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Finanzkapital an die Kette

Joseph Stiglitz definiert eine neue Marktwirtschaft

Von Andreas Form *

Die vielen publizistischen Schnellschüssen zur Krise entwickeln sich mittlerweile zu einer wahren Blase von Deutungen. Mitten in der ein ganzes Euro-Land betreffenden nächsten Turbulenz ist aber wirtschaftswissenschaftlicher und politischer Sachverstand gefragt. Die selbsternannten Interpreten eines Wirtschaftssystems, das »Kapitalismus« zu nennen wir uns schon fast abgewöhnt hatten, setzen auf den Katastrophen-Voyeurismus. Die Schatten dieser Bücherstapel drohen ein Werk zu verdecken, das mit Urteilskraft und nicht-ideologischen Theorieansätzen »vom Versagen der Märkte« handelt und zu einer »Neuordnung der Weltwirtschaft« beiträgt.

Joseph Stiglitz war Chefvolkswirt bei der Weltbank, leitet die UN-Kommission zur Reform der internationalen Geld- und Finanzmärkte und lehrt an der Columbia University in New York Volkswirtschaftslehre. 2001 wurde er mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Sein temperamentvolles Buch »Im freien Fall« steht in der Tradition von Keynes. Stiglitz geht den Ursachen der jüngsten Krise auf den Grund, ordnet sie ein in die Kette der Beweise von Marktversagen in der Vergangenheit und rechnet mit der Ideologie ab, die er bei Reagan und Thatcher am besten aufgehoben fand: Die Entfesselung der Märkte, als »Deregulierung« schöngeredet, und die ungleiche Verteilung von Wohlstand waren ja keine unbeabsichtigten Folgen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik sondern ihr ausdrückliches Ziel. Der Autor denunziert diese ungerechte, unsoziale und wirtschaftlich unvernünftige Zielsetzung.

In den ersten Kapiteln beschreibt Stiglitz das Entstehen und die Auswirkungen der US-amerikanischen Hypothekenkrise als Anstiftung der kleinen Leute und des Mittelstandes zum Schuldenmachen. Es war eigentlich klar, dass die Menschen sie aus ihren seit Jahrzehnten nicht mehr gestiegenen Einkommen nicht würden zurückzahlen können. Er zieht Parallelen zwischen der Verschuldung von ganzen Staaten wie von Privatpersonen und berechnet die Vernichtung von Vermögenswerten gerade der Bevölkerungsschichten und armen Völker, die von deregulierten Märkten noch nie profitiert haben. Sodann definiert er eine »neue« Marktwirtschaft, in der dem Staat und den internationalen Institutionen wieder regulierende, diesmal vielleicht sogar wirksame Funktionen übertragen werden. Er sieht die Möglichkeit, zu einem globalen Wohlstand zu gelangen, wenn die internationalen Finanzmärkte an die Kette gelegt und wenn weltweit Arbeitsplätze gesichert werden. Dazu seien die meisten Maßnahmen des Krisenmanagements der vergangenen 18 Monate ungeeignet, sogar kontraproduktiv, weil sie öffentliche Mittel in die Aufrechterhaltung überholter Strukturen geleitet hätten. Stiglitz ruft dazu auf, die »Nahtoderfahrung« der letzten Krise als Chance zu begreifen und beendet sein Buch mit einer wissenschaftlich fundierten Vision. Seine jahrzehntelange Praxis bewahrt den Autor vor Traumtänzereien.

Stiglitz entlässt seine Kollegen von Wissenschaft und Forschung nicht aus der Verantwortung. Ein eigenes Kapitel ist dem Nachholbedarf der Wirtschaftswissenschaften gewidmet, die grob versagt haben. Die Abrechnung mit der neoliberalen Theorie rechtfertigt auch einen Ton, der den Anflug von Rechthaberei nicht nur erträglich, sondern auch sympathisch macht.

Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Siedler, München. 448 S., geb., 24,95 €.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Juni 2010


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