Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wir sind schon auf dem Weg in eine Neue Welt

Jeremy Rifkin ist überzeugt: Nur die Dritte Industrielle Revolution rettet das Überleben der Menschheit, Regenerierbare Energien und Internet sind die Schlüssel der Zukunft *


Ein Windrad hier, eine Solaranlage dort – das genügt nicht, solange die Weltwirtschaft im Ölzeitalter verharrt. Dies meint Jeremy Rifkin und entwirft die Vision einer neuen Weltordnung, die mit der bereits beginnenden Dritten Industriellen Revolution das Leben aller Menschen grundlegend verändern wird. Er hält dies für unabdingbar, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Mit dem US-amerikanischen Soziologen sprach für das neue deutschland (ND) Karlen Vesper.


ND: Sie schrecken nicht vor dem Wort »Revolution« zurück – ein Wort, das andere scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Warum Sie nicht?

Rifkin: Weil es eine Revolution ist, die wir erleben, eine tiefgreifende Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse: die Dritte Industrielle Revolution.

Lassen Sie uns kurz zur Verständigung rekapitulieren: die Erste Industrielle Revolution war jene zu Marxens Zeiten, mit Stephenson Dampflokomotive und der »Spinning Jenny«.

Wichtiger noch war die Einführung der Dampfkraft ins Druckereiwesen. Diese verwandelte das Printmedium in ein primäres Kommunikationsmittel. In Europa und Amerika breiteten sich Druckerzeugnisse rasant aus. Einfache Menschen sahen sich angeregt, Lesen und Schreiben zu lernen. Es wurden öffentliche Schulen gegründet. Zwischen den 1830er und 1890er Jahren entstand eine kundige Arbeiterschaft, die den Anforderungen der auf Kohlefeuerung beruhenden, dampfgetriebenen Schienen- und Fabrikwirtschaft gewachsen war.

Und die Zweite Industrielle Revolution?

Die begann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als die elektrische Kommunikation auf den ölgetriebenen Verbrennungsmotor traf. Die Elektrifizierung der Fabriken leitete eine Ära der Massenproduktion ein ...

Das Zeitalter des Fordismus.

Die wichtigste Errungenschaft der Zweiten Industriellen Revolution war das Auto, das unser Verhältnis zu Zeit und Raum revolutionierte. Nun stieg allerdings auch die Nachfrage nach Treibstoff. Die Ölindustrie expandierte. Aber auch die Zweite Industrielle Revolution wäre undenkbar ohne einen weiteren Fortschritt in der Kommunikation. Städte und Dörfer, Länder und Kontinente wurden durch ein sich ausbreitendes Telefonnetz verbunden. Hinzu kamen Radio und Fernsehen. Das gesellschaftliche Miteinander veränderte sich, die Menschen kamen sich näher. Die neuen Kommunikationsmöglichkeiten dienten aber vor allem den Geschäften der auf Öl basierenden Wirtschaft.

Die Sie am Absterben sehen.

Ja. Die Öl- und Gasressourcen neigen sich dem Ende zu. Pessimisten meinen, das globale Ölfördermaximum wird bis 2020 erreicht sein, Optimisten rechnen bis 2035. Wir müssen vor allem um unser selbst Willen Abschied von den fossilen Energien nehmen. Sonst droht uns eine Klimakatastrophe mit verheerenden Auswirkungen auf unsere Ökosysteme. Biologen befürchten zu Ende unseres Jahrhunderts ein Massenaussterben von Tier- und Pflanzenarten. Damit stünde unser eigenes Überleben als Gattung auf dem Spiel. Eine Temperaturänderung von nur 1,5 bis 3,5 Grad genügt, um eine verhängnisvolle globale Krise heraufzubeschwören.

Sind solche Temperaturschwankungen im Laufe der Erdgeschichte nicht normal?

Ich spreche von selbstverschuldeter Erderwärmung. Soweit wir Einfluss nehmen können, sollten wir es tun. Die Häufigkeit und Heftigkeit von Hurrikanen in den letzten Jahren zeigt, wie ernst sich schon eine Erderwärmung um ein halbes Grad auswirkt. Die Gletscher an den Polen könnten bis 2050 über 60 Prozent ihres Eisvolumens verlieren. Mit dem Anstieg des Meereswasserspiegels werden heute noch reich bevölkerte Küstengebiete dauerhaft überschwemmt. Kleine Inselketten wie die Malediven und die Marshall-Inseln könnten gänzlich im Indischen Ozean oder im Pazifik versinken.

Und das alles droht uns, wenn wir weiter das Schwarze Gold anbeten?

So ist es. Und doch gibt es immer noch Menschen, die sich weigern, dies anzuerkennen.

Vor allem in den USA.

Ja, viele halten die Warnungen vor einer Klimakatastrophe für Hirngespinste und Schreckgespenster der Linken.

Ihr Vater ist in Denver geboren, Ihre Mutter stammt aus Texas – traditionelle Ölfördergebiete. Was sagen Ihre Eltern zu Ihrer Verabschiedung des Öl-Zeitalters?

Ich bin auch in Denver geboren. Wir reden in der Familie nicht über Politik. Bei meiner Mutter traf ich mit meinen Ideen wohl auf mehr Verständnis als bei meinem Vater.

Barack Obama ist in das Amt des Präsidenten der USA mit dem Versprechen getreten, etwas gegen die drohende Klimakatastrophe zu tun. Davon scheint er mittlerweile abgerückt zu sein. Ist er vor den Öl-Multis eingeknickt?

Sie haben in der Tat in Washington die mächtigste Lobby. Drei von vier Lobbyisten sind Interessenvertreter von Öl und Gaskonzernen. Die alten Energieindustrien sind nach wie vor ein erheblicher Machtfaktor. Sie haben viel Geld, um Einfluss auf die staatliche Energiepolitik zu nehmen. Die fossile Energielobby wehrt sich gegen einen Energiemix, also das Hinzufügen erneuerbarer Energien. Aber sie sind nicht mehr zeitgemäß. Sie gehören einer vergangenen Epoche an. Im Interesse unserer Kinder und Enkel muss und wird ein Umdenken erfolgen. Öl und die anderen fossilen Brennstoffe haben ausgedient. Die auf ihnen beruhende Technologie und Infrastruktur sind antiquiert. Sie haben zu Massenarbeitslosigkeit und zur Verschuldung von Staaten, Unternehmen und Millionen Menschen geführt. Der Lebensstandard sinkt weltweit. Eine Milliarde Menschen hungert, fast ein Siebtel der Weltbevölkerung.

Um dieses Übel zu beseitigen, braucht es doch »nur« Verteilungsgerechtigkeit, Solidarität?

Die kommt mit der Dritten Industriellen Revolution.

Verteilungsgerechtigkeit wäre aber auch schon im 20. Jahrhundert möglich gewesen? Und ist ja auch versucht worden.

Es hat aber nicht funktioniert. Eine gerechte Verteilung der Güter, die Menschen zum Leben brauchen, wird erst jetzt möglich mit der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie und einem neuen Energieregime.

Computer und Internet haben bereits in den 80er respektive 90er Jahren ihren Siegeszug angetreten, also zur Zeit der Zweiten Industriellen Revolution.

Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien waren der Infrastruktur der Zweiten Industriellen Revolution nur aufgepfropft. Sie konnten ihr eigentliches Potenzial noch nicht entfalten. Sie konnten zwar Produktionsabläufe rationalisieren und effektivieren, neue Geschäftsmöglichkeiten und einige neue Arbeitsplätze schaffen. Aber im alten, zentralisierten und hierarchisierten, auf die Ausbeutung fossiler Brennstoffe beruhenden Wirtschaftssystem bleiben sie beschränkt.

Radio, Telefon, Fernsehen als zentralisierte Formen der Kommunikation entsprachen der Zweiten Industriellen Revolution. Die weltweite Vernetzung per Internet weist darüber hinaus.

Müsste man nicht eher von einer wissenschaftlich-technologischen Revolution statt von einer industriellen sprechen – wenn denn wissenschaftlich-technische Innovationen wie Computer und Internet de facto die Inauguraladresse der Dritten Industriellen Revolution sind?

Erstens: Auch die vorangegangenen Industriellen Revolutionen verdankten sich großen Erfindungen und Entdeckungen, Fortschritten in den Naturwissenschaften und technischen Neuerungen. Und zweitens: New Economy ist auch eine Industrie, und sogar eine sehr mächtige.

Und diese ist das Herzstück der Dritten Industriellen Revolution?

Das sind die erneuerbaren Energien zusammen mit dem Internet. Sie bilden die Infrastruktur der Dritten Industriellen Revolution. Ich spreche von fünf Säulen, auf denen sie steht. Gestern habe ich diese Ihrer Kanzlerin, Frau Merkel, erläutert. Sie war sehr interessiert. Die fünf Säulen sind: Erstens die erneuerbaren Energien; zweitens die Mikrokraftwerke. Die Menschen werden ihre eigene »grüne« Energie produzieren, ob zu Hause, in den Büros oder in den Fabriken. Die dritte Säule sind die Technologien zur Speicherung von Energie und Umwandlung von Energieüberschüssen. Viertens wird die neue Internettechnologie zur Schaffung eines intelligenten Stromnetzes genutzt, das Energy-Sharing ermöglicht; lokale Energieüberschüsse kommen der Allgemeinheit zu Gute. Fünftens werden die Transportflotten ihre Energien aus »Steckdosen« und Brennstoffzellen beziehen.

In Deutschland würden sicher schon heute viel mehr Menschen die Häuser ihrer Dächer mit Solaranlagen bestücken, aber das ist viel zu teuer. Ganz zu schweigen von den Menschen in den Slums von Kalkutta oder Rio de Janeiro.

Erneuerbare Energien sind viel kostengünstiger, billiger als die fossilen. Während die Preise für die herkömmlichen Energien mit der zunehmenden Ressourcenverknappung weiter steigen und noch explodieren werden, sinken die Preise bei erneuerbarer Energie. Von der Dritten Industriellen Revolution werden vor allem ärmereLänder profitieren. Millionen Menschen können sich aus ihrer Armut befreien durch erschwinglichen Zugang zur »grünen« Energie. Das beginnt schon jetzt mit der Vergabe von Mikrokrediten für die Erzeugung »grüner« Energie an Orten, die bis dahin nicht vom Stromnetz erfasst waren.

Sind die erneuerbaren Energien auch so effektiv wie die herkömmlichen?

Ich bitte Sie! Eine Stunde Sonnenschein genügt, um die gesamte Weltwirtschaft mit genügend Strom für ein ganzes Jahr zu versorgen. Experten haben errechnet, dass eine 20-prozentige Nutzung der Windkraft global schon sieben Mal mehr Strom erzeugen würde, als die gesamte Menschheit braucht.

Erneuerbare Energie gibt es überall. Die Sonne scheint überall, wenn auch unterschiedlich stark und häufig. Wind weht überall, mal heftiger und mal weniger heftig. Deshalb wird Energy-Sharing nötig sein. Über ein Energie-Internet wird die an einigen Orten überschüssige Energie zu jenen gelangen, denen es daran mangelt. In der Erde schlummert ein riesiges Reservoir an geothermischer Energie, das zu nutzen ist. Alle Menschen produzieren Müll, der in Energie umgewandelt und somit sinnvoll entsorgt werden kann. Im Gebirge kann man Gletscherwasser aufstauen. In der Landwirtschaft fallen Erntereste ab ...

In Deutschland haben alle Appelle an die Autofahrer, E 10 zu tanken, keinen großen Anklang gefunden. Ich weigere mich, mein Auto mit Getreide oder Mais zu füttern, solange Menschen Hunger leiden.

Das müssen Sie nicht. Nehmen Sie ein »Steckdosen«-Auto. Zur Verringerung des CO2-Ausstoßes, für das Überleben der Menschheit ist es wichtig, dass auch Sie umdenken, Karlen.

Das tue ich. In Ihrem Buch schreiben Sie: Dezentralisierte Nutzer des Internets und dezentralisierte erneuerbare Ener-gien ...

Ich spreche nicht von dezentralisierten erneuerbaren Energien.

So steht es im Buch.

Wirklich? – Oh, my God! Ooh, my God! (Rifkin schlägt die Hände über den Kopf zusammen.) Das muss ein Missverständnis sein. Ich spreche von »Distribution« oder »distributive«. Wie wollen Sie denn die Sonne dezentralisieren?!

»Dezentralisierte Energien« ist die im Deutschen gängige Formulierung. Nun weiß ich jedoch nicht, ob ich Sie richtig interpretiere: Sie fordern Dezentralisation? Ist das nicht unzeitgemäß im Zeitalter zunehmender Globalisierung?

Nein. Ich spreche davon, dass das alte zentralisierte, auf Kohle, Öl und Gas basierende Energieregime verschwinden wird. Mit den Millionen lokalen Energieerzeugern und Energy-Sharing erleben wir eine Demokratisierung des Energieregimes. Die heute noch mächtigen multinationalen Strom- kartelle der fossilen Ära werden unser Leben nicht mehr dirigieren und diktieren. Und sie werden uns nicht mehr in eine solche fatale Wirtschaftskrise wie 2008 stürzen.

Was hat diese mit Öl zu tun? Waren nicht die Spekulanten schuld?

Ursächlich war es der Ölpreis. Die in den 90er Jahren mit dem wirtschaftlichen Boom in China und Indien, in denen ein Drittel der Menschheit lebt, rasant zunehmende Nachfrage hat ihn hoch getrieben.Und damit auch den Preis anderer Waren, was zum Einbruch der Konsumtion und zum Kollaps der Weltwirtschaft führte.

Im Juli 2008 erreichte der Preis für ein Barrel Öl auf dem Weltmarkt 147 Dollar. Sieben Jahre zuvor waren es 24 Dollar. Es ist der Gipfel erreicht, den ich »Peak Globalization« nenne – den Punkt maximaler Globalisierung einer von fossilen Brennstoffen abhängigen Wirtschaft. Wir befinden uns im finalen Stadium der Zweiten Industriellen Revolution und des Ölzeitalters. Das alte System hat ausgedient.

Meinen Sie das nur im ökonomischen oder gesamtgesellschaftlichen Sinne?

Die gesamte Gesellschaft wird sich grundlegend verändern. Die traditionelle Organisation wirtschaftlicher und politischer Macht, die bislang vertikal verlief, wie bei einer Pyramide von oben nach unten, wird aufgebrochen. Mit der neuen Internet-Technologie und der Nutzung erneuerbarer Energien findet eine Umstrukturierung hin zu kollaborativen, lateralen gesellschaftlichen Beziehungen statt. Wir werden uns als globale Großfamilie verstehen. Das wird Auswirkungen auf den Politikstil wie auch die Erziehung unserer Kinder haben. Unser Verhältnis zur Biosphäre, zur Natur, zu jeder Spezie, die mit uns die Erde bevölkert, wandelt sich.

Wir sind schon auf dem Weg. Hierarchische Machtstrukturen brechen bereits zusammen ...

Sie denken an Nordafrika?

Auch. Es ist für mich kein Zufall, dass das Ende der Öl-Ära mit dem Sturz despotischer Regime in den arabischen Staaten zusammenfällt.

Weil der steigende Ölpreis auch die Nahrungsmittelpreise in die Höhe trieb? Diese waren ja eine der Ursachen für den Arabischen Aufstand.

Und für die vorangegangenen »Tortilla-Unruhen« und »Reis-Revolten«. Wenn 40 Prozent der Menschheit mit zwei Dollar oder gar weniger am Tag auskommen müssen, bedrohen schon geringste Preiserhöhungen bei Grundnahrungsmitteln Milliarden Menschen existenziell. In der ersten Dekade des neuen Jahrtausends hat sich der Preis von Sojabohnen und Gerste verdoppelt, von Weizen sogar verdreifacht.

Aber in Nordafrika sehe ich noch etwas anderes: Die junge, gebildete Facebook-Generation drängt auf Veränderung und Transparenz, bricht mit patriarchalischen und archaischen Strukturen. Sie kennt keine Fremdenfeindlichkeit, denn sie fühlt sich als Teil einer Weltgemeinschaft, der Netz-Community. Die Beziehungen untereinander sind Beziehungen unter Gleichen. Deshalb ist diese Generation, die mit den neuen Medien aufgewachsen ist, nicht länger gewillt, sich von Autokraten gängeln, bevormunden und in ihrer Freiheit einengen zu lassen.

Und dieses Selbstbewusstsein speist sich aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl der weltweiten Netz-Gemeinde?

Aus der Erfahrung eigener Stärke. Die Internet-Generation hat mächtige Musikkonzerne herausgefordert, ihnen durch direkten Austausch von Musik empfindliche Einbußen beschert. Und nun haben Blogger sogar Diktatoren zu Fall gebracht.

Der Protest richtete sich auch gegen die Massenarbeitslosigkeit, vor allem unter der Jugend. Es ist fraglich, ob das Problem von neuen, demokratisch gewählten Regierungen bewältigt wird.

Die Dritte Industrielle Revolution wird die Massenarbeitslosigkeit beseitigen. Sie schafft Millionen neuer Arbeitsplätze ...

Zunächst werden Millionen vernichtet: in der Ölindustrie, im Bergbau, in Kernkraftwerken.

Nein, die in den alten Industrien freigesetzten Arbeitskräfte werden in neuen, hoch spezialisierten und hoch technisierten Firmen Anstellung finden, andere in sozialen Netzwerken tätig sein. Sie werden sich gemeinnützig engagieren, die Zivilgesellschaft stärken. Das soziale Kapital wächst, die Dominanz des Finanzkapitals verschwindet. Die Verantwortung für die Mitmenschen wird größer. Wir spüren, dass wir alle durch ein gemeinsames Schicksal verbunden sind, einer globalen Großfamilie angehören. Der »Amerikanische Traum«, der auf materiellen Eigennutz, Individualismus und vermeintliche Unabhängigkeit gerichtet war, ist ausgeträumt.

In Ihrem Buch »Der Europäische Traum« sahen Sie die Europäische Union als Vorreiter zu einer Gemeinschaft, in der das Wohl aller über egoistische, nationalstaatliche Interessen steht. Ist nicht auch dieser Traum geplatzt?

Nein. Ich behaupte ja nicht, dass der Weg zu einer neuen globalen Gemeinschaft, einer neuen Weltordnung einfach ist. Die supranationalen Zusammenschlüsse sind ein Schritt dorthin. Auch Asien, Afrika, Südamerika schließen kontinentale Bündnisse.

Befördern diese nicht die bereits bestehende Konkurrenz und Rivalität zwischen den kontinentalen Wirtschaftsblöcken?

Die kontinentalen Bündnisse sind natürlich miteinander vernetzt, kollaborativ, solidarisch. Die Europäische Union hat jüngst mit der Afrikanischen Union ein Projekt vereinbart, das schon Infrastruktur für die Dritte Industrielle Revolution schafft: In der Sahara gewonnene Solarenergie wird über ein intelligentes Netz nach Europa geleitet.

Uneigennützige Solidarität gibt es nicht einmal innerhalb eines kontinentalen Bündnisses, wie die schnöde Behandlung des in Not geratenen Griechenland zeigt.

Die Europäische Union wird Griechenland nicht fallenlassen. Davon bin ich überzeugt.

Ihr Zukunftsmodell ...

Es ist schon ein Stück Gegenwart.

... stützt sich auf ein Menschenbild, das nicht zu dem vielfach erlebbaren Homo homini lupus passt.

Ich bin nicht der Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus des Menschen Wolf ist. Der Mensch ist biologisch zur Empathie prädisponiert. Die bisherigen Verhältnisse widersprachen seinem Wesen. Ich glaube an den Homo empathicus.

Sie beraten die Mächtigen der Welt. Wie kommt es, dass sie Ihnen zuhören, dem Propheten einer Revolution, die zum Sturz alter Machtgefüge führen wird?

Mir hören jene zu, die einsichtsvoll sind und wohl auch selber spüren, dass wir an einem Scheideweg angelangt sind, wo es nicht mehr weiter geht wie bisher – wenn wir nicht unser Überleben riskieren wollen. Ich selbst bin ein Bewunderer von Hermann Scheer. Vieles, für das er stritt, ist Wirklichkeit geworden. Ich würde mich freuen, wenn Deutschland sein Vermächtnis erfüllt und eine Pionierrolle übernimmt in der Dritten Industriellen Revolution.

* Jeremy Rifkin, Jg. 1945, ist Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends in Washington D.C. und Dozent an der Wharton School der University of Pennsylvania. Er gehört zu den einflussreichsten Intellektuellen der USA, ist ein scharfer Kritiker des neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells und Berater der Europäischen Union sowie europäischer Politiker wie José Manuel Barroso, Romani Prodi, Angela Merkel.
Seine Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt; die größte Aufmerksamkeit erfuhren »The End of Work« (Das Ende der Arbeit, 1995), »The Age of Access« (Zugangsgesellschaft, 2000), »The European Dream« (Der Europäische Traum, 2004) und »The Empathic Civilization« (Die Empathische Zivilisation, 2009).
Im Campus Verlag erschien auf Deutsch jetzt auch sein neues Buch: »Die Dritte Industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter« (Aus dem Englischen von Bernhard Schmid. 304 S., geb., 24,99 €).

Aus neues deutschland, 15.10.2011


[Zu diesem Interview gab es im ND-Blog einen Eintrag von "Rotspoon": " Er ist ein Traumtänzer geworden, der Jeremy."]


Zurück zur Globalisierungs-Seite

Zur Klima-Seite

Zurück zur Homepage