg-Vorpommern fand vor den dortigen Verfassungsrichtern keine Gnade. Und in Sachsen erging es präventiven Abhörregelungen nicht anders. Erinnert sei darüber hinaus an die Befugnis des Bundesnachrichtendienstes (BND), ohne jeglichen Verdacht den gesamten Fernmeldeverkehr vom und ins Ausland systematisch nach verdächtig klingenden "Suchbegriffen" zu durchforsten. Auch diese "strategische Kontrolle" hat das Bundesverfassungsgericht als teilweise verfassungswidrig eingestuft.

In Zeiten, in denen selbst die Folter wieder diskutabel wird, könnte das vorliegende Urteil einer fatalen Tendenz zu Maßlosigkeit und normativer Entgrenzung im Bereich der "Inneren Sicherheit" entgegenwirken. Aber nur, wenn es tatsächlich weit über den Großen Lauschangriff hinaus Beachtung findet: Denn auch andere Sicherheitsgesetze des Bundes und der Länder sowie die ausufernde Praxis der Telekommunikationsüberwachung müssen künftig an diesen Maßstäben gemessen werden.

Tatsächlich gibt es mutmaßlich verfassungswidrige Regelungen zuhauf. Erinnert sei an Polizei- und Geheimdienstgesetze, an die vorsorgliche Telekommunikationsüberwachung von Thüringen und Niedersachsen, die mittlerweile das präventive Abhören von Telefonen und Handys, das Mitlesen von Faxen, SMS und Emails - ohne Vorliegen einer Straftat oder eines konkreten Verdachts - erlauben, sowie an die ausufernde Praxis der Telefonüberwachung zur Strafverfolgung. Seit 1995 hat sich die Anzahl der richterlichen Anordnungen pro Jahr von 3.800 auf über 25.000 (2002) fast versiebenfacht. Die Bundesrepublik gehört damit weltweit zu den Spitzenreitern im Abhören.

Nicht zu vergessen auch: die sogenannten Anti-Terror-Gesetze, die nach den Anschlägen in den USA gleich paketweise verabschiedet worden sind und mit denen Polizei und Geheimdienste abermals tiefgreifende Befugnisse erhalten haben. Selbst die Gewerkschaft der Polizei fürchtete angesichts dieser Sicherheitsgesetze um den "freiheitlichen Staat". Der Liberale Burkhard Hirsch bescheinigte Schilys "Otto-Katalogen" insgesamt Respektlosigkeit "vor Würde und Privatheit seiner Bürger" sowie einen "totalitären Geist". Selbst Gesetzesprojekte tragen schon in status nascendi die Verfassungswidrigkeit auf der Stirn. Beispiel: das in einigen Bundesländern geplante, höchst umstrittene Kopftuchverbot, ohne Gleichbehandlung christlicher Symbole.

Auch außen- und militärpolitisch schwindet das Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein dramatisch: Siehe die verfassungswidrige Beteiligung der Bundesrepublik am Krieg gegen Jugoslawien, siehe Überflugrechte und Logistikhilfe beim Angriffskrieg auf den Irak.

Wie viel Völkerrechts- und Verfassungsbruch verträgt dieses Land, ohne in ein illiberales, ein autoritäres Überwachungssystem zu verfallen, dem die Bürgerrechte nur noch inhaltslose Hüllen sind? Es bleibt zu hoffen, dass das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine gewisse Trendwende einläutet und die Sicherheitsextremisten jeglicher Couleur in die Schranken weist. Das haben wohl auch die beiden Richterinnen Renate Jaeger und Christine Hohmann-Dennhardt im Sinn gehabt, als sie in ihrem Minderheitenvotum den Großen Lauschangriff in Gänze für verfassungswidrig erklärten. Es gehe heute längst nicht mehr darum, "den Anfängen eines Abbaus von verfassten Grundrechtspositionen" zu wehren, sondern "einem bitteren Ende".

* Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater; Sachverständiger in der parlamentarischen Anhörung des Bundestages zum Großen Lauschangriff (1997). Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte". Mitherausgeber der Zweiwochenschrift Ossietzky. Internet: www.rolf-goessner.de.

Aus: Freitag 12, 12.03.2004



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