Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Welt im Würgegriff

Glasperlen für die Armen: WTO-Konferenz auf Bali verspricht Entwicklungsländern "Handelserleichterungen". Diese wollen nicht an die Leine der Konzerne

Von Klaus Fischer *

Die Globalisierung braucht den nächsten Schub. Geht es nach dem Willen der westlichen Industriestaaten, wird kommende Woche bei der Welthandelskonferenz die stagnierende »Doha-Agenda« neu belebt. Auf der indonesischen Insel Bali treffen sich vom 3. bis 6. Dezember Abgesandte aus 159 Staaten, um ein neues Abkommen zu verhandeln. Angeblich geht es vorrangig um Handelserleichterungen, insbesondere für Entwicklungsländer. Doch dahinter verbergen sich knallharte Machtfragen und eine kurze Leine, an die der Rest der Welt gelegt werden soll.

Am Dienstag beriet dazu in Genf der Generalrat der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO). Im höchsten Organ dieser Globalisierungsaufsichtsbehörde kam es zu keiner Einigung. Geplant war, ein »Bali-Paket« zu schnüren, das die Handelsminister der Mitgliedstaaten nur noch abnicken sollten. Das wurde erst einmal nichts. Zum Glück für einen großen Teil der Weltbevölkerung, denn die treibenden Kräfte hinter der Genfer UN-Spezialorganisation führen für sie nichts gutes im Schilde.

Globalisierungsgewinner

Im Grunde geht es den Vertretern der USA, Japans, Kanadas und der EU – der sogenannten Quad-Gruppe, einer Art Führungszirkel der WTO – um ein einziges, aber komplexes Ziel: Jedes Land der Erde unter die Herrschaft der Rechtsordnung des Westens, im Zweifel der USA zu stellen. Das beabsichtigte schon die Doha-Runde, und das zunächst auf Eis gelegte Bali-Paket ist der Versuch, es erneut anzugehen.

Und es ist durchschaubar. Deshalb bedarf es starker Anreize für die aus Sicht der Konzernlobby störrischen Staaten des globalen Südens. Dort gibt es gute Gründe, keine neue Büchse der Pandora zu öffnen, auch wenn bei der aktuellen Version das Übel nicht zuerst aus dem Behältnis steigt, sondern zuletzt. Zuvor enthält »Bali« vermeintliche Wohltaten: »Vereinfachungen bei der Zollabwicklung«, »Abbau von Handelshemmnissen im Agrarbereich für Entwicklungsländer« oder »zusätzliche Hilfsmaßnahmen für die am wenigsten entwickelten Staaten« (Least Developed Countries). Ärmere Länder dürften sogar für eine Übergangszeit Nahrungsmittel zu staatlich festgesetzten Preisen aufkaufen, um Reserven für die Versorgung der Bevölkerung anzulegen – ein dem Diktat der globalen Märkte widersprechendes, aber für viele Staaten existentielles Regulativ.

Keine Bonbons hat die mächtige Industriestaatenlobby hinsichtlich ihrer abgeschotteten und hochsubventionierten Agrarmärkte in petto – allenfalls ein paar unverbindliche Formulierungen. Statt der Hoffnung – wie im klassischen Behältnis der Pandora – präsentiert das »Bali-Paket« am Ende die Daumenschraube: Der »Rest der Welt« soll unter die Jurisdiktion des Westens – und damit unter die der multinationalen Konzerne gepreßt werden. Die – und ihre großen Eigner – sind die tatsächlichen Globalisierungsgewinner und so soll es auch aus deren Sicht auch bleiben. Nicht zuletzt an der Definition von »geistigem Eigentum«, also Patenten und solchen, die es sein wollen, war die Doha-Agenda bislang gescheitert. In der namensgebenden Stadt am arabischen Golf hatte der Westen unter dem Deckmantel der WTO im Jahr 2001 eine Großoffensive zur umfassenden Durchsetzung der Globalisierung begonnen. Ziel war es, sowohl die Regeln und Normen zu setzen, als auch – wie nebenbei – alles, was in den vermeintlich so unterentwickelten Landstrichen an Wertvollem existierte, mit einem Patentstempel der großen Konzerne zu versehen: Von der besonders wertvollen Kakaosorte bis zu traditionellen pflanzlichen Medizinprodukten. Dem konnten und wollten sich die Mehrzahl der Entwicklungsländer nicht unterwerfen. Würde Indien beispielsweise nicht die Patente westlicher Pharmariesen ignorieren und die Herstellung von Nachahmerprodukten zulassen, wäre die ohnehin hohe Sterblichkeitsrate der Bevölkerung deutlich höher.

Doha war auch ein Signal: Trotz der materiellen und monetarischen Dominanz des Westens hatten sich 2001 die globalen Kräfteverhältnisse geändert. China, selbst auf dem Weg zu einer kapitalistischen Supermacht, agierte geschickt als Interessenvertreter der Entwicklungsländer. Es manövrierte sich auch politisch in jene Zwitterrolle, die es sozialökonomisch einnimmt. Schwellenländer wie Brasilien, Indien, Mexiko, Indonesien oder auch die abgestürzte Supermacht Rußland, bildeten einen informellen Block gegen die USA/EU-Dominanz. Mit wechselnden Erfolgen. Und derben Niederlagen.

Als Plus konnten die neuen Mächte verbuchen, daß die alten Industriestaaten weiterhin gezwungen waren, den Dialog zu suchen.

Machtfrage

Letztere ließen sich nicht nur diverse Tricks einfallen, ihre zwischenzeitlich schwindende Macht zu stabilisieren und wieder zu vergrößern – sie verfolgten eine umfassende Strategie: Doha wurde flankiert mit bilateralen Freihandelsabkommen. Damit sollte die lose Phalanx der Schwellen- und Entwicklungsländer aufgebrochen werden. Auch diese Form der »Zusammenarbeit« ist bestens geeignet, die Sozialgesetzgebung der beteiligten Staaten auszuhebeln. Nationales Recht muß sich neu geschriebenen Gesetzen beugen, deren Buchstaben nicht selten Konzernjuristen selbst am Laptop eingetippt haben. Unsere alte Erde wurde von den juristischen Eierköpfen und ihren Auftraggebern zum gigantischen Vermarktungsstadl herabgesetzt. Natürlich alles im Interesse von »Wachstum und Arbeitsplätzen«.

Deutlich scheint heute auch: Trotz Doha-Stillstand konnte der Süden das zeitweise Patt im Interessenkampf nicht halten. Entscheidend dafür war zweierlei: Das Agieren der US-amerikanischen und britischen Finanzmärkte (also der Institutionen, die nicht nur den akkumulierten Reichtum der »alten Welt« vermehren, sondern die auch noch das in gigantischen Massen neugeschaffene Geld der Zentralbanken in Kapital verwandeln sollen). Und das Wachstum etablierter und die Entstehung neuer Konzerngiganten, letztere vor allem in der Digitalwirtschaft. Trotz – oder möglicherweise gerade wegen – der globalen Finanzkrise (sie dauert seit 2007 an, und es sieht nicht nach einem baldigen Ende aus) stehen die Schwellen- und Entwicklungsländer wieder stärker unter dem Diktat Konzern-Amerikas und -Europas als 2001. Was nützen Wachstumsraten von zehn Prozent, wenn sie maßgeblich vom Kapitalexport der Industriestaaten (der ja großteils die Billionenerlöse der Ölscheichtümer mit einschließt) abhängen?

Und die Tendenz verstärkt sich: Die einstige »Dritte Welt« wird dauerhaft zur Werkstatt für Gemischtwaren – von Textilien über Standardelektronik, Billigautos bis zu chemischer Massenware. Sie bleibt zugleich Rohstoff- und Agrarlieferant – und nicht zuletzt Experimentierfeld für neue und veraltete Waffen. Für extraprofitable innovative Waren und Leistungen wie Spitzenelektronik, neueste Software, modernste Verfahrenstechnik, also alles, was man »Hochtechnologie« nennen könnte, sind sie lediglich Abnehmer oder, wie das Beispiel China immer noch zeigt, Auftragsfertiger der Weltkonzerne. Da ändern vermeintlich flugfähige Drohnen Pakistans oder »Stealth«-Flugzeuge Pekings – beides kürzlich stolz präsentiert – wenig. Es macht nur umso deutlicher, warum das große US-Kapital und dessen Gefolgsleute »geistiges Eigentum« als Kernfrage für ihre weitere Dominanz betrachten.

* Aus: junge welt, Donnerstag, 28. November 2013


Zurück zur Globalisierungs-Seite

Zurück zur Homepage