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Strafgerichtshof für Afrika?

Von Norman Paech *

Staatsanwälte, so wird es angehenden Juristen mit auf den Weg gegeben, sind die Kavallerie der Justiz, schneidig, aber dumm. Dass es davon auch Ausnahmen gibt, spricht nicht gegen diesen Satz. Die Geschwindigkeit, mit der der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Luis Moreno-Ocampo, einen Haftbefehl gegen Muammar al-Gaddafi, dessen Sohn Saif al-Islam und den Chef des Geheimdienstes, Abdullah Senussi, geschrieben hat, entspricht bei uns der Frist, innerhalb der ein Gebührenbescheid für eine Geschwindigkeitsüberschreitung im Straßenverkehr ausgestellt wird.

Gerade einmal zehn Wochen sind vergangen, seit der UN-Sicherheitsrat am 26. Februar sein Mandat für die Ermittlungen im Libyen-Konflikt erteilt hatte, und schon liegt ein detaillierter Haftantrag vor – das ist schneidig. Zum Vergleich: seit bald einem Jahr brütet die deutsche Bundesanwaltschaft über einer Strafanzeige, die gegen die Verantwortlichen für den Angriff auf die »Mavi Marmara« und den Tod von neun Passagieren eingereicht worden ist. Inzwischen liegt eine umfangreiche Untersuchung des UN-Menschenrechtsrats mit dem Vorwurf von Kriegsverbrechen vor, aber eine Entscheidung der Bundesanwaltschaft ist nicht absehbar. Und die Forderung der Goldstone-Kommission nach gerichtlichen Konsequenzen der Kriegsverbrechen im Gaza-Krieg 2008/2009 liegt immer noch unerledigt beim UN-Sicherheitsrat, da die USA die Weiterleitung an den IStGH blockieren.

Staatsanwälte sind weisungsabhängig, und das ist der Chefankläger beim IStGH auch. Er hat die Vorwürfe, die ihm der Sicherheitsrat übermittelt, zu prüfen – darin ist er unabhängig. Doch die Vorwürfe wiegen schwer: massenhafte Morde an Zivilisten, Folter, Verfolgung Unschuldiger, gezielte Vergewaltigungen, Scharfschützen hätten auf Menschen geschossen, die gerade aus den Moscheen kamen – alles schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und strafbar.

Es ist nicht bekannt, dass Moreno-Ocampo ein Ermittlungsteam nach Libyen geschickt hat, es hätte dann wohl auch ein Auge auf die Kriegsführung der Rebellen und ihrer NATO-Alliierten werfen müssen. Aber der Druck der Auftraggeber war offensichtlich zu stark, um sich Zeit zu lassen für umfangreiche und genaue Recherchen vor Ort. Denn der Gerichtshof wird von der NATO als weitere Waffe in ihrem Krieg gegen Gaddafi geführt. Da die Bombardierung aus der Luft und von der See aus sowie die diplomatische, finanzielle und militärische Unterstützung der Rebellen Gaddafi bisher nicht haben stürzen können, soll der Haftbefehl weiteren Druck erzeugen. Das jüngste Angebot Gaddafis zur Waffenruhe wird ebenso ignoriert wie der seit März vorliegende Friedensplan der Afrikanischen Union. NATO und Rebellen geht es offensichtlich weniger um den Frieden und den Schutz der Zivilbevölkerung, sondern um die Beseitigung Gaddafis.

In der Folgsamkeit des Anklägers liegt aber auch seine Dummheit. Merkt er nicht, dass er mit seiner Eilaktion nur den Ruf des IStGH als »Kolonialgericht« und »Afrikanisches Strafgericht« weiter entwertet? Wo sind die Anklagen wegen Kriegsverbrechen in Afghanistan, Irak oder Gaza? Die Täter der NATO und Israels sind offensichtlich immun vor diesem Gericht, nur nicht die aus Afrika. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen: Sollten sich die Vorwürfe erhärten, müssten sie vor dem Gericht geklärt werden.

Aber dieses Gericht erhält erst dann seine Legitimität, wenn es die Worte des Nürnberger Chefanklägers Jackson beherzigt: »Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden. Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu setzen.«

* Norman Paech ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht. Er war außenpolitischer Sprecher der LINKEN.

Aus: Neues Deutschland, 18. Mai 2011 (Gastkommentar)



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