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WTO-Gipfel ohne Gewicht

Die Doha-Runde ist längst gescheitert, sagen Kritiker

Von Marc Engelhardt, Genf *

In Genf hat am Donnerstag (15. Dez.) der 8. WTO-Gipfel begonnen. Der Stillstand der vor zehn Jahren begonnenen Doha-Verhandlungen hat die einst mächtige Organisation so sehr paralysiert, dass kaum jemand das Treffen zur Kenntnis nimmt.

Zehn Jahre ist es her, dass die Welthandelsorganisation (WTO) im katarischen Doha ihre vollmundig »Entwicklungsrunde« getauften Verhandlungen für ein neues globales Freihandelsabkommen aufnahm. Die einen, allen voran die USA und die EU, lobten die Runde als einen Aufbruch in eine neue, gerechtere Welt. Die anderen, allen voran die zwei Jahre zuvor in Seattle erstarkten Globalisierungskritiker, verdammten die geplanten Handelserleichterungen als Anfang vom Ende gerade für die Entwicklungsländer. Solchen Streit wünschen sich wohl selbst eingefleischte Freihandels-Fans dieser Tage wieder zurück.

Denn die WTO und die seit 2007 ziellos mäandrierende Doha-Runde sind so sehr in der Bedeutungslosigkeit versunken, dass zur 8. Ministerkonferenz in Genf kaum Minister und ebenso wenig Vertreter von Nichtregierungsorganisationen angereist sind. »Die wahren Gefahren im Welthandel liegen inzwischen völlig woanders«, erklärt Peter Fuchs von der globalisierungskritischen Organisation PowerShift. »Die Zivilgesellschaft ist gut beraten, sich vorrangig um bilaterale Handelsabkommen zu kümmern, die derzeit von den USA, Deutschland und der EU vorangetrieben werden.«

In solchen Abkommen werden Fuchs zufolge etwa Klagerechte für transnationale Konzerne zugesichert, ein Recht, das bei den WTO-Verhandlungen nur mühsam ausgeschlossen werden konnte. Damit bewahrheitet sich, wovor der damalige WTO-Generaldirektor Supachai Panitchpakdi zum Auftakt der Doha-Runde gewarnt hatte: Ein Scheitern werde dazu führen, dass starke Ökonomien bilaterale Verträge mit armen Nationen schließen würden - zum Nachteil der Schwächeren.

Die Entwicklung zeigt zudem, dass die Doha-Runde längst gescheitert ist. »Es traut sich nur niemand, es zuzugeben«, sagt Tobias Reichert, Handels-Experte von Germanwatch. Er fordert die WTO-Mitglieder auf, das Scheitern einzugestehen und Verhandlungen unter neuen Vorzeichen einzuläuten. »Was wir brauchen ist kein neuer Ansatz zur weiteren Liberalisierung, sondern eine offene Debatte darüber, wie ein internationales Handelssystem aussehen muss.«

Daran aber haben die reichen Länder kein Interesse. Schon im Vorfeld scheiterte WTO-Generaldirektor Pascal Lamy mit Versuchen, Teile des Doha-Pakets abstimmungsfähig zu machen oder auch nur eine Agenda für ein weiteres Vorgehen abzustimmen. »Seit die Entwicklungs- und Schwellenländer es geschafft haben, innerhalb der Doha-Runde mehr Gewicht zu gewinnen und Forderungen durchzusetzen, ist das Interesse von EU und USA drastisch gesunken«, so Reichert.

Überschattet wird der Gipfel unterdessen von dem Vorwurf des UN-Sonderbeauftragten Olivier de Schutter, die WTO sei für die Nahrungsmittelkrise in Entwicklungsländern verantwortlich. »Schutzzölle, vorübergehende Importverbote, staatliche Ankäufe und gezielte Subventionen werden von immer mehr Experten als überlebenswichtige Maßnahmen für die Landwirtschaft in Entwicklungsländern anerkannt - doch die WTO-Regeln lassen den Regierungen zu wenig Raum, Maßnahmen zu ergreifen«, so de Schutter. Sein Bericht, in dem er im Detail darlegt, wie WTO-Regeln in den größtenteils importabhängigen Entwicklungsländern zu Nahrungsmittelengpässen führen, ist zwar schon einen Monat alt. Doch sein Sprengstoff ist so groß, dass Lamy die Vorwürfe zum Gipfelauftakt öffentlich zurückweisen musste.

* Aus: neues deutschland, 16. Dezember 2011


Russland in WTO aufgenommen **

Roter Teppich für Russland: Bei der Welthandelsorganisation wurde der Rohstoffriese als neues Mitglied begrüßt. Westliche Firmen hoffen auf bessere Geschäfte mit Moskau, allen voran Unternehmen in Deutschland. Genf/Moskau (dpa/nd) - Nach 18 Jahre währenden Verhandlungen ist Russland am Freitag als 154. Mitglied in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen worden. Regierungsvertreter zahlreicher Staaten hießen die Rohstoff- und Energiegroßmacht bei der 8. WTO-Ministerkonferenz in Genf willkommen. Zehn Jahre nach der Aufnahme Chinas ist Russland die letzte der großen Volkswirtschaften, die Mitglied der Handelsorganisation wurde. Allerdings muss Moskau die Übernahme der damit verbundenen Pflichten erst noch ratifizieren, bis spätestens 15. Juni kommenden Jahres.

Die Mitgliedschaft Russlands und die damit verbundene Anerkennung des internationalen WTO-Regelwerks sowie die Pflicht zur Öffnung der russischen Märkte wird nach Einschätzung des Bundeswirtschaftsministers Philipp Rösler (FDP) zu stabileren Rahmenbedingungen für Geschäfte mit Russland beitragen. »Das wird die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen beflügeln und für zusätzliche Impulse sorgen.« So sinkt der durchschnittliche Zollsatz Russlands für Importe von derzeit 10 auf 7,8 Prozent.

Dadurch könnten allein deutsche Firmen nach Schätzungen des Bundeswirtschaftsministeriums bei Geschäften mit Russland rund eine Milliarde Euro pro Jahr mehr verdienen. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft lobte die WTO-Aufnahme Russlands auch wegen des damit verbundenen »Modernisierungsdrucks«. Das Land werde sich neuen Standards und Regeln unterwerfen und transparenter mit Ausschreibungen für Geschäfte und mit Investoren umgehen müssen.

Mit Russland sind seit heute auch Montenegro, Samoa und der südpazifische Inselstaat Vanuatu neue Mitglieder der WTO, in der künftig zusammen mit Russland 157 Staaten vertreten sein werden.

** Aus: neues deutschland, 16. Dezember 2011


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