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Manie des Wachstums

Zum 20. Jahrestag seines Bestehens nahm das »Südwind-Institut für Ökumene und Ökonomie« auf einer Konferenz in Bonn die Lage der Weltwirtschaft kritisch unter die Lupe

Von Mona Grosche *

Die Eigentums- und Verteilungsstrukturen des kapitalistischen Systems müssen in Frage gestellt werden«, forderte Birgit Mahnkopf. Mit dieser Einleitung begann die Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin ihr Impulsreferat auf der Konferenz »Kurswechsel: Für eine gerechte Weltwirtschaft« am vergangenen Freitag in Bonn. Eingeladen hatte das Südwind-Institut für Ökumene und Ökonomie anläßlich des 20jährigen Jubiliäums der Einrichtung. Und die programmatische Themensetzung sprach für sich.

Ein solcher Kurswechsel sei für sie »nur schwer vorstellbar innerhalb des kapitalistischen Systems«, sagte Mahnkopf, die auch im wissenschaftlichen Rat des globalisierungskritischen netzwerkes ATTAC aktiv ist. Vielmehr forderte sie ein radikales Umdenken, weg von der Devise »More oft he same«. Statt weiter der »Manie des Wachstums« zu frönen, wie dies Welthandelsorganisation (WTO) und Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ihrer Ansicht nach gleichermaßen tun, setzt Mahnkopf auf eine Unterordnung der Wirtschaft unter gesellschaftspolitische Ziele über »autonome, partizipatorische und demokratische Prozesse«.

Sicherlich teilen nicht alle der rund 150 Teilnehmer aus Gewerkschaften, Kirchenkreisen und Politik Mahnkopfs Sichtweisen. Einig war man sich auf der Konferenz in der Exbundeshauptstadt am Rhein aber durchaus, daß – gerade angesichts der Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise – ein Umdenken in der globalen Ökonomie dringend erforderlich sei.

Seit 20 Jahren arbeitet Gastgeber Südwind mit Sitz in Siegburg bei Bonn an einem breiten Themenspektrum wie Frauen und Wirtschaft, Sozialstandards oder Klimagerechtigkeit. Dazu erstellt man wissenschaftliche Studien, organisiert Vorträge und führt Workshops durch. Die Vision, das Leitbild, das die Mitglieder des christlich orientierten Vereins eint, ist »wirtschaftliche, soziale und ökologische Gerechtigkeit weltweit«.

Dabei legt man besonderen Wert darauf, die Themen nicht nur ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu bringen, sondern aus den »Erfahrungen und Anliegen der Armen« für die Zukunft zu lernen. So ist es das erklärte Ziel des engagierten Siegburger Teams, zu aktuellen wirtschaftspolitischen Themen wie nachhaltigen Geldanlagen oder den Auswirkungen der Finanzkrise auf die Länder des Südens »Instrumente und Handlungsmöglichkeiten für entwicklungspolitische Organisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Politik und Unternehmen« zu entwickeln.

Das wurde auch bei der Konferenz in Bonn deutlich: Gewerkschafter, Politiker und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus Nord und Süd diskutieren mit Vertretern von Südwind über die globale Arbeitswelt und die Möglichkeiten eines anderen Wachstums. Dr. Aloys Tegera vom Pole-Institut in der Demokratischen Republik Kongo berichtet von seiner Heimatstadt Goma, die während vieler Jahre des Krieges ihre Einwohnerzahl auf mittlerweile rund eine Million verfünffacht hat. Einen »richtigen Job« haben davon gerade mal zehntausend. »Sie haben keine Arbeit, aber sie verhungern nicht und sterben nicht«, so Tegera. Dank einer »informellen Solidarität« untereinander schafften es die Menschen Gomas, gemeinsam zu überleben.

Namrata Bali aus Indien berichtet ebenso wie Tegera über die Kraft des informellen Sektors. Mit ihrer Gewerkschaft SEWA (Self Employed Womens Association) beschreiten Bali und ihre Mitstreiterinnen neue Wege der Organisierung. »Klassische Gewerkschaftsmodelle« würden auf dem Subkontinent nicht greifen, erläutert sie: »Der Anteil des informellen Sektors beträgt in Indien rund 93 Prozent, davon werden 60 Prozent der Arbeit von Frauen zu Hause erledigt«. Man habe eigene Strategien für die (Schein)-Selbständigen entwickelt und organisiere die rund 1,3 Millionen, meist weiblichen, Mitglieder in neun indischen Unionsstaaten in Kooperativen, die eine gewisse finanzielle und soziale Absicherung bieten. Eine Idee, die von Ingeborg Wick vom Südwind-Institut als beispielhaft angesehen wird: »Wir müssen uns selbst zusammenschließen, auch hier«, forderte sie unter dem Beifall der Konferenzteilnehmer und mahnte an, es sei »allerhöchste Zeit, daß sich die Gewerkschaften anderen Sektoren, wie dem der prekären Arbeit, öffnen«. Ob das von ihr geforderte »Empowerment«, also die Selbstermächtigung benachteiligter Menschen, weltweit tatsächlich voranschreiten kann, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall dürfte sich Südwind auch in den nächsten Jahrzehnten dafür stark machen, daß die Weltwirtschaft auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet wird und nicht umgekehrt.

* Aus: junge Welt, 11. Mai 2011


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