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Hunger bringt Profit

Vor Welternährungstag fordert Misereor Bundesregierung auf, gegen Spekulation mit Land und Nahrungsmitteln aktiv zu werden

Von Wolfgang Pomrehn *

Im 16. Oktober ist der Welternährungstag, mit dem die UNO auf die prekäre Lage bei der Nahrungsmittelversorgung aufmerksam machen will. Im Vorfeld der Finanzkrise waren 2007 die Weltmarktpreise für viele Grundnahrungsmittel in ungekannte Höhen geklettert, mit der Folge, daß sich die Zahl der Hungernden um weit über 100 Millionen erhöhte. Rund eine Milliarde Menschen, jeder siebente Erdenbürger, hat inzwischen nicht genug zum Essen. Nach dem Ausbruch der Krise sind die Preise 2008 zwar zunächst wieder gefallen, aber in letzter Zeit haben sie schon wieder stark angezogen, so daß von Entspannung nicht die Rede sein kann. Besonders dramatisch ist die Lage derzeit am Horn von Afrika, wo eine schwere Dürre einen großen Teil der Ernten vernichtet hat. In Kenia, Äthiopien und vor allem in Somalia sind mehrere Millionen Menschen dringend auf Nahrungsmittelhilfen angewiesen.

Weltweit leben 2,9 Milliarden Menschen von zwei oder weniger US-Dollar pro Tag. Arme Familien müßten oft 50 bis 80 Prozents ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. »Steigende Preise sind für sie daher lebensbedrohlich«, meinte Benjamin Luig vom katholischen Hilfswerk Misereor bei einer Pressekonferenz in Berlin am vergangenen Freitag (siehe jW vom 8./9. Oktober). Anläßlich des bevorstehenden Welternährungstages hat seine Organisation mit zwei Untersuchungen darauf aufmerksam gemacht, daß die wichtigsten Ursachen für den zunehmenden Hunger in der Welt Spekulationen an den Börsen und die wachsende Konzentration des Landbesitzes in den Händen großer Kapitalgesellschaften zu suchen sind.

Seit Beginn des neuen Jahrtausends, so Börsenfachmann Dirk Müller in einer Analyse für Misereor, sind die bisherigen Beschränkungen für den Handel an den Terminbörsen für Getreide und andere Nahrungsmittel aufgeweicht worden. Hätten die Termingeschäfte bisher den Landwirten und Lebensmittelunternehmen als Absicherung gegen kurzfristige Preisschwankungen gedient, würden nun Banken und Fonds an die Fachbörsen drängen. Der Umsatz im Termingeschäft habe stark zugenommen, und viele der drastischen Preisschwankungen der letzten Jahre seien nicht mehr durch Knappheit und Überangebot, sondern durch die Aktivitäten jener zu erklären, die von Kursschwankungen profitieren wollen. »Es gibt keinen einzigen volkswirtschaftlichen oder gar humanitären Grund dafür, daß sich private Investoren virtuell Weizensäcke in ihr Depot legen und so eine künstliche Nachfrage schaffen«, so das Resümee des Börsenexperten.

Die hohen Preise für Agrarprodukte sorgen inzwischen auch dafür, daß die Nachfrage nach Land stark zugenommen hat. Agrarkonzerne, Investmentfonds und Beteiligungsgesellschaften haben in Lateinamerika, Afrika und Südostasien die Jagd eröffnet. Rund 227 Millionen Hektar, mehr als das Sechsfache der Fläche der Bundesrepublik, so Luig in einem Misereor-Positionspapier, haben seit dem Jahre 2000 bei den großen Landdeals den Besitzer gewechselt. Nach einer Schätzung der Weltbank war dabei für den Erwerb in 37 Prozent der Fälle die rasch steigende Nachfrage nach Agrotreibstoffen der entscheidende Grund. Besonders in Brasilien wird schon seit vielen Jahren aus Zuckerrohr der Benzinersatz Ethanol gewonnen. Andernorts, insbesondere in den USA, wird dieser Alkohol aus Mais hergestellt. Dieselersatz läßt sich hingegen unter anderem aus Raps, wie hierzulande üblich, oder auch aus Soja oder Palmöl gewinnen.

Hohe Preise für Erdöl und staatliche Förderprogramme machen daher den Anbau dieser Agrarrohstoffe im großen Maßstab attraktiv. Hinzu kommt, daß in Zeiten sinkender Aktienkurse und abstürzender Immobilienpreise Investitionen in Grund und Boden eine alternative Geldanlage für Fonds und Kapitalbesitzer darstellen. Diese werden bisher vor allem in diversen afrikanischen Ländern tätig, wo auch die Fonds der Golfstaaten, Singapurs und Chinas eine große Rolle spielen. In Lateinamerika und Südostasien sind die Akteure hingegen meist etablierte Agrarkonzerne aus Malaysia oder Brasilien.

Das Nachsehen hat in all diesen Fällen die betroffene ländliche Bevölkerung. In vielen Staaten haben Kleinbauern wenig Möglichkeiten, im Streitfall ihre Besitzrechte zu verteidigen. Grundbücher existieren nicht oder sind äußerst lückenhaft, so daß nicht selten per Faustrecht entschieden wird, wer die Flächen bestellen und kontrollieren darf. Mit der wachsenden Nachfrage mehren sich entsprechend die Berichte, so Luig, daß sich nationale Eliten das Land aneignen, um es weiterverkaufen zu können.

Auffällig sei auch, daß die meisten dieser Deals in Ländern mit wenig Schutzrechten und -möglichkeiten für die Kleinbauern abgeschlossen werden. Die Verträge sind entsprechend intransparent und meist geheim. Die wenigen, an die heranzukommen ist, haben meist keinerlei Klauseln, die den Schutz der örtlichen Bevölkerung regeln. Verschiedene Partnerorganisationen Misereors berichten davon, daß es im Zusammenhang mit dem Verkauf oder der langfristigen Verpachtung großer Ländereien zur Vertreibung der Ortsansässigen kommt.

Von der Bundesregierung erwartet das Hilfswerk daher, daß sie sich in bilateralen Kontakten mit den betroffenen Ländern gegen diese Praxis ausspricht und für den Schutz der traditionellen Nutzungsrechte eintritt. Außerdem sollten hiesige Gesellschaften, die andernorts in Land investieren, zur Offenlegung ihrer Geschäfte gezwungen werden. Schließlich fordert Misereor auch eine Überprüfung der von der EU betriebenen Förderung von Agrarkraftstoffen.

* Aus: junge Welt, 11. Oktober 2011


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