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Streßfrei demonstrieren

Das Versammlungsgesetz hat seine Wurzeln im Kalten Krieg und in der wilhelminischen Monarchie. Progressive Gerichtsurteile der letzten Jahre sollten endlich in den Text eingearbeitet werden

Von Martin Kutscha *

Den Veranstaltern eines Diskussionsabends zum Thema »Was tun gegen rechts?« im Münchner Eine-Welt-Haus am 19. Juli 2006 kamen zwei besonders neugierige Besucher seltsam vor. Zur Rede gestellt, mußten sie schließlich zugeben, daß sie Polizeibeamte in Zivil sind und die Veranstaltung überwachen wollten. Daraufhin wurden sie des Saales verwiesen. Kurze Zeit später kehrten sie allerdings zurück; diesmal aber nicht allein, sondern in Begleitung von 20 uniformierten und mit Schlagstöcken bewaffneten Kollegen. Angesichts dieses geballten Auftritts der Staatsgewalt entschieden sich die Teilnehmer zum vorzeitigen Abbruch der Diskussion. Aber damit wollten die Organisatoren sich nicht zufriedengeben, sondern klagten beim Verwaltungsgericht München. Dieses stellte Mitte Juni 2007 fest, daß die Polizeibeamten sich tatsächlich von Anfang an hätten zu erkennen geben müssen. Allerdings belehrte das Gericht die klagenden Veranstalter, daß Polizisten tatsächlich das Recht haben, an einer öffentlichen Zusammenkunft teilzunehmen. So bestimmt es Paragraph 12 des Versammlungsgesetzes. Ohne weitere Voraussetzungen zu nennen, hält dieses Gesetz offenbar jede öffentliche Versammlung, ob unter freiem Himmel oder selbst in geschlossenen Räumen, grundsätzlich für gefährlich. Warum sollte sie sonst von der Polizei überwacht werden dürfen? Es muß erstaunen, wie wenig diese Gesetzesbestimmung bisher das Interesse auch liberaler Juristen gefunden hat. Immerhin können die anwesenden Polizeivertreter die Gelegenheit nutzen, Daten über die Anwesenden und deren Verhalten zu sammeln, z. B. zu notieren, wer durch »radikale« Reden auffällt usw. Daß damit die Meinungsfreiheit gefährdet wird, liegt auf der Hand.

In monarchistischer Tradition

Das Versammlungsgesetz der Bundesrepublik ist auch in anderen Punkten immer noch geprägt von einer staatsautoritären und vordemokratischen Haltung gegenüber Zusammenkünften des nach der Verfassung souveränen Volkes. Es stammt aus dem Jahre 1953 und damit aus der Zeit des beginnenden Kalten Krieges. Darüber hinaus gehen seine wesentlichen Bestimmungen auf das Reichsvereinsgesetz von 1908 zurück, als Deutschland noch eine Monarchie war. Im Obrigkeitsstaat galten freie Bürgerversammlungen als Hort der Unbotmäßigkeit und des Aufruhrs, weshalb man sie füglichst zu unterbinden suchte.

So wurde schon 1832 das von demokratischen Kräften organisierte Hambacher Fest von der damals über den Rheinkreis herrschenden bayerischen Regierung mit der Begründung verboten, es handele sich um einen »Konvent deutscher Demagogen« und die in der Einladung enthaltene Forderung nach »Abschüttelung innerer und äußerer Gewalt« besäße aufrührerischen Charakter. Die daraufhin sich erhebende Welle des Protests war jedoch so stark, daß das Verbot wieder aufgehoben wurde. Das Hambacher Fest konnte schließlich stattfinden und wird heute auch in vielen regierungsamtlichen Veröffentlichungen als Meilenstein für die Durchsetzung der Demokratie gefeiert – wobei zumeist verschwiegen wird, daß nicht wenige der damaligen Streiter für die Rechte des Volkes sich im nachhinein schärfsten Repressionsmaßnahmen bis hin zu Todesstrafen ausgesetzt sahen. Das Streben nach Demokratie konnte damit allerdings nicht erstickt werden. Als dann die frei gewählte Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche im Jahre 1848 die »Grundrechte des deutschen Volkes« proklamierte, befand sich darunter auch die Versammlungsfreiheit: »Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; einer besonderen Erlaubnis bedarf es nicht. Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden.«

Da der Nationalversammlung die Durchsetzungsmacht gegenüber der feudalen Herrschaft fehlte, standen diese Freiheitsverheißungen freilich nur auf dem Papier. Immerhin boten sie ein Jahrhundert später die Vorlage für den Artikel 8 des Grundgesetzes der Bundesrepublik. Diese Verbürgung der Versammlungsfreiheit für »alle Deutschen« sollte nach dem Wortlaut der Verfassung zwar »unmittelbar geltendes Recht« sein, das im Rang über dem sogenannten einfachen Gesetzesrecht steht. In der Praxis der staatlichen Behörden wurde diesem Grundrecht aber jahrzehntelang kaum die notwendige Beachtung geschenkt. Im Gegenteil: Wer auf der Straße protestierte, mußte mit dem Einsatz massiver Staatsgewalt rechnen. Bei einer Demonstration linker Jugendlicher in Essen am 11.Mai 1952 wurde der Polizei zum ersten Mal der Befehl zum Einsatz von Schußwaffen gegeben. Das 21jährige FDJ-Mitglied Philipp Müller wurde von einer Kugel tödlich getroffen, mehrere andere Teilnehmer schwer verletzt. Benno Ohnesorg, der 1967 bei der Westberliner Demonstration gegen den persischen Schah erschossen wurde, war also keineswegs das erste oder das einzige Opfer polizeilichen Schußwaffeneinsatzes gegen Demonstranten in der Bundesrepublik bzw. Westberlin.

Erleichtert wurde das repressive Vorgehen gegen Proteste durch das restriktive Versammlungsgesetz von 1953. Zwar bedarf es danach keiner staatlichen Genehmigung für Versammlungen und »Aufzüge«, sondern lediglich einer Anmeldung. (Dies wissen übrigens selbst viele Journalisten nicht, deshalb kann man auch heute immer noch von angeblich »genehmigten« oder »nicht genehmigten« Demonstrationen lesen und hören.) Aber eine der wichtigsten Bestimmungen des Versammlungsgesetzes, Paragraph 15, erlaubt das Verbot oder die Auflösung einer Zusammenkunft bei einer »unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung«. Auf dieser Grundlage wurden jahrelang Demonstrationen mit der Begründung verboten, die »Leichtigkeit des Straßenverkehrs« werde dadurch beeinträchtigt. Untersagt wurden von den zuständigen Behörden auch Sprechchöre wie »Wer Bunker baut, denkt an Krieg!« oder »Es gibt keinen Luftschutz im Atomzeitalter!«, ja sogar das Singen. Die Atomwaffengegner und Pazifisten sahen sich bei ihren in den sechziger Jahren stattfindenden Ostermärschen einer Vielzahl solcher Repressionen ausgesetzt.

Selbstbestimmungsrecht bekräftigt

In den siebziger und achtziger Jahren erlebte der Protest auf den Straßen der Bundesrepublik einen gewaltigen Aufschwung – dies belegen selbst die polizeilichen Demonstrationsstatistiken. Vor diesem Hintergrund schlug auch die Stunde für die Anerkennung des hohen Rangs der Versammlungsfreiheit, aber nicht in Gestalt einer Liberalisierung des Versammlungsgesetzes. Es war vielmehr das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das mit seinem »Brokdorf-Beschluß« vom 14. Mai 1985 den Stellenwert dieses Freiheitsrechts für eine demokratische Gesellschaft deutlich machte.

Worum ging es bei dieser Entscheidung? Rings um den kleinen Ort Brokdorf an der Unter­elbe, wo ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte, hatte der zuständige Landrat im Februar 1981 ein umfassendes Demonstrationsverbot über ein Gebiet von zirka 210 Quadratkilometer verhängt. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg bestätigte dieses Verbot und berief sich dabei auf die Gefahr von Ausschreitungen bei der beabsichtigten Großdemonstration gegen den AKW-Bau. Es verwies des weiteren auf die »Ungeeignetheit des Demonstrationsraumes« und regte an, solche Protestmanifestationen doch in »Großstadien und andere für Massenveranstaltungen geeignete Räume« zu verweisen. Dem trat das Bundesverfassungsgericht entgegen – leider erst vier Jahre später, als die verbotene Brokdorf-Demonstration mit weit über 50000 Teilnehmern längst stattgefunden hatte. Das höchste deutsche Gericht stellte fest, daß das Grundrecht der Versammlungsfreiheit auch das »Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung« beinhalte. Den besonderen Rang dieses Freiheitsrechts als »unentbehrliches Funktionselement eines demokratischen Gemeinwesens« leiteten die Richter aus einer durchaus realistischen Betrachtung des öffentlichen Willensbildungsprozesses – auch unter den heutigen sozioökonomischen Bedingungen – ab: »An diesem Prozeß sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflußnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen.«

Wichtiger noch als diese zutreffende gesellschaftspolitische Erkenntnis sind die Schlußfolgerungen, die das Bundesverfassungsgericht daraus für den Umgang der Staatsgewalt mit Demonstrationen gezogen hat: Die Behörden seien gehalten, »nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren«. Auflösungen und Verbote dürfen danach nicht aus beliebigen Anlässen (z.B. wegen der Beeinträchtigung des Straßenverkehrs oder des ungestörten Shoppings in den Konsummeilen der Innenstädte) verhängt werden, sondern »nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit«.

Tatsächlich bot der »Brokdorf-Beschluß« von 1985 die höchstrichterliche Orientierungsmarke für zahlreiche seitdem ergangene Verwaltungsgerichtsentscheidungen, die dem hohen Rang des Grundrechts der Versammlungsfreiheit Rechnung trugen und die nicht selten zu repressive Praxis der Behörden korrigierten. Von diesem liberalen Grundrechtsverständnis haben in den letzten Jahren allerdings vor allem Gruppierungen von Neonazis profitiert: Kaum ein Versammlungsverbot, das auf die nazistischen, rassistischen und antidemokratischen Anschauungen dieser Gruppen gestützt war, hatte vor den Gerichten Bestand, solange keine konkreten Belege für geplante Gewalt- oder andere Straftaten der Teilnehmenden vorgelegt werden konnten.

Von dieser Liberalität war in den Versammlungsverboten anläßlich der Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm indessen wenig zu spüren. Das Oberverwaltungsgericht Greifswald meinte gar, diese Verbote unter Berufung auf die Pflege der »Beziehungen zu auswärtigen Staaten« rechtfertigen zu können. Die Vertreter anderer Länder könnten schließlich eine Duldung von Protestaktionen in ihrer Nähe »als unfreundlichen Akt empfinden«. Deshalb, so das Gericht weiter, dürfe die Polizei verhindern, »daß Demonstranten in emotionalisierende Nähe eines Besuchers gelangen«. – Die Befindlichkeit ausländischer Politiker, in deren Heimatstaat Freiheitsrechte der Opposi­tion manchmal überhaupt nichts gelten, wird damit schlicht dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit übergeordnet. Das für die Demokratie elementare Freiheitsrecht wird auf dem Altar des außenpolitischen Interesses von Merkel und Co. am Wohlgefühl ihrer erlauchten Gäste geopfert.

Reformen sind gefordert

Angesichts solcher Mißachtungen der Versammlungsfreiheit ist es längst an der Zeit, die Vorgaben des Brokdorf-Beschlusses aus Karlsruhe in Gesetzesform zu gießen, um grundrechtskonforme Verhältnisse zu schaffen. Durch die im Sommer 2006 verabschiedete Föderalismusreform ist die Zuständigkeit für das Versammlungsrecht vom Bund auf die Länder übergegangen. Die einzelnen Landtage sind jetzt imstande, durch eine entsprechende Gesetzesgestaltung der Versammlungsfreiheit gebührend Rechnung zu tragen. Präzisiert werden müssen vor allem die Voraussetzungen, unter denen Zusammenkünfte und Demonstrationen verboten, aufgelöst oder durch Auflagen beschränkt werden können. Wie es das Bundesverfassungsgericht verlangt, darf die Ausübung des Grundrechts nur zum Schutz anderer elementarer Rechtsgüter eingeschränkt werden. Aus dem Gesetz muß auch deutlich werden, daß ein Versammlungsverbot oder eine Auflösung nur in Betracht kommt, wenn minder schwere Maßnahmen nicht ausreichen (Ultima-ratio-Prinzip).

Darüber hinaus müssen klare Regelungen geschaffen werden, die eine möglichst ungehinderte Anreise zur Demonstration sicherstellen. Auch für diese Problematik gibt es eindringliche Beispiele wie den berüchtigten »Hamburger Kessel«: Am 8. Juni 1986 wurden auf dem Hamburger Heiligengeistfeld annähernd 300 Menschen, die sich zum Protest gegen Polizeieinsätze anläßlich einer Brokdorf-Demonstration zusammengefunden hatten, von der Polizei umzingelt. Weder vor noch nach der Einkesselung verhielten sich die Betroffenen in irgendeiner Weise gewalttätig. Gleichwohl wurden sie schubweise auf verschiedene Polizeireviere verbracht und erst viele Stunden später, teilweise erst am nächsten Morgen, freigelassen.

Das Verwaltungsgericht Hamburg erklärte die Polizeiaktion für von Anfang an rechtswidrig. Die Polizeiführung hatte argumentiert, die Eingekesselten hätten sich noch in der »Ansammlungsphase« befunden und seien deshalb noch nicht durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit geschützt worden. Dem trat das Verwaltungsgericht mit Entschiedenheit entgegen: »Das Freiheitsrecht, sich zu versammeln, umfaßt auch die Tätigkeit des Sich-Versammelns.« Das Grundrecht würde weitgehend leerlaufen, wenn es im »Vorfeld« eigentlicher Zusammenkünfte keine Wirkungen entfalten würde. In der Tat erfordert ein konsequenter Grundrechtsschutz auch eine möglichst ungehinderte Anreise, wenn die Wahrnehmung dieses Freiheitsrechts nicht vereitelt werden soll.

Leider blieb der »Hamburger Kessel« kein Einzelfall. Auch angesichts vielfältiger Behinderungen durch langwierige Polizeikontrollen, »präventive Ingewahrsamsnahmen« und ähnlichem muß das Versammlungsrecht durch Regelungen ergänzt werden, die staatliche Eingriffe bei der Anreise von Demonstrationswilligen auf ein unverzichtbares Minimum begrenzen.

Dies betrifft auch Maßnahmen wie Einreiseverweigerungen und Ausreiseverbote für Menschen, die an Protesten in anderen EU-Staaten teilnehmen wollen. Das Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU darf sich nicht auf den Waren- und Kapitalverkehr sowie auf Dienstleistungen beschränken, sondern ist auch für politisch aktive Bürger ungeschmälert zu gewährleisten. Immerhin garantieren sowohl die Europäische Menschenrechtskonvention als auch die Europäische Grundrechtecharta das Recht, sich »frei und friedlich mit anderen zu versammeln« zu können.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg, sonst eher zurückhaltend beim Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten der EU, hat den Stellenwert der Versammlungsfreiheit in einem hierzulande kaum bekannten Urteil vom 12.Juni 2003 herausgestellt. Dem Verfahren lag eine Schadensersatzklage des Transportunternehmens Schmidberger gegen die Republik Österreich zugrunde. Lkw der Firma Schmidberger hatten wegen einer 30stündigen Blockade der Brenner-Autobahn durch protestierende Umweltschützer diesen Alpenübergang nicht benutzen können. Dies, so die Anwälte der Firma, stelle eine Verletzung des europarechtlichen Prinzips des freien Warenverkehrs dar. Der Europäische Gerichtshof sah dies anders: Die Behörden in Österreich hätten durchaus die Befugnis gehabt, den Grundrechten der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit im konkreten Fall den Vorrang gegenüber der Freiheit des Warenverkehrs einzuräumen. Aus Deutschland ist hingegen noch kein Urteil bekannt, daß die längerfristige Blockade einer Autobahn durch Demonstranten als vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit gedeckt wertet.

Vermummungsverbot prüfen

Wie immer gilt es, sich vor Illusionen zu hüten: Nicht jede Reform des Versammlungsrechts bewirkt eine Stärkung des Grundrechtsschutzes. Als Beispiel für den gegenteiligen Effekt sei hier die Einführung des Vermummungsverbots durch Paragraph 17 a des Versammlungsgesetzes im Jahre 1985 genannt. Nach dieser Bestimmung ist es verboten, an Versammlungen oder sonstigen Veranstaltungen »in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, teilzunehmen oder den Weg zu derartigen Veranstaltungen in einer solchen Aufmachung zurückzulegen«. Welche »Aufmachungen« sind hiervon erfaßt? Reicht hierfür schon der Schal, den sich jemand zum Schutz vor winterlicher Kälte um Mund und Nase gewickelt hat? Der Autor erinnert sich an eine Demonstration gegen die ­NATO-»Nachrüstung«, die in den frühen achtziger Jahren an einem 6. Dezember in Hamburg stattfand. An diesem Tag feiern die Kinder bekanntlich den heiligen Nikolaus, und etliche Demonstranten waren dementsprechend mit rotem Mantel, Zipfelmütze und langem weißen Bart verkleidet. Ob die Polizei dabei Nikolause wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot festgenommen hat, ist nicht bekannt. Auch die weißen Masken der Aktionsgruppe »Die Überflüssigen« sind vom Gericht nicht als Vermummung, sondern als künstlerische Maskierung gewertet worden.

Jenseits aller Abgrenzungsschwierigkeiten offenbart diese Verbotsnorm ein seltsames Freiheitsverständnis: Warum soll der Bürger dazu beitragen, der neugierigen Staatsgewalt die Feststellung seiner Identität zu erleichtern? Darf ein demokratisches Grundrecht nur ausgeübt werden, wenn man, um sicher zu gehen, nur unverhüllt und barhäuptig vor die Obrigkeit tritt? – Nicht jedes Verbergen der Identität ist von der Absicht getragen, Straftaten zu begehen. Das hat sich erst letzte Woche in einem Gerichtsverfahren in Düsseldorf gezeigt. Ein von der Polizei eingekesselter Demonstrant hatte sich mit Schal und Mütze vor fotografierenden Neonazis geschützt und ist deshalb auch freigesprochen worden (jW vom 20.8.2007). Die Datensammelwut unserer »Sicherheitsbehörden«, von der Videoüberwachung über die Erfassung der Telekommunikation bis hin zur künftig erlaubten Vorratsdatenspeicherung kann kaum absehbare Folgen für die Betroffenen zeitigen. Warum soll man sich nicht davor schützen dürfen?

Das Vermummungsverbot gehört also neben anderen grundrechtsgefährdenden Bestimmungen im geltenden Versammlungsrecht auf den Prüfstand. Es reicht aber nicht, auf die bürgerrechtliche Einsicht der Gesetzgeber zu hoffen. So ist das Versammlungsgesetz in den letzten Jahren durch den Bundestag und den Landtag von Brandenburg durch Regelungen gegen Neonazismus ergänzt worden, denen in der Praxis aber fast nur symbolische Bedeutung zukommt. Auf der anderen Seite ist zu befürchten, daß unter Hinweis auf eine angebliche Gefährdung durch »extremistische Störer« die Verbotsbestimmungen in naher Zukunft verschärft werden. Im übrigen hat die Geschichte immer wieder gezeigt, daß demokratische Grundrechte wie gerade auch die Versammlungsfreiheit am effektivsten durch deren aktive und mutige Wahrnehmung verteidigt werden.

* Martin Kutscha ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege Berlin. Er gibt den jährlich erscheinenden Grundrechte-Report mit heraus.

* Aus: junge Welt, 21. August 2007



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