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Eine neue Wirklichkeit

Das Treffen der BRICS-Gruppe in Fortaleza markiert eine Zäsur der globalen Entwicklung. Es ist an der Zeit, etwas mehr über die Realität zu erfahren

Von Fidel Castro Ruz *

Unsere Epoche stellt uns vor immer kompliziertere Probleme. Nachrichten verbreiten sich mit Lichtgeschwindigkeit. Heute geschieht auf unserer Welt nichts, was uns nicht etwas Neues lehren könnte. Der Mensch ist eine merkwürdige Mischung aus blinden Instinkten und Bewußtsein. Wir sind politische Tiere. Das sagte – nicht ohne Grund – Aristoteles, der wie vielleicht kein anderer Philosoph des Altertums das Denken der Menschheit beeinflußt hat. Sein Lehrer war Platon. Er hinterließ der Nachwelt seine berühmte Utopie über den idealen Staat, die ihn in Syrakus, wo er versuchte, sie umzusetzen, fast das Leben gekostet hatte. Platons politische Theorie blieb ein Appellativ, um Ideen als gut oder schlecht zu beurteilen. Die Reaktionäre nutzten sie, um sowohl Marx als auch Lenin als Theoretiker zu bezeichnen, ohne dabei zu berücksichtigen, daß deren Utopien Rußland und China inspiriert haben – jene zwei Länder, die aufgerufen sind, an der Spitze einer neuen Welt zu stehen und die das Überleben der menschlichen Gattung ermöglichen könnten, falls der Imperialismus nicht zuvor einen verbrecherischen und verheerenden Krieg entfesselt.

Im Würgegriff der Blockade

Die Sowjetunion, das sozialistische Lager, die Volksrepublik China und Nordkorea haben Kuba mit Lieferungen für das Notwendigste geholfen. So konnten wir einer erbarmungslosen Wirtschaftsblockade der Vereinigten Staaten, dem mächtigsten Imperium, das jemals existiert hat, standhalten. Trotz ihrer riesigen Macht konnten sie das kleine Land nicht niederwalzen, das wenige Meilen vor ihren Küsten mehr als ein halbes Jahrhundert den Drohungen, Piratenüberfällen, Entführungen von Fischerbooten und der Versenkung von Handelsschiffen, der Zerstörung eines Flugzeugs der Cubana de Aviación über Barbados, der Brandschatzung von Schulen und andere Übeltaten widerstanden hat. Als die USA versuchten, unser Land mit Söldnertruppen zu überfallen, wurden diese in weniger als 72 Stunden besiegt. Auch danach begingen die von ihnen organisierten und ausgerüsteten konterrevolutionären Banden Handlungen des Vandalismus, die Tausenden Landsleuten das Leben oder die physische Unversehrtheit kosteten.

Im (US-)Bundesstaat Florida befand sich die größte Basis für Aktivitäten gegen ein anderes Land, die es zu diesem Zeitpunkt gab. Im Verlauf der Zeit beteiligten sich die Länder der NATO an der Wirtschaftsblockade. Und auch viele ihrer Verbündeten in Lateinamerika, die in den ersten Jahren Komplizen jener verbrecherischen Politik des Imperiums waren – was die Träume von Bolívar, Martí und Hunderten großer Patrioten von unbeirrbar revolutionärer Haltung in Lateinamerika in Fetzen riß.

Globale Perspektive

Bei dem vor kurzem beendeten Treffen von Fortaleza wurde eine wichtige Erklärung der Länder verabschiedet, die der BRICS-Gruppe (Brasilien, Rußland, Indien, China, Südafrika) angehören. Ihr Vorschlag einer größeren makroökonomischen Koordination zwischen den wichtigsten Ökonomien, speziell der G-20-Staaten, stellt einen fundamentalen Faktor für die Stärkung der Perspektiven einer effektiven und nachhaltigen Erholung der gesamten Welt dar. v Die BRICS kündigten die Unterzeichnung eines Abkommens zur Konstituierung der »Neuen Entwicklungsbank« an, um Ressourcen für Infrastruktur- und nachhaltige Entwicklungsprojekte der Mitgliedsländer und anderer aufstrebender und sich entwickelnder Ökonomien bereitzustellen.

Die Bank wird in Schanghai sitzen und über ein autorisiertes Anfangskapital von 100 Milliarden US-Dollar verfügen. Den ersten Präsidenten des Gouverneursrates wird Rußland stellen. Erster Chef des Verwaltungsrates wird ein Brasilianer, erster Bankpräsident ein Vertreter Indiens sein.

Auch die Unterzeichnung eines Vertrags zur Etablierung eines Gemeinsamen Devisenreservefonds für Notsituationen ist durch die BRICS geplant. Das bekräftigt die Unterstützung für ein multilaterales System offenen, transparenten, (alle) einschließenden und nicht diskriminierenden Handels sowie für den erfolgreichen Abschluß der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO). Die BRICS erkennen die wichtige Rolle an, die staatliche Unternehmen in der Wirtschaft spielen, ebenso wie die der kleinen und mittleren Unternehmen als Schöpfer von Beschäftigung und Reichtum.

In Fortaleza hoben die Staaten die strategische Bedeutung der Bildung für die nachhaltige Entwicklung und das inklusive Wirtschaftswachstum hervor, betonten die Verbindungen zwischen der Kultur und der nachhaltigen Entwicklung. Das nächste Gipfeltreffen findet im Juli 2015 in Rußland statt.

Kein Alltagsereignis

Es könnte scheinen, als handele es sich um ein Abkommen mehr unter den vielen, die ständig in den Depeschen der wichtigsten westlichen Presseagenturen auftauchen. Aber die Bedeutung (des BRICS-Treffens) ist klar und umfassend: Lateinamerika ist die geographische Region der Welt, der die Vereinigten Staaten das weltweit ungerechteste System zur Nutzung der inneren Reichtümer, der Lieferung billiger Rohstoffe, als Käufer ihrer Waren und als privilegierter Anleger ihres Goldes und ihrer Fonds aufgezwungen haben. Diese Reichtümer verlassen die jeweiligen Ländern und werden von den nordamerikanischen Unternehmen zu Hause oder an irgendeinem Ort der Welt investiert.

Niemand hat jemals eine Antwort gefunden, die in der Lage gewesen wäre, die Bedürfnisse des realen Marktes, den wir heute kennen, zu befriedigen. Aber man kann auch nicht daran zweifeln, daß die Menschheit zu einer Etappe in ihrer Entwicklung voranschreitet, die gerechter sein wird als jene, die die Gesellschaft bislang erlebt hat.

Heute ist von Bedeutung, was aus unserem globalisierten Planeten in naher Zukunft werden wird. Wie können die Menschen der Unwissenheit, dem Mangelzustand an grundlegenden Ressourcen zu Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wohnraum, anständiger Arbeit, Sicherheit und gerechter Entlohnung entkommen? Das ist am wichtigsten, egal ob es in diesem kleinen Winkel des Universums nun möglich ist oder nicht. Wenn das Nachdenken darüber irgend etwas bringt, wird dies dazu dienen, tatsächlich das Überleben des Menschen zu garantieren.

Ich hege nicht den geringsten Zweifel: Wenn (Chinas) Präsident Xi Jinping ebenso wie der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, ihre Rundreisen durch diese Hemisphäre absolviert haben, werden beide Länder einen der wichtigsten Prozesse der menschlichen Geschichte vollenden.

In der am 15. Juli 2014 in Fortaleza verabschiedeten Erklärung sprechen sich die BRICS-Staaten für eine stärkere Beteiligung anderer Entwicklungsländer aus, um so die Zusammenarbeit und die Solidarität mit den Völkern besonders Südamerikas zu fördern. In einem wichtigen Absatz (des Dokuments) signalisieren sie, daß sie die besondere Bedeutung der ­Union Südamerikanischer Nationen (­UNASUR) bei der Förderung von Frieden und Demokratie in der Region und beim Erreichen des Ziels nachhaltiger Entwicklung und der Beseitigung der Armut anerkennen.

Ich bin ziemlich ausführlich geworden, obwohl der Umfang und die Bedeutung des Themas eine Analyse weiterer wichtiger Fragen verlangte, die eine Antwort brauchten. In den kommenden Tagen sollte es mehr ernsthafte Analysen über die Bedeutung des Gipfeltreffens der BRICS geben. Es würde reichen, die Zahl der Einwohner Brasiliens, Rußlands, Indiens, Chinas und Südafrika zusammenzuzählen, um zu verstehen, daß sie derzeit die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren. In wenigen Jahrzehnten wird das Bruttoinlandsprodukt Chinas das der Vereinigten Staaten übertreffen. Viele Staaten ordern bereits Yuans und nicht mehr Dollars, darunter nicht nur Brasilien, sondern mehrere weitere wichtige Länder Lateinamerikas, deren Produkte wie Soja und Mais in Konkurrenz zu denen aus Nordamerika stehen. Der Beitrag, den Rußland und China in Wissenschaft und Technik sowie zur wirtschaftlichen Entwicklung Südamerikas und der Karibik leisten können, ist entscheidend.

Die großen Ereignisse der Geschichte vollziehen sich nicht an einem einzigen Tag. Gewaltige Prüfungen und Herausforderung von zunehmender Komplexität zeigen sich am Horizont. Es ist an der Zeit, die Realitäten etwas besser kennenzulernen.

[Übersetzung: André Scheer; Redaktion: Klaus Fischer]

* Der Text erschien in der kubanischen Tageszeitung Granma. Er wurde für jW gekürzt.

Aus: junge Welt, Donnerstag 24. Juli 2014



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