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"Der amerikanische Verrat" - Wenn das Recht der Macht weicht

Pressestimmen zum Einknicken des UN-Sicherheitsrats vor den USA

Im Folgenden dokumentieren wir ein paar Auszüge aus Leitartikeln und Kommentaren der hiesigen und der internationalen Presse zur Entscheidung des UN-Sicherheitsrats, Soldaten derjenigen Staaten, die dem Internationalen Strafgerichtshof nicht beitreten, zunächst für ein Jahr Straffreiheit zu gewähren. Die Empörung, so scheint es, ist fast einhellig. Fragt sich nur, wie lang das Gedächtnis der Kommentatoren hält.


Im Leitartikel der Süddeutschen Zeitung (Überschrift: "Der amerikanische Verrat") schreibt Stefan Ulrich u.a:

... Der so genannte Kompromiss, den der UN-Sicherheitsrat nun mit verlogener Einstimmigkeit beschloss, erlaubt es den EU-Staaten kaum, ihr Gesicht zu wahren. Allen gegenteiligen Beteuerungen aus London, Paris und Brüssel zum Trotz haben sie am Ende kapituliert vor dem brutalen Druck der USA.

Doch dieser Sieg hat auch für die USA einen bösen Beigeschmack. Denn Amerika hat in diesem Streit Ideale verraten, die es einst mit dem revolutionären Frankreich teilte und die es groß gemacht haben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Amerika hat die Freiheit verraten. Es hat den anderen Staaten das Recht genommen, frei miteinander Verträge auszuhandeln. Theoretisch darf jedes Land Verbrechen, die auf seinem Territorium begangen wurden, aburteilen – die USA selbst nehmen sich sogar die Freiheit, ausländische Staatsbürger hinzurichten. Die 76 Staaten, die das Statut des Weltgerichts bereits ratifizierten, haben ihr Recht zur Strafverfolgung für extreme Ausnahmefälle an einen gemeinsamen Gerichtshof übertragen. Er soll in die Bresche springen, wenn einzelne Nationen nicht mehr die Kraft aufbringen, Völkermörder und Kriegsverbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Der „Kompromiss“ im Sicherheitsrat aber bestimmt: Amerikaner sind unter allen Umständen sakrosankt. Dies soll zunächst zwar nur für ein Jahr gelten. Der Rat hat aber bereits seine Absicht verkündet, den Immunitätsbeschluss immer wieder zu verlängern. Die Freiheit der Staaten, Verbrecher zu verfolgen, endet damit, sobald Nordamerikaner betroffen sind.

Amerika hat die Gleichheit verraten. Wenn es um deutsche, japanische, jugoslawische, ruandesische oder kambodschanische Völkermörder ging, förderte Washington verdienstvoller Weise eine internationale Strafjustiz. Die Tribunale von Nürnberg über Tokio und Arusha bis Den Haag belegen dies. Wenn es aber um Amerikaner geht, so gilt: Nichts und niemand darf Hand an sie legen. ...

Amerika hat die Brüderlichkeit verraten. Sie gebietet es, mit befreundeten Staaten echte Kompromisse zu suchen. Washington aber hat die Überzeugungen seiner Partner – der Europäer, der Lateinamerikaner, der Kanadier – in den Wind geschlagen. Es hat UN-Friedenseinsätze als Geisel genommen, indem es drohte, die Mandate nur zu verlängern, wenn Amerikaner Immunität bekommen. ...

... Die Appeasement-Politik von Europa und Co. wird die Falken in Washington bestärken in ihrer Maxime: Frechheit siegt, und der Sieger nimmt alles.
...
Die Szene zeigt eine Supermacht, die rücksichtslos und unkontrolliert ihre eigenen Interessen lebt und dabei Gefahr läuft, zunehmend irrational zu agieren. ...
Süddeutsche Zeitung, 15. Juli 2002


Einen "Keim der Fäulnis" sieht die Kommentatorin der Frankfurter Rundschau, Astrid Hölscher, im "Kompromiss" des UN-Sicherheitsrats.

... Es ist nicht nur ein fauler Kompromiss, der da vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet wurde. Derartige Einigungen auf niederem Niveau kommen schließlich häufiger vor, wenn sich die Starken und Halb-Starken der Welt im Grunde nicht einig sind. Die Resolution aber, die US-Bürger gegen internationale Strafverfolgung immunisiert, legt einen Keim der Fäulnis an das moderne Völkerrecht. Sie beschädigt das Ansehen von UN-Friedensmissionen und das Vertrauen in den internationalen Strafgerichtshof, bevor der ICC noch die Chance hat, solches durch Rechtsprechung zu erwerben. Wer mag an die Stärke des Rechts glauben, solange die Mächtigen es nach ihrem Gusto auslegen und sogar beugen dürfen.

Ein fauler Kompromiss wäre vielleicht die auf ein Jahr befristete Immunität gewesen; deren halbautomatische Verlängerungsmöglichkeit verwandelt das Zugeständnis an die Argwöhnischen in eine Niederlage des Völkerrechts. ...
Frankfurter Rundschau, 15. Juli 2002


"Kein Recht für Davids Kinder" überschrieb René Heilig seinen Kommentar im Neuen Deutschland:

"Erstmals seit der Amtsübernahme von George W. Bush haben die USA eine Machtprobe um einen internationalen Vertrag nicht einfach durch ihr Machtwort beendet." So beginnt der Bericht des dpa-Kollegen über die als Kompromiss bezeichnete Erpressung der USA, nach der Bürger der omnipotenten Supermacht den Internationalen Strafgerichtshof nicht fürchten müssen.
Das über Machtprobe und Machtwort Zitierte sollte – gerade weil es das Geschehen im UN-Sicherheitsrat korrekt wiedergibt – empören. Man muss inzwischen schon positiv vermerken, wenn die USA die so oft als Legitimation benutzte internationale Gemeinschaft mal nicht sofort vergewaltigen, sondern diese Untat um zwölf Monate rausschieben. Natürlich finden sich auch gleich ein paar, die bei dieser Gemeinheit Schmiere stehen – Russland, China, Israel – Länder, die Menschenrechte gleichfalls nur akzeptieren, wenn sie ihnen ab und zu in den machtpolitischen Kram passen.
Warum das No und auch das Njet? Das Internationale Strafgericht soll doch nur aktiv werden, wenn nationale Justizorgane ihre Pflichten vergessen. Schlägt also ein US-Soldat irgendwo »aus der Art«, könnte sich die Militärjustiz um ihn kümmern, wie um gefangene Al-Qaidas. Gleiches gilt für den russischen Militärstaatsanwalt und natürlich könnte ein israelischer Richter kriminell killende Sondertruppen »ins Gebet« nehmen. Könnte... Konjunktive eignen sich nicht für Rechtsstaatlichkeit, schon gar nicht auf internationaler Ebene. Wie in urbiblischen Zeiten hat Recht, wer die größte Keule am besten und skrupellosesten schwingt – also in seiner Art bleibt. So können Davids Kinder weiter nur träumen, Goliaths auch vor dem nun jüngsten, doch sehr irdischen Gericht zu besiegen.
Neues Deutschland, 15. Juli 2002


Gewohnt deutlich bringt die "junge Welt" ihre Kritik an dem UN-Kompromiss auf den Punkt. Im Kommentar von Werner Pirker ("Leichen im Keller") heißt es u.a.:

...
Die USA vermochten ihre Position, gegenüber dem Den Haager Gericht eine Sonderstellung eingeräumt zu bekommen, durchzusetzen. Der Beschluß des UN-Sicherheitsrates gilt als Kompromißformel. Bisher dachte man, daß der elementarste bürgerliche Rechtsgrundsatz, daß alle, Individuen wie Staaten, vor dem Gesetz gleich sind, in sich kompromißunfähig sei. Auch das gilt nun nicht mehr. Der »Kompromiß« sieht vor, daß Soldaten aus Ländern, die das Statut des IStGH nicht unterzeichnet haben, für ein Jahr von Strafverfolgungen ausgenommen werden. Daß nach Ablauf dieser Frist die Gerechtigkeit waltet, kann ausgeschlossen werden. Nachdem es die Amerikaner zu erzwingen vermochten, daß das Grundprinzip jeglicher Gerichtsbarkeit unterlaufen wird, werden sie auch in Zukunft alle Machtmittel einzusetzen wissen, damit der Kompromiß nicht zu ihrem Nachteil ausgelegt werden kann. Das Prinzip amerikanischer Machtausübung kennt keine Prinzipien. Um sich selbst der Strafverfolgung zu entziehen, lassen die USA die anderen Nichtunterzeichner-Staaten am Privileg der Immunität teilhaben. Neben Israel, ihrem Bruder im Geiste der Selbstlegitimierung, gilt das auch für Rußland und China. Eine seltsame Komplizenschaft. Wie das wohl mit Jugoslawien gewesen wäre, hätte es weiterhin die Legitimität von Den Haag bestritten? Da hätte sich die US-Diplomatie wohl eine andere Formel einfallen lassen müssen.

Der Nachdruck, mit dem sich Washington der internationalen Gerichtsbarkeit verweigert, läßt die Leichenberge erahnen, die es zu verbergen sucht. Obwohl doch von Beginn an klar war, daß der Gerichtshof in Den Haag nicht zu dem Zweck eingerichtet wurde, über die menschenrechtlichen Verwerfungen amerikanischer Kriegsführung zu richten. Wäre das anders, dann müßte auf der Anklagebank des Tribunals für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien die gesamte militärische und politische Führung der NATO-Staaten Platz nehmen.

Was die USA der Welt abverlangen, ist eine Carte blanche für ihren permanenten Krieg - unter Einsatz aller erlaubten und unerlaubten Mittel. Doch nichts hat das Image der amerikanischen »Antiterrorkampagne« mehr beschädigt als Washingtons jüngster diplomatischer Großeinsatz.
junge welt, 15. Juli 2002


Alan Posener (DIE WELT) sieht in der Entscheidung des UN-Sicherheitsrats sogar einen "Erfolg" der Europäer:

... Um es kurz zu sagen: George W. Bush kann mit verschnupften Europäern besser leben als mit vergrätzten Vertretern der machtvollen religiösen Rechten im eigenen Land, auf deren Unterstützung er auch im Hinblick auf seine Wiederwahl angewiesen ist. Vor diesem Hintergrund ist der im Sicherheitsrat vor allem durch die Vermittlung Großbritanniens zustande gekommene Kompromiss, der es allen Beteiligten erlaubt, sich einstweilen ohne Gesichtsverlust aus der Affäre zu ziehen, das Äußerste, was die Anhänger des Gerichts hätten erreichen können und in so fern ein Erfolg Europas. Dass beide Seiten mit dem Kompromiss unzufrieden sind ist, um Henry Kissinger zu paraphrasieren, ein Beleg seiner Brauchbarkeit.
Es ist Zeit gewonnen, in der vor allem Europa beweisen kann, dass es gegen die Gesslers dieser Erde nicht nur mit Worten, sondern auch mit eigener Macht vorzugehen bereit ist. Nur wer selbst nicht erpressbar ist, kann dem Recht zu seinem Recht verhelfen. Nur wer stark ist, wird dem Starken imponieren.
DIE WELT, 15. Juli 2002


Als Stimme der Regionalpresse im Folgenden ein Kommentarauszug ("Fauler Kompromiss in New York" von Gerhard de Groot) aus der in Ulm erscheinenden Südwestpresse:

... Der Kompromiss von New York hat .. einen faden Nachgeschmack. Denn er gibt anderen Staaten, die auch nichts von einer Instanz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen wissen wollen, Flankenschutz. Zum Beispiel Russland mit seinem Tschetschenien-Abenteuer, China mit seiner Minderheitenverfolgung in Tibet, Israel mit seiner Politik der verbrannten Erde in Palästina.
Für die Europäer ist zunächst einmal entscheidend, dass die Uno-Friedensmission in Bosnien verlängert wird. Deren Abbruch war aber von den Amerikanern nie wirklich erwogen worden, und die Nato hatte sich (mit US-Beteiligung) bereits darauf vorbereitet, selbst die ganze Verantwortung für die Stabilität auf dem Balkan zu übernehmen. Dabei hätte die Bush-Regierung kein Risiko für ihre Soldaten gesehen - eine merkwürdige Logik. Jetzt bleibt allen Beteiligten die Probe aufs Exempel erst einmal erspart.
Südwestpresse, 15. Juli 2002


Die in Den Haag erscheinende holländische Zeitung De Volkskrant meint zum Internationalen Strafgerichtshof u.a.:

"Das Interessante an diesem Gerichtshof ist, dass er nicht allein auf der Grundlage des Rechts funktioniert, sondern ebenso auf der Basis der Macht – der Macht der angeschlossenen Staaten. Inzwischen sind das 76. Diese Länder sind bereit, ihre Macht einzusetzen, um den Gerichtshof effektiv zu machen. Und genau deshalb lehnen die USA den Gerichtshof so heftig ab, weil sie begreifen, dass die staatliche Macht von derzeit 76 Ländern die Rechtsprechung durchsetzen kann." De Volkskrant, 15. Juli 2002


Der Wiener "Standard" fällt etwas aus dem Rahmen, auch wenn Eric Frey in seinem Kommentar "Die Launen der Primadonna" meint, die USA würden sich letztendlich selbst schaden:

Die Hypermacht USA hat wieder einmal gezeigt, wer der Herr im globalen Haus ist. Mit der plumpen Drohung, die UNO-Friedensmission in Bosnien abzuwürgen, zwang Washington die Verbündeten, den gegen seinen Widerstand gegründeten Internationalen Strafgerichtshof durch eine Immunitätszusage für US-Soldaten zu verwässern. Wildwestdiplomatie hat offenbar gegen internationale Rechtsstaatlichkeit gesiegt.

Doch es ist ein hohler Triumph, den die US-Diplomaten im Sicherheitsrat erzielt haben. Die gewonnene Immunität für ihre Friedenssoldaten ist in der Praxis irrelevant - die Chance, dass ein amerikanischer Blauhelm in Den Haag eines Kriegsverbrechens angeklagt wird, wäre auch ohne sie gleich null gewesen. Dafür aber musste Washington kostbares politisches Kapital, das es in Zukunft - etwa bei der Vorbereitung eines Militärschlages gegen den Irak - noch bitter benötigen könnte, dazu verwenden, die Neurosen erzkonservativer Strömungen zu befriedigen.
...
Der Internationale Strafgerichtshofs ist selbst das Produkt einer zutiefst amerikanischen Weltsicht. Es war Präsident Woodrow Wilson, der als erster Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zur obersten Maxime der Außenpolitik erklärte. Auch heute haben Amerikaner ein viel stärkeres Bedürfnis als etwa Briten oder Franzosen, Machtpolitik moralisch zu legitimieren. Die Verfolgung von Kriegsverbrechen in unabhängigen internationalen Tribunalen ist ein Kernstück dieser Politik und wurde unter Führung der USA in Nürnberg, Ruanda und Bosnien verwirklicht.

Doch dieser selbstbewusste Multilateralismus wird immer wieder von isolationistischen "America First"-Kräften infrage gestellt. Sie brachten 1920 den Völkerbund zu Fall und verhinderten nach 1948 die Gründung der Internationalen Handelsorganisation (ITO). Jedes Mal kamen dabei auch US-Interessen unter die Räder, musste die Entscheidung später revidiert werden - etwa durch die Gründung der UNO 1945 oder der Welthandelsorganisation 1995.

Auch beim Strafgerichtshof ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, obwohl es auch diesmal Jahre dauern könnte, bis sich in Washington die Einsicht durchsetzt, dass die USA durch ihn viel mehr gewinnen als riskieren. Deshalb ist der jüngste Kompromiss, der die Immunität vorerst auf ein Jahr beschränkt, keine gar so schlechte Lösung für diesen sinnlosen Streit. Auch die Verbündeten wissen, dass der Strafgerichtshof ohne die überwältigende amerikanische Militärmacht ein Papiertiger bleibt. Kriegsverbrecher und Völkermörder können nur dann verurteilt werden, wenn sie besiegt und gefasst worden sind. Die USA unter Bush jr. sind wie der launische Star in einer Sportmannschaft, auf den die Kollegen zähneknirschend Rücksicht nehmen, weil er die Siege einheimst. Doch Primadonnen schaden sich mit ihren Allüren vor allem selbst.


Wie so oft ist die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung schon einen Schritt "weiter". Der Kommentar (von K.F.) heißt denn auch "Nach dem Kompromiß".

... Aber selbst diejenigen, die sich erpreßt fühlen, müssen die Frage beantworten, was gewonnen wäre, wäre es bei der scharfen Konfrontation mit Amerika geblieben. Ein strahlender Sieg des Rechts über die Macht? Die Weltpolitik gehorcht nicht einem solchen egalitären Idealismus; das ist ja gerade ein Grund des amerikanischen Einspruchs. Die naheliegende Konsequenz wäre vermutlich gewesen, daß die Vereinigten Staaten um Friedensmissionen fortan einen Bogen gemacht hätten. Damit wäre der Graben zum Beispiel zu den Verbündeten noch tiefer geworden: die einen vermutlich nur noch fürs Grobe, die anderen für die Zeit danach - wenn überhaupt. Viele würden Amerika nur allzugern an die Kandare nehmen und sein militärisch gestütztes Engagement unter "Aggressionsverdacht" stellen. In einer solchen Welt wären nur die Schurken sicher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Juli 2002


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