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Globalisierung: Über die Kristallisation von Kämpfen

Wie können Strategien gebildet werden, um die Welt zu verändern? Ulrich Brand (Uni Kassel) im Interview

Am 30. Januar erschien in der Online-Ausgabe der Wiener Zeitung "Der Standard" (www.derStandard.at) ein Interview mit Dr. Uli Brand von der Universität Kassel (Fachbereich 5: Sozialwissenschaften). Wir dokumentieren das Gespräch, das während des Weltsozialforums in Porto Alegre aufgenommen wurde.

Ulrich Brand arbeitet an der Universität Kassel im Fachgebiet Globalisierung und Politik. Er ist politisch aktiv in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO), einem Dachverband von 150 "Dritte Welt"-Aktionsgruppen in Deutschland und koordiniert den wissenschaftlichen Beirat von Attac Deutschland. Beim Weltsozialforum hat er bei zahlreichen Seminaren und Vorträgen zum Thema soziale Kämpfe und demokratische Alternativen gegen die neoliberale Dominanz mitgewirkt. Mit Ulrich Brand sprach Caroline Ausserer

derStandard.at: Die soeben besuchte Veranstaltung hieß "Herausforderungen im internationalen Kontext". Was wären Ihre Herausforderungen im internationalen Kontext?

Ulrich Brand: Es ist ganz vielfältig. Wir diskutieren hier Strategien und die müssen konkret umgesetzt werden. Es war interessant zwischen Immanuel Wallerstein und mir das Einverständnis zu einem Punkt und zu sehen, dass das auch beim Publikum gut ankam: Wir können keine Großstrategie und keinen Masterplan entwickeln.

derStandard.at: Wie können Strategien "für eine andere Welt", wie es im Motto des Weltsozialforums heuer zum fünften Mal heisst, entwickelt werden?

Brand: Es ist wichtig festzuhalten, dass Regeln verändert werden. Also man kann nicht mehr sagen, wir sind jetzt ganz autonom und wir verändern die Welt von unten und uns interessiert der Staat und das Kapital gar nicht. Das ist so ein bisschen die These, hier prominent von John Hallaway (marxistischer Ökonom aus Schottland, Anmerkung der Redaktion) vertreten, der hier ist und viele Veranstaltungen macht.

Man muss schon ernst nehmen, dass es auch um Regeln geht und dass heute unter neoliberalen und neoimperialistischen Vorzeichen Regeln verändert werden sollen. Das ist die WTO (Welthandelsorganisation, Anmerkung der Redaktion) vor allem, aber auch in den Ländern, wenn geistiges Eigentum gesichert wird, wenn privatisiert wird, das sind ja Regeln, die die Lebensverhältnisse von Menschen betreffen. Das ist eine Front, eine wichtige Achse, wo man Strategien bilden kann.

Die andere ist den Staat affirmativ als Regulativ zu sehen: Da gibt’s das "böse" Kapital, hier gibt’s die eigentlich "guten" Staaten. Aber nein, auch das ist kompliziert, denn natürlich sind die Staaten auch kapitalistisch, patriarchal und sexistisch organisiert und wie geht man nun damit um im konkreten Strategiebilden? Das ist so eine zweite ganz wichtige Herausforderung.

derStandard.at: Was wäre denn der Zwischenweg zwischen diesen beiden Achsen?

Brand: Na ich glaube, dass man immer ganz konkret die einzelnen Verhältnisse diskutieren muss: Beispiel Deutschland, Attac, die wollten Strategien machen, etwas mit den Gewerkschaften zusammen machen, die wollen Hartz IV verändern. Dann muss man das Verhältnis zum Staat anders reflektieren als zum Beispiel in einem Land wie Argentinien: Krise 2001, da rekonstruiert sich ein Staat relativ brutal und korrupt über eine peronistischen Struktur.

Wie gehen Bewegungen da mit Staat um? Dabei stehen eine eher relativ stabile Situation, wie jene in Deutschland, einer sehr unstabilen, wie jene in Argentinien gegenüber. Und das muss man konkret diskutieren und da kann man nicht sagen, der Staat ist gut, der Staat ist schlecht. Ich will damit sagen, dass es wichtig ist, jeden Kontext beim Strategiebilden konkret miteinzubeziehen und nicht eine generelle Theorie entwickeln zu wollen.

derStandard.at: Wie sehen Sie die Rolle des Forums, welche Kapazität trägt es in sich?

Brand: Es hat ganz verschiedene Funktionen. Die eine ist, ich nenne sie Identititätsbildung. Da kommen Menschen hin, davon kommen Menschen zurück; das sind ja nicht nur die 150.000 Leute, die hier sind, sondern ich hab jetzt schon x-Vorträge nach dem Forum und soll dort über das Forum erzählen. Es gibt eine Identitätsbildung: "Wir= globalisierungskritische Bewegung". Mit einer Gefahr, dass man mit dem "Wir" auch viele Widersprüche und Spannungen ausblendet, aber erstmal halte ich das für wichtig. Zweitens ist es natürlich ein Erfahrungsaustausch.

Enorm, was man hier mitkriegt, was an Auseinandersetzungen, an Kämpfen in anderen Ländern läuft, das kriegt man so ja kaum mit. Na gut, in Europa vielleicht beim Europäischen Sozialforum. Das dritte ist, ich würde das die Kristallisation von Kämpfen nennen.

Also hier kommt was zusammen, das sind nicht die Kämpfe, wir repräsentieren hier nicht die globale globalisierungskritische Bewegung, aber es kommt was zusammen und geht verändert aus dem raus. Und der vierte Punkt ist natürlich ganz klar: Strategiebildung. Nun gibt’s auf einer Seite eine große Strategiebildung; es wird ja wieder am Ende die Vorschläge geben, um als Weltsozialforum als weltweite Bewegung weiterhin aktiv zu sein, aber es wird auch enorm viele kleine Strategiebildungen geben.

derStandard.at: Welche Erwartungen sezten Sie in das Forum und wie wird es mit dem Forum weitergehen?

Brand: Ich glaube, das Forum muss aushalten, dass in einer Welt in der ganz viel dringend ist, ganz viel ganz radikal verändert werden muss, es so schnell nicht geht. Dass man sozusagen nicht das Forum in einen Aktionsraum aktivistisch umwandeln kann, sondern dass es ein Reflexionsraum bleibt, in dem ganz viel geschehen muss, indem in den Ländern auch viel Bewegung, viel mehr noch als heute, entstehen muss, aber auch dass man nicht so tut, als wenn man von oben Bewegung ersetzt, die es von unten gar nicht gibt. Und diese Spannung auszuhalten, das halte ich für gut, es sozusagen als Raum zu lassen und es nicht aktivistisch umzudeuten, auch wenn es "necesidades" (Notwendigkeiten, Anmerkung der Redaktion) gibt. Das halte ich für den zentralen Punkt.

Aus: Der Standard (Online), 30. Januar 2005
Im Internet: www.derstandard.at


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