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In 50 Ländern auf der Straße

Globaler Aktionstag der "Occupy-Bewegung" fand weltweit Anklang

Von Max Böhnel (New York) und Martin Ling *

In über 50 Ländern gab es am Globalen Aktionstag Proteste gegen Sparpolitik und soziale Ungerechtigkeit.

Anspielungen auf die »Empörten « in Spanien und ihren Jahrestag waren am Sonnabendnachmittag in New York nicht nötig. Denn zum einen war die Stoßrichtung dieselbe, zum anderen steuerten mehr als 10 000 Menschen so oder so das Zocker-Kasino namens Wall Street an. Vor allem Lehrer und Lehrerinnen, aber auch in Sozialdiensten Beschäftigte und gewerkschaftlich Organisierte zogen bei strahlend blauem Himmel ins südliche Manhattan.

An einem aktuellen Anlass fehlte es nicht: Die Stadtregierung um Bürgermeister Michael Bloomberg sieht im neuen Haushaltsentwurf, der vergangene Woche vorgestellt wurde, die Entlassung von 4000 Lehrern und Lehrerinnen vor. Nach dem Sparplan will Bloomberg außerdem 50 Millionen Dollar für die Versorgung von Obdachlosen streichen.

»Occupy Wall Street« beteiligte sich an den Protesten am Sonnabend, war aber nur kleiner Teil des Bündnisses. Die nächsten größeren Aktivitäten der jungen Protestbewegung werden kommende Woche in Chicago erwartet, wo am 20. und 21. Mai die NATO ihre Tagung abhält.

Auch in Spanien, Großbritannien, Deutschland und Israel protestierten am Wochenende zahlreiche Menschen gegen die Spar- und Finanzpolitik und die Macht der Banken. Allein in Madrid, Barcelona und anderen spanischen Städten erinnerten Zehntausende am Sonnabend an die Entstehung der Protestbewegung der »Empörten« vor einem Jahr am 15. Mai. Die Polizei vertrieb am Sonntag mehrere Hundert Demonstranten vom zentralen Platz Puerta del Sol in Madrid. Nach Polizeiangaben gab es 18 Festnahmen.

Nach Ausschreitungen bei einem Protestmarsch der kapitalismuskritischen »Occupy«- Bewegung in London nahm die Polizei elf Personen fest. In Berlin protestierten rund 5000 Menschen mit einem Sternmarsch zum Alexanderplatz gegen soziale Ungleichheit.

In Israel knüpften Demonstranten an die Massenproteste des vergangenen Jahres an. Erneut demonstrierten sie gegen steigende Lebenshaltungskosten und soziale Ungerechtigkeit. »Wir wollen soziale Gerechtigkeit und keine Barmherzigkeit «, stand auf den Plakaten der Demonstranten, wie ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Zu hören waren auch einige Sprechchöre, in denen der Rücktritt von Regierungschef Benjamin Netanjahu gefordert wurde. »Legt das Land zurück in die Hände des Volkes«, lautete die Parole der Organisatoren, die in mehreren Städten des Landes zu Protestmärschen aufgerufen hatten.

Mit den Demonstrationen wollen die Initiatoren die Protestbewegung des vergangenen Sommers wiederbeleben, die in vielen Ländern Fuß fasste. Die Bewegung sieht ihre Forderungen nach grundlegenden Reformen bis heute als nicht erfüllt an.

* Aus: neues deutschland, Montag, 14. Mai 2012


Krise eröffnet Chancen

Von Martin Ling **

Über den quantitativen Erfolg des »Globalen Aktionstages« lässt sich streiten: In über 50 Ländern von Spanien über Israel bis hin zu Indonesien gingen von wenigen Tausend bis zu vielen zehntausend Menschen auf die Straßen. Doch die Kernforderung, ein »unbedingtes Ende der Sparpolitik, die nur einer Minderheit nutzt«, wird von weit mehr Menschen geteilt als sich aufraffen können, auf die Straße zu gehen.

Den größten Zulauf gab es in Spanien, wo sich die Bewegung M-15 seit einem Jahr im Alltag etabliert hat. »Zuhause vor dem Fernseher gibt es sicher keine Zukunft!« So antwortete ein 49-jähriger »Empörter« auf die Frage nach seiner Motivation, am Aktionstag teilzunehmen. Es ist dieser verbreitete Realismus, in dem eine Chance für die globale »Occupy-Bewegung« liegt. Illusionen, dass sich die Weltordnung schnell von unten aus den Angeln heben lässt, werden weder geschürt noch gepflegt. Stattdessen wird vor allem an praktischen Problemen und Bedürfnissen angesetzt: Räumungen werden kollektiv verhindert, Netzwerke gegenseitiger Hilfe geschaffen oder wie in Griechenland mit der Kartoffelrevolution Bauern wie Konsumenten geholfen, indem per internetbasiertem Direktverkauf der Zwischenhandel ausgeschaltet wird. Es sind bescheidene Ansätze für eine andere, solidarischere Welt, aber sie sind wegweisend. Sie zeigen, wie die Krise als Chance genutzt werden kann. Etwas, wobei die Politik von oben bisher versagt hat: Der jüngste Spekulationsfall in der US-Großbank JPMorgan Chase illustriert das zum wiederholten Male.

** Aus: neues deutschland, Montag, 14. Mai 2012


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