Die Entfremdung durchbrechen
Jean Ziegler über den Hass auf den Westen, Hunger als Völkermord und sich regenden Widerstand *
»Il faut écrire tout ça.« Das muss man alles aufschreiben, sagte Simone de Beauvoir zu ihm, als er aus dem Kongo, wo gerade Patrice Lumumba ermordet worden war, nach Paris zurückkehrte. Die Aufforderung der Philosophin, der er auch die Transkription seines Vornamens Hans in Jean verdankt, hat er fortan beherzigt. Egal, auf welchem Erdteil und in welchem Land der Schweizer Soziologe Jean Ziegler Unrecht und Verbrechen wahrnimmt – er klagt an. »Warum ich schreibe? Aus Zorn!«, bekannte er einst. Mit dem im September erneut in den UNO-Menschenrechtsrat gewählten Kapitalismuskritiker sprach Karlen Vesper.
Herr Ziegler, Ihr Buch »Der Hass auf den Westen« hat vor Jahren für große Aufmerksamkeit gesorgt. Ist dieser Hass derweil besänftigt?
Im Gegenteil. Nach wie vor erleben und erleiden die Völker der Dritten Welt die Doppelzüngigkeit der westlichen Herrschaftsmächte. Sie werden von den USA und der Europäischen Union wegen Verletzung der Menschenrechte getadelt, obgleich diese selbst massiv Menschenrechte verletzen. Die USA haben die Folterkonvention aufgekündigt, Guantanamo ist noch immer nicht geschlossen. Bagram, das größte Militärgefängnis der Welt, unter Bush junior in Afghanistan eingerichtet, ist immer noch in Betrieb.
Das Martyrium des palästinensischen Volkes geht weiter. US-Außenminister John Kerry treibt die Palästinenser an den Verhandlungstisch, während Israel den Land- und Wasserraub fortgesetzt – mit Billigung von Washington. Die USA legen kein Veto ein. Israel erhält jährlich drei Milliarden Dollar von Washington. Die Doppelzüngigkeit des Westens wird immer unerträglicher.
Wäre dies anders, wenn sich mehr westliche Regierungen für die Verbrechen während ihrer Kolonialherrschaft über Völker des Südens entschuldigt hätten?
Als der algerische Präsident Bouteflika 2007 Sarkozy zu Erdölverhandlungen empfing, erwartete er eine Entschuldigung für die Massaker der französischen Kolonialarmee und Legionäre. Doch Sarkozy sagte nur: »Ich bin nicht hier wegen der Nostalgie.« Konsequent brach Bouteflika die Verhandlungen ab: »Für mich kommt das Erinnern vor dem Geschäft.« Ein Beispiel für die revolutionäre Kraft des Gedächtnisses.
Unter »Westen« verstehen Sie die Regierungen?
Nicht nur. Vor allem die Diktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Laut Statistik der Weltbank kontrollieren die 500 größten transnationalen Privatkonzerne zusammen 52,8 Prozent des Bruttoweltproduktes, also aller in einem Jahr produzierten Reichtümer. Sie haben eine Macht, wie sie kein Kaiser, kein König, kein Papst je hatte. Und das sind zumeist westliche Oligarchien. Sie entziehen sich jeglicher Kontrolle – staatlicher, parlamentarischer, gewerkschaftlicher, zivilgesellschaftlicher. Sie funktionieren nach einem einzigen Geschäftsprinzip: dem der Gewinnmaximierung.
Unglaubliche Profite wandern in die Taschen weniger. Sie sind hauptsächlich verantwortlich für das fürchterliche Elend in der südlichen Hemisphäre. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 57 000 Menschen sterben täglich an Hunger. Fast eine Milliarde der 7,5 Milliarden Menschen auf der Welt sind schwerst unterernährt, laut FAO.
Obwohl es genug Nahrung gibt.
Laut World Food Report könnten angesichts der hoch entwickelten Produktivkräfte problemlos zwölf Milliarden Menschen ausreichend ernährt werden, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Es gibt keinen objektiven Mangel wie in vergangenen Jahrhunderten. Also muss man von Völkermord sprechen. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet. Diese kannibalische Weltordnung produziert und potenziert natürlich Ablehnung und Hass. Sie wird von den Völkern des Südens nicht mehr akzeptiert. Sie ist illegitim und muss gestürzt werden.
Hilft da Hass? Von dem profitieren nur Fundamentalisten, deren Terror zumeist Unschuldige trifft.
Sartre hat gesagt: »Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.« La petite différence: nicht wer, sondern was sie unterdrückt. Der Terrorist sagt: Christen und Juden müssen getötet werden. Nein, alle Menschen, ob Christen, Juden, Muslime, Hinduisten, Buddhisten oder Atheisten leiden unter der strukturellen Gewalt der kannibalischen Weltordnung. Es ist auch ganz gleichgültig, was der Chef von Siemens, Nestlé oder der Deutschen Bank subjektiv denkt. Er verkörpert das System, ist aber selbst austauschbar und wird ersetzt, wenn die Rendite nicht mehr steigt.
Am Ende Ihres jüngsten Buches »Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt« zitieren Sie aus einem Lied von Mercedes Sosa: »Nur eines erbitte ich von Gott: Dass der Schmerz mich nicht gleichgültig lasse ...« Ist Gleichgültigkeit und Ignoranz schlimmer als Hass?
Am schlimmsten ist die Entfremdung. Wer der neoliberalen Wahnidee glaubt, dass Geschichte nicht von Menschen, sondern von den Kräften des Marktes gemacht wird, der stützt das System des Raubtierkapitalismus, macht sich zum Komplizen von Mördern. Der Markt ist kein autonomes meta-soziales Geschichtssubjekt, wie die neoliberalen Ideologen und Apologeten uns weismachen wollen: Nicht der Markt entscheidet die De-Lokalisation der deutschen Industrie, die Abwanderung von Arbeitsplätzen nach Taiwan oder in die Freiproduktionszonen in China.
Mit dieser Mär stehlen sich die Verantwortlichen aus ihrer Verantwortung. Und die ihnen glauben, sind mit schuld an ihrer Misere?
In Dostojewskis »Die Brüder Karamasow« steht der Satz: »Jeder ist verantwortlich für alles vor allen.« Für jedes Kind, das an Hunger stirbt, gibt es einen Verantwortlichen. Die mörderischen Mechanismen sind identifizierbar. Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel ist eine Plage.
In der Finanzkrise 2008/09 haben die Hedgefonds 85 000 Milliarden Dollar Vermögenswerte vernichtet. Nun sind die Spekulationshalunken von den Finanz- an die Rohstoffbörsen gewandert, insbesondere die Agrarbörsen. Dort spekulieren sie ganz legal auf Mais, Reis, Getreide, die Grundnahrungsmittel, die 75 Prozent des Weltkonsums ausmachen. Sie erzielen astronomische Profite. Die Preise werden in die Höhe getrieben. Der Weltmarktpreis für Mais ist in den letzten fünf Jahren um 63 Prozent gestiegen, die Tonne Weizen hat sich verdoppelt und um 31,8 Prozent stieg der Preis von Reis. Die Milliarde Menschen in den Slums der Megastädte, die mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag überleben müssen, können sich Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Hungertod ist sehr qualvoll. Hunger ist ein organisiertes Verbrechen. Hunger ist Völkermord.
Ein Völkermord, für den sich der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag nicht zuständig fühlt.
Vor Gericht müssten auch jene, die Hunderte von Millionen Tonnen Nahrungsmittel verbrennen, um Agrotreibstoff herzustellen. Das ist auch ein Verbrechen. Ebenso Agrardumping. In der Europäischen Union wird die Landwirtschaft hochsubventioniert. Deren Produkte überschwemmen die afrikanischen Märkte. In Bamako können sie, je nach Saison, deutsches, französisches, spanisches oder griechisches Gemüse, Früchte und Geflügel für die Hälfte des Preises gleichwertiger afrikanischer Inlandsprodukte kaufen. Ein paar Kilometer weiter rackert sich ein Bauer mit seiner Frau und seinen Kindern zehn Stunden unter sengender Sonne ab und hat doch nicht die geringste Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen. Die Kommissare in Brüssel fabrizieren Hunger.
Hungerflüchtlinge wollen sie aber nicht anerkennen.
Das gehört zur schizophrenen, total verlogenen Politik der EU. Mit militärischen Mitteln werden die Hungerflüchtlinge zurückgetrieben, werden die Südgrenzen Europas geschlossen, lässt man Menschen im Meer ertrinken.
Was können wir tun?
Wir müssen die Entfremdung durchbrechen. Ein Aufstand des Gewissens tut not. Man könnte gleich morgen den Bundestag zwingen, die Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel zu verbieten. Hunderte Millionen Menschen wären gerettet. Es gibt keine Ohnmacht in Demokratien. Der Gegner scheint zwar unglaublich stark. Der Kapitalismus in seiner paroxystischen letzten Phase, der Weltdiktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals, hat unglaubliche Macht angehäuft, dominiert und kontrolliert alle Lebensbereiche. Das System scheint übermächtig. Aber auch wir haben Waffen. Und wir sind es den Armen im Süden schuldig, sie nicht im Stich zu lassen. Im Namen der Gerechtigkeit und Menschenwürde.
Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht. Das Recht auf Leben ist ein Menschenrecht. Widerstand regt sich im sahelischen und südlichen Afrika, in Madhya Pradesch und im Delta des Ganges. Überall mobilisieren, organisieren und widersetzen sich Bauern, Viehzüchter, Fischer den Beutejägern aus dem Westen. Sie brauchen unsere Solidarität.
Sie selbst haben vielfach Hass auf sich gezogen, sind in Ihrer Heimat als »Nestbeschmutzer« und »Landesverräter« beschimpft worden – wegen Ihrer Bücher über den Finanzplatz Schweiz ...
Im weltweiten kapitalistischen System spielt die Schweizer Finanzoligarchie eine zentrale Rolle – und zwar die eines Hehlers, die sie durch ihr krankhaft aufgeblasenes Bankensystem und solch »grandiose« Erfindungen wie das Bankgeheimnis und Nummernkonto vorzüglich erfüllt. Das hat natürlich einigen nicht gefallen. Aber auch mein Buch »Die Schweiz, das Gold und die Toten« nicht, weil ich darin die Komplizenschaft der »helvetischen Hehler« mit dem Hitler-Regime nachwies – sowohl bei der Enteignung der Juden wie auch der Verlängerung des Eroberungs- und Vernichtungskrieges Nazideutschlands durch das Waschen von Raubgold.
Für Tatsachen wurden Sie mit Prozessen überzogen?
Ja. Und meine parlamentarische Immunität wurde aufgehoben.
Hassen Sie Ihre Ankläger?
Nein. Das ist Klassenkampf.
Wenn Sie Ihre Kritik diplomatischer formulierten, würden Sie nicht alle Welt gegen sich aufbringen.
In Brechts »Die Gewehre der Frau Carrar« gibt es eine Szene, da ziehen junge Menschen in den Kampf. Eine Mutter ruft ihnen nach: »Seid vorsichtig!« Da dreht sich einer der Jungen um und sagt: »Vorsicht, Frau Carrar, hilft den Armen nicht.« Ich könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn ich nicht kämpfen würde.
* Aus: neues deutschland, Samstag, 21. Dezember 2013
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