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Schuldenkrise erreicht den Norden

Rainer Falk über die Lage der Weltwirtschaft und den Stand der Finanzmarktreform *


Rainer Falk ist Herausgeber des Informationsbriefs Weltwirtschaft & Entwicklung (www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org). Der Soziologe verfolgt seit vielen Jahren die Entwicklung beim Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und den G7/G8-Gipfeln. Martin Ling befragte Falk für das Neue Deutschland (ND) über die dieses Wochenende anstehende Frühjahrstagung von IWF/Weltbank. Falk kommentiert die Tagung in Washington in seinem Blog (www.baustellen-der-globalisierung.blogspot.com).

ND: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges liegt laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) das Durchschnittsniveau der Staatsverschuldung der Industriestaaten bei über 100 Prozent. Droht eine Schuldenkrise der Ersten Welt?

Falk: Ja. Gewissermaßen ist die Schuldenkrise aus dem Süden in den Norden zurückgekehrt. Viele Länder Europas haben sich nach der letzten Finanzkrise mit einem Schuldenberg vorgefunden. Der aus Zins- und Tilgungszahlungen bestehende Schuldendienst wird durch die von den Rating-Agenturen herabgestufte Kreditwürdigkeit zusätzlich in die Höhe getrieben. Auch Industrieländer stehen vor der Frage, ob es nicht besser wäre, einen Schuldenschnitt zu machen, sprich Gläubiger zum teilweisen Forderungsverzicht zu zwingen, um einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen. Das betrifft keineswegs nur die ärmeren Länder Südeuropas, die sogenannten PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien, engl.: Schweine) wie man diskriminierend sagt, sondern auch die USA, die in Sachen Verschuldung nicht besser dastehen als Portugal, wie der IWF kürzlich kritisiert hat.

In Bezug auf die globale Konjunktur ist der IWF trotz dieser Schuldenproblematik und trotz steigenden Ölpreises optimistisch und sieht die Krise überwunden. Ist dieser Optimismus berechtigt?

Ja und nein. Die Situation ist paradox. Auf der einen Seite sind die Wachstumsraten wieder auf dem Vorkrisenniveau angelangt: rund vier Prozent globales Wachstum, bei den Schwellenländern im Schnitt das Doppelte, bei den Industrieländern die Hälfte. Selbst Afrika ist wieder auf dem Vorkrisenniveau beim Wachstumstempo angelangt. Andererseits steigt die Unwägbarkeit der Entwicklung. Im neuen World Economic Outlook des IWF, in dem die Wirtschaftsaussichten prognostiziert werden, wird ausgeführt, dass zusätzliche Risikofaktoren entstanden sind: stark schwankende Rohstoffpreise, unberechenbare Finanzströme, die Auf und Ab erzeugen. Phasen, in denen schnell Kapital in ein Land strömt und sich dann schnell wieder zurückzieht und damit Schuldenkrisen auslöst. Die passable Entwicklung der Weltkonjunktur trifft somit auf neue Risikofaktoren.

Was wird gegen die Handelsungleichgewichte getan, die seit vielen Jahren angeprangert werden? China und Deutschland mit ihren exorbitanten Überschüssen, die USA mit ihrem gewaltigen Defizit. Ist Besserung in Sicht?

Nicht wirklich. Bisher ist noch nicht einmal definiert, wann ein Ungleichgewicht zum Problem erklärt wird. Und ob die G20-Finanzminister, die sich ab Freitag in Washington treffen, auf diesem schwierigen Weg der Definition eines Problems, was seit Jahren offenkundig ist, weiterkommen, steht in den Sternen.

Ende 2008 wurde nach dem Beginn der Finanzkrise die Zielsetzung formuliert: Kein Markt, kein Produkt und kein Akteur sollen künftig ohne Aufsicht agieren können. Was ist daraus geworden?

Das erweist sich immer mehr als Schall und Rauch. Die Staaten sind darum bemüht, möglichst schnell zur Tagesordnung überzugehen. Das Schattenbankensystem ist nach wie vor völlig unreguliert. Es gibt einige Maßnahmen, beispielsweise erweiterte Rückstellungsvorschriften für private Banken, aber es gibt keine umfassende Regulierung der Finanzmärkte. Es grenzt an Ironie, wenn der IWF als Hüter der Liberalität in Person seines Direktors Dominique Strauss-Kahn inzwischen zu den wenigen gehört, die die Forderung aufstellen, auch die Schattenfinanzmärkte einem Regulationsrahmen zu unterwerfen und davor warnen, dass wir sonst bald eine erneute Finanzkrise zu gewärtigen haben. Die Gefahr ist durchaus real, auch wenn sich nicht voraussagen lässt, wann und wo es losgeht.

Zahlen und Fakten: IWF und Weltbank

Am 22. Juli 1944 wurden im US-amerikanischen Bergdorf Bretton Woods die Grundpfeiler der Finanzordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzt: der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank.

Der IWF wurde als Hüter eines globalen Währungssystems mit festen, an die Leitwährung US-Dollar geknüpften Wechselkursen, geschaffen. Das System scheiterte 1973, weil USA-Präsident Richard Nixon im Zuge des teuren Vietnam-Krieges die Golddeckung aufhob, die seit Bretton Woods garantierte, dass Dollars von den USA jederzeit zu einem festen Kurs in Gold umgetauscht würden. Die Wechselkurse wurden flexibilisiert und der Dollarkurs stürzte ab.

Beim Beitritt zum IWF zahlt jedes Land eine gewisse Geldsumme, die sogenannte Quote. Die Höhe der Quote wird anhand der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Staates berechnet. Gleichzeitig wird durch diese Quote bestimmt, inwieweit der jeweilige Staat ein Mitspracherecht bei Entscheidungen hat und wie groß sein Kreditlimit ist. Trotz einer Stimmrechtsreform zugunsten von Schwellenländern dominieren die Industriestaaten. Die USA haben mit ihrem Anteil nach wie vor Vetorecht. ML



* Aus: Neues Deutschland, 15. April 2011


Erholung in zwei Geschwindigkeiten

Der IWF erwartet stärkeres Wachstum in Deutschland und Russland / Krisenländer erholen sich kaum

Von Hermannus Pfeiffer **


Europa und die Welt driften auseinander. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat seine Prognose für das Wirtschaftswachstum in Deutschland und in Russland nach oben korrigiert. Dagegen stagniert die Wirtschaft in den Krisenländern Südeuropas. Das geht aus dem neuen IWF-Jahresbericht »World Economic Outlook« hervor.

Für Deutschland erwarten die Ökonomen des IWF ein Wachstum des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 2,5 Prozent in diesem und von 2,1 Prozent im kommenden Jahr. Damit liegt der Exporteuropameister auch beim Wachstum an der Spitze im Euro-Raum. Auch für Osteuropa stehen die Zeichen auf schwungvolles Wachstum. Besonders im größten Land Europas: Das BIP-Wachstum für Russland korrigierte der IWF für dieses Jahr nach oben – auf 4,8 Prozent. Schon 2010 war das Bruttoinlandsprodukt des Rohstofflieferanten um vier Prozent gestiegen.

Dagegen fallen die Krisenländer in Europa deutlich ab. Spanien (+0,8%) und Irland (+0,5%) werden in etwa dieselbe Menge an Waren und Dienstleistungen herstellen wie im Vorjahr. Die Volkswirtschaften Portugals (-1,5%) und Griechenlands (-3,0%) könnten sogar schrumpfen.

Die Weltwirtschaft werde in diesem Jahr um 4,4 Prozent und im kommenden Jahr um 4,5 Prozent zulegen, prognostiziert der Fonds. Für den Welthandel wird sogar ein Plus von 9,0 Prozent erwartet. Doch auch hier gibt es eine »Erholung der zwei Geschwindigkeiten«, so der Titel des Weltwirtschaftsausblickes des IWF. Während die Industrieländer des Nordens »nur« um 2,4 Prozent zulegen, werden 7,5 Prozent für die Schwellenländer des Südens vorhergesagt.

Nicht so in Libyen. Dessen Wirtschaft war im vergangenen Jahr für Nordafrika noch überdurchschnittlich um 4,5 Prozent gewachsen. Für dieses Jahr gibt der IWF keine Prognose ab. Der Aufruhr dürfte wie in Tunesien und Ägypten zwei, drei Wachstumspunkte kosten.

Anders als viele Institute, Banken und internationale Organisationen in diesem Frühjahr hat der IWF seine Vorhersagen insgesamt nicht nach oben korrigiert und warnt vor Risiken. Die japanische Tragödie gilt auch ökonomisch als unkalkulierbar. Noch andere Großrisiken drohen, wie die Unruhen in Arabien und Nordafrika mit dem Krieg in Libyen. Es geht mal wieder ums Öl. Der IWF betrachtet einen längerfristigen Anstieg des Ölpreises als größtes Risiko. Allerdings hofft der IWF, »dass die gestiegenen Rohstoffpreise die Erholung nicht aus dem Gleis werfen«.

Als drittes Großrisiko gilt die Staatschuldenkrise im Euroraum. Auch weiß niemand, ob in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren nicht noch weitere unvorhergesehene Ereignisse dieser Art passieren.

Zudem schwelen altbekannte Brandherde weiter, wie Chinas riesige Devisenreserven von 3,045 Billionen US-Dollar und die Schuldenkrise der USA. Deren Staatsschuld wird bald auf rund 120 Prozent des BIP wachsen – griechische Dimensionen und weit höher als in Portugal. Und der Riss, der Gewinner von Verlierern trennt, klafft immer weiter auseinander. Auch dies zeigt der neue Weltwirtschaftsausblick des IWF. Die EU polarisiert sich, statt zusammen zu wachsen. Und die Internationalisierung des großen Kapitals aus den USA, der EU und Japan geht einher mit der Verlagerung der Wachstumspole in die ehemalige Peripherie, nach China und Indonesien, Brasilien und Südafrika. In diesen und um diese Schwellenländer herum herrscht oft bittere Armut.

Angesichts der unsicheren Lage warnt der IWF die entwickelten Volkswirtschaften davor, zu früh die Notbremse zu lockern. Ohne die Europäische Zentralbank (EZB) beim Namen zu nennen, ist dies eine Schelte der EZB, die als erste der großen Notenbanken am Donnerstag ihren Leitzins heraufsetzte. Leitzinserhöhungen könnten den zarten wirtschaftlichen Frühling austrocknen, bevor der Sommer kommt.

** Aus: Neues Deutschland, 15. April 2011


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