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Streitfrage: Der Strafgerichtshof in Den Haag – ein geeignetes Instrument gegen Kriegsverbrecher?

Es debattieren: Prof. Dr. Gregor Schirmer, Jahrgang 1932, ist Völkerrechtler und Dr. Gerd Hankel, 1957 geboren, ist Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Schwach und begrenzt

Von Gregor Schirmer *

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist nach meiner Meinung ein schwaches Instrument gegen Kriegsverbrecher. Es gibt strukturelle Grenzen und praktische Hindernisse für die Wirksamkeit des Gerichtshofs, die mich wenig hoffnungsvoll stimmen.

Von Universalität ist der IStGH mehr als zehn Jahre nach der Unterzeichnung des Statuts weit entfernt. Von den 192 Mitgliedern der UNO haben 108 das Statut ratifiziert. Seit Jahren aber ist ein Stillstand im Ratifikationsprozess eingetreten. Unter den 84 fehlenden Staaten sind viele, auf die es gerade ankommt. Die USA haben, nachdem Präsident Bill Clinton im letzten Moment das Statut unterzeichnet hatte, unter George W. Bush junior die Unterschrift zurückgezogen und einen wahren Amoklauf gegen den IStGH vom Zaun gebrochen.

Es fehlen die Mitglieder des Sicherheitsrats der UNO China und Russland. Es fehlen die beiden Atommächte Indien und Pakistan. Weder Israel noch die arabischen Staaten des Nahen Ostens, außer Jordanien und Djibouti, weder Iran noch Irak, auch nicht Nordkorea sind Partner des Statuts. Zurückgehalten haben sich die Nachfolgestaaten der Sowjetunion außer den baltischen Staaten und Georgien sowie Tadschikistan. Erstaunlich viele Staaten Afrikas sind Partner des Statuts, nämlich 30 von 48. Bezeichnenderweise fehlen Ruanda, Simbabwe, Somalia und Sudan. Solange kein höherer Grad an Ratifikationen des Statuts, vor allem durch die großen Mächte und die Staaten in Konfliktregionen erreicht ist, werden die Autorität, Reichweite und Wirkungskraft des IStGH empfindlich geschmälert sein.

Die Strafbarkeit des Verbrechens der Aggression ist ausgesetzt. Der nach Inkrafttreten des Statuts vom Zaun gebrochene Aggressionskrieg gegen Irak war straffrei! Die Gerichtsbarkeit des IStGH über das Aggressionsverbrechen kann erst dann ausgeübt werden, wenn eine Einigung über die Definition dieses Verbrechens und über »die Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf dieses Verbrechen« getroffen ist. Diese Einigung soll auf der Konferenz zur Überprüfung des Statuts erreicht werden, die noch in diesem Jahr stattfinden müsste.

Eine Special Working Group hat nach jahrelangem Hin und Her den Entwurf einer Resolution vorgelegt, die eine Definition enthält, die der Aggressionsdefinition der UNO von 1974 nachgebildet ist. Die Hürde liegt auf einem anderen Gebiet. Die ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats wollen durchsetzen, dass der Gerichtshof das Aggressionsverbrechen erst dann verfolgen darf, wenn der Sicherheitsrat vorher das Vorliegen einer Aggression festgestellt hat. Damit könnten sie kraft des Veto-Rechts jedes Verfahren wegen Aggressionsverbrechen verhindern. Andere Staaten unterbreiten andere Ideen. Die Aussichten für eine Einigung über die erforderliche Statutenänderung zum Aggressionsverbrechen und für deren Inkrafttreten sind schlecht.

Der Wirksamkeit des Gerichtshofs stehen statutarische Hürden entgegen und seine Praxis ist einäugig. Der IStGH soll die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit »ergänzen«. Er kommt nur dann zum Zuge, wenn ein Staat »nicht willens oder in der Lage« ist, die Verbrechen selber »ernsthaft« zu verfolgen. »Selbstverständlich« brauchen die »mustergültigen« westlichen Rechtsstaaten den IStGH nicht, denn sie haben alles bestens geregelt. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich ein eigenes Völkerstrafgesetzbuch zugelegt, um zu zeigen, dass sie »willens und in der Lage« ist, auch ohne internationale Strafgerichtsbarkeit auszukommen. Die unwilligen und unfähigen Staaten liegen außerhalb des Gebiets der NATO und der EU, gegenwärtig vor allem in Afrika. Verfahren können zustande kommen, wenn ein Vertragsstaat oder der UNO-Sicherheitsrat dem Ankläger eine Situation unterbreiten, »in der es den Anschein hat,« dass einschlägige Verbrechen begangen wurden.

Gegenwärtig laufen vier Verfahren. Sie betreffen die Situation in Uganda, Kongo, der Zentralafrikanischen Republik und Darfur (Sudan). Den letzteren Fall, der dem Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir zugrunde liegt, hat der Sicherheitsrat mit der Resolution 1593 bei Enthaltung Algeriens, Brasiliens, Chinas und der USA dem Gerichtshof unterbreitet. Der Ankläger kann aufgrund von Informationen mit Genehmigung einer Gerichtskammer auch aus eigener Initiative Ermittlungen einleiten. Bisher ist er auffällig zurückhaltend. Seit 2002 hat der Ankläger 7900 Informationen aus 170 Ländern erhalten. Ein Verfahren hat sich daraus nicht ergeben. Zum Krieg in Irak sah der Ankläger keine Grundlage für Ermittlungen. Es gab nach seinem Befund dafür eine zu geringe Anzahl von zivilen Todesopfern! 12 Haftbefehle gegen Afrikaner sind erlassen. Vier Beschuldigte sitzen in den Haag ein. Der Gerichtshof hat logischerweise keine Polizei, die Haftbefehle vollziehen könnte. Er ist auf die Zusammenarbeit mit den innerstaatlichen Behörden angewiesen.

Ich halte den IStGH trotz dieser Grenzen und Hemmnisse für eine zivilisatorische Errungenschaft. Allein seine Existenz kann ein Signal mit abschreckender Wirkung sein. Eine drohende Gerichtsbarkeit für internationale Verbrechen ist allemal besser als garantierte Straffreiheit. Ich denke dabei auch an die Artikel 27 bis 33 des Statuts. Dort wird festgelegt, dass die »amtliche Eigenschaft als Staats- und Regierungschef, als Mitglied einer Regierung oder eines Parlaments, als gewählter Vertreter oder als Amtsträger einer Regierung eine Person nicht der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Statut« enthebt und auch keinen Strafmilderungsgrund darstellt.

Die Berufung auf Immunität ist kein Grund für Straflosigkeit. Militärische Befehlshaber unterliegen ebenfalls der Strafverfolgung. Sie können die Verantwortung für Verbrechen nicht auf Untergebene abschieben. Die Verbrechen nach dem Statut verjähren nicht. Das ist gut so. Aber solange der IStGH um die Verantwortung von George W. Bush, Donald Rumsfeld und anderen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einen Bogen macht, ist der Haftbefehl gegen einen amtierenden afrikanischen Staatschef in Afrika für Frieden und Menschenrechte eher kontraproduktiv.

Prof. Dr. Gregor Schirmer, 1932 in Nürnberg geboren, ist Völkerrechtler. In der DDR war er Dozent für Völkerrecht an der Universität Jena, Mitglied der Volkskammer und Stellvertreter des Staatssekretärs für Hoch- und Fachschulwesen. Heute ist Gregor Schirmer im Ältestenrat der Linkspartei aktiv sowie Mitglied im Marxistischen Forum. Bei Kai Homilius erschien 2008 sein Buch »Lissabon am Ende? Kritik der EU-Verträge«.


Signal an die Täter

Von Gerd Hankel *

Die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir zu erlassen, ist richtig. Auch amtierende Staatsoberhäupter stehen heute, wenn sie der Begehung von Massenverbrechen verdächtig sind, nicht über dem Völkerrecht. Dass die weltpolitische Realität dieser Behauptung oft und deutlich Hohn spricht, macht sie gleichwohl nicht zu einer falschen.

Wenn Politiker und Militärs, die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermordverbrechen bewusst und zielgerichtet möglich gemacht haben, gewöhnlich nicht vor einer internationalen Instanz zur Verantwortung gezogen werden, ist das zunächst eine Frage der Durchsetzbarkeit von Rechtsvorschriften und nicht ihrer normativen Geltung. An Letzterer bestehen schon seit den Nürnberger Prozessen gegen führende NS-Täter keine Zweifel mehr, wohingegen die Umsetzung des Völkerstrafrechts, wie es seit jener Zeit genannt wird, ein Ideal blieb, das regelmäßig den Loyalitäten und Zwängen des machtpolitischen Betriebs zum Opfer fiel. Ein Ideal aber blieb es, und als solches wirkte es, allen Widrigkeiten einer manichäistischen Weltsicht zum Trotz, weiter. Und eben darum war, als die Widrigkeiten sich auflösten, die internationale politische und zivilgesellschaftliche Zustimmung groß, mit der 1993 und 1994 die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats, ein Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda einzurichten, begleitet wurden. Und ohne diese beiden Gerichte hätte es 1998 auch kein Römisches Statut und keinen seit Mitte 2002 arbeitsfähigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof gegeben.

Natürlich kann man die Entwicklung auch anders sehen. Nämlich als eine Entwicklung, die geprägt ist von zynischer Doppelmoral und einer daraus folgenden Rechtswahrnehmung, die vom Grundsatz der rechtlichen Gleichbehandlung gleicher oder vergleichbarer Fälle nichts wissen will. Schon im Sommer 1945, bei den Verhandlungen zum Londoner Abkommen, auf denen das Statut für das Nürnberger Militärtribunal ausgearbeitet wurde, waren die alliierten Großmächte bemüht, den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit so zu fassen, dass eigenes Fehlverhalten der Vergangenheit – Kolonialverbrechen, Unterdrückung von Minderheiten, Beseitigung vermeintlicher politischer Gegner – nicht darunter fallen.

Diese Gefahr bestand beim nächsten Anwendungsfall der internationalen Strafgerichtsbarkeit (wenn wir den Tokioter Prozess außen vor lassen) von Anfang an nicht. Weder der Krieg im ehemaligen Jugoslawien noch der Völkermord in Ruanda betrafen unmittelbar Interessen von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats, so dass ihnen die Entscheidung für die Einsetzung der beiden Strafgerichtshöfe leicht fiel. Als dann doch Vorwürfe an die Adresse von NATO-Staaten laut wurden, im Kosovo-Krieg selbst Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen begangen zu haben, unternahmen diese in ihrer teilweise parallelen Eigenschaft als Vetomächte im Sicherheitsrat alles, um die Ermittlungen des internationalen Gerichts zu blockieren und deren Einstellung zu erzwingen. Kein Wunder also, dass sich einer dieser Staaten, noch dazu der mächtigste, bis heute der Idee einer ständigen internationalen Strafgerichtsbarkeit gegenüber ablehnend zeigt und damit ein Beispiel gibt, dem andere Staaten bereitwillig folgen.

Wie gesagt, man kann die Entwicklung auch so sehen. Man kann sich überdies noch der Meinung derer anschließen, die in den sich gegenwärtig nur auf Afrika erstreckenden Aktivitäten des Gerichts einen neokolonialistischen Akt der Arroganz erkennen und die internationale Strafjustiz in ihrer bisher praktizierten Form für eine reichlich heuchlerische bzw. interessengeleitete Veranstaltung halten. Doch dann sollte man auch wissen, wem diese Kritik nutzt. Und vor allem sollte man wissen, welches denn alternativ die geeignete Antwort auf staatlich organisierte Massenverbrechen sein soll.

Dass der Internationale Strafgerichtshof derzeit ausschließlich in Afrika aktiv ist, liegt, neben der Faktizität des kriegerischen Geschehens, daran, dass drei der vier afrikanischen Fälle von den betreffenden Staatsführungen selbst vor das Gericht gebracht wurden. Die nationale Justiz dieser Länder (Kongo, Uganda, Zentralafrikanische Republik) war, wie es als Zulässigkeitsvoraussetzung im Römischen Statut heißt, »nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen«. Diesen Umstand als Ausweis einer wie auch immer motivierten Arroganz gegenüber Afrika verstehen zu wollen, zeugt von einer argen Verengung des Blicks. Das gilt auch für den Fall Darfur, der vom Sicherheitsrat an das Gericht verwiesen wurde, weil der Sudan, wie es das Römische Statut als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung vorsieht, über Jahre hinweg »nicht willens war«, effektive Schritte zur Beendigung der Gewalt in der Darfur-Provinz zu unternehmen.

Nicht von ungefähr war die Kritik am Haftbefehl gegen Omar al-Bashir gerade in den Ländern der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union besonders laut. Das mag an der geografischen Nähe oder an weltanschaulicher Verbundenheit liegen, möglicherweise wird auch eine Art Solidarität zwischen autoritären oder diktatorischen Regimes eine Rolle gespielt haben. Wie dem auch sei, die Forderung jedenfalls, die dort und vereinzelt auch in anderen Ländern nach einer strafrechtlichen Gleichbehandlung aller Staaten, schwacher wie mächtiger, erhoben wird, ist zwar richtig, aber nur schrittweise umzusetzen und sollte deshalb nicht in einem Willkürvorwurf gegen den jetzigen Status quo der internationalen Strafjustiz münden. Im Weltmaßstab alles Unrecht hinnehmen zu wollen, nur weil die strafrechtliche Ahndung eines einzigen angeblich ein Akt der Willkür ist, ist von verquerer Logik und läuft ziemlich unverblümt darauf hinaus, dass alles beim Alten bleiben soll. Die Chance, über Präzedenzfälle einzelne Akteure der internationalen Politik unter Druck zu setzen und ein konkretes, dauerhaft mahnendes Zeichen gegen die Umarmungs- und Küsschen-Diplomatie mit mutmaßlichen Kriegsverbrechern und -verbrecherinnen zu setzen, wäre damit vertan.

Dr. Gerd Hankel, Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Der Jurist und Sprachwissenschaftler untersucht seit Jahren den Völkermord in Ruanda, der 1994 etwa einer Million Menschen das Leben kostete. Gerd Hankel hat dabei besonders die ruandischen Volksgerichte (»Gacaca«) untersucht. Als Herausgeber veröffentlichte er zuletzt »Die Macht und das Recht. Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts«.

Die Debatten-Beiträge erschienen in: Neues Deutschland, 17. April 2009 (Wöchentliche Rubrik: Debatte)


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