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Immunschwäche des Kapitalismus

Karl-Georg Zinn über gedoptes Wachstum, Zocker und das Versagen der Funktionseliten

Karl-Georg Zinn (Jahrgang 1939) war von 1970 bis 2004 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen mit den Arbeitsschwerpunkten »Makroökonomie und Außenwirtschaft«. Mit dem 70-Jährigen sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Dieter Janke.



ND: Die derzeitige Wirtschaftskrise wird im Prinzip unwidersprochen als die gravierendste nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Lediglich die Weltwirtschaftskrise von 1929/32 scheint als Vergleichsmaßstab tauglich. Wo sehen Sie Parallelen und wo Unterschiede?

Zinn: Je weiter entwickelt der Kapitalismus, desto größer seine Krisen. Im Unterschied zu den Konjunkturzyklen, die meist alle fünf bis sieben Jahre wiederkehren, scheinen die großen Krisen singuläre Ereignisse zu sein. Jedenfalls treten sie zum Glück selten und ohne deutliche Regelmäßigkeit ein. Allerdings nahm ihr jeweiliges Ausmaß zu, je älter der Kapitalismus wurde. Die Gründerkrise nach 1871 blieb hinter der Großen Depression der 1930er Jahre zurück, und diese wird sich voraussichtlich hinter der gegenwärtigen Krise verstecken können. Jedenfalls ist damit zu rechen, dass sich der Wachstumsrückgang noch beschleunigen und mindestens bis 2010/2011 anhalten wird sowie die Arbeitslosenquote in den zweistelligen Bereich steigt und die breite Arbeitslosigkeit ein verheerendes Ausmaß aufweisen wird.

Völlig anders fällt heute die wirtschaftspolitische Reaktion aus. Im Unterschied zu den 1930er Jahren gibt es bisher keine wirtschaftspolitische Krisenverschärfung. Jedoch wird sich auch nicht mehr erreichen lassen, als die Aufschwungsbedingungen nach Erreichen der Talsohle zu verbessern.

Damit widersprechen Sie den Hoffnungen, die von einer Wende zum Besseren noch in diesem Jahr ausgehen. Worauf gründet sich Ihr Pessimismus?

Vor 2011 ist nicht mit dem unteren Wendepunkt zu rechnen. Die gegenwärtige Krise weist gegenüber der nach 1929 noch ungünstigere Ausgangsbedingungen auf. Der damalige Crash war ursprünglich »nur« ein Zusammenbruch der Börsen. Eine Ausbreitung auf die Realwirtschaft hätte sich wahrscheinlich mit sachgerechter Zentralbankpolitik (der USA und anderer Länder) abfangen lassen. Zum Beispiel haben die Zentralbanken im Herbst 1987 einen drohenden Börsencrash recht erfolgreich abgewehrt und das Übergreifen auf die Realwirtschaft verhindert. Bei der heutigen Krise handelt es sich jedoch nicht um die Erkrankung eines einzelnen »Organs«, sondern der globale Wirtschaftsorganismus ist geschädigt. Immobilienkrise, Bankenkrise, Überakkumulationskrise, Überschuldung von Privathaushalten (vor allem in den USA und Großbritannien), hohe Verschuldung vieler Produktionsunternehmen, hohe Ausgangsverschuldung der Staaten - kurz gesagt: Der Gegenwartskapitalismus dürfte sich letztlich als instabiler als der von 1929 herausstellen. Allerdings auf einem gegenüber 1929 vielfach höheren Produktivitäts- und Einkommensniveau.

Hinzu kommt die lange »Vorlaufzeit« von drei Jahrzehnten der gegenwärtigen Krise. Die damit aufgehäuften strukturellen Fehlentwicklungen finden keine Parallele in der Krise vor 1929. Schließlich hat auch die Globalisierung zu einer weit stärkeren wechselseitigen internationalen Abhängigkeit der Volkswirtschaften geführt, was der nationalstaatlichen Krisenbekämpfung höhere Hürden errichtet als nach 1929.

Fatalistisch ausgedrückt, war der Absturz demnach unvermeidbar?

Die realwirtschaftliche Panikreaktion auf den Finanzmarktcrash von Mitte September 2008 erfolgte mit atemberaubender Geschwindigkeit und vermutlich sogar in einem historisch bisher einmaligen Ausmaß. Jedenfalls zeigte der weltweite Absturz der Investitionstätigkeit, dass es sich nicht um einen konjunkturellen Niedergang handelte, wie er alle paar Jahre eintritt, sondern um die Anfangsphase einer großen Krise. Ablesbar ist das zum Beispiel am Auftragseinbruch im deutschen Maschinenbau um 30 Prozent allein im November 2008 und an der Absatzkatastrophe der globalen Kfz-Industrie, die ohnehin eine Überkapazität von 20 Millionen Produktionseinheiten jährlich vor sich herschiebt.

Ihre Ursache hat sie freilich zu einem Großteil auch im Politischen. Die Verschuldungswirtschaft der vergangenen Jahre hat das Wirtschaftswachstum über Jahrzehnte hinweg gedopt. Diese Behandlung mit Anabolika fordert nun ihren Preis. Die Immunschwäche des kapitalistischen Systems wurde - paradox wie vieles in der Geschichte der vergangenen 30 Jahre - gerade von jenen Funktionseliten noch verstärkt, die sich und ihrer Klientel vorgemacht hatten, durch ihre Politik die marktwirtschaftlichen (sprich: kapitalistischen) »Wachstumskräfte zu stärken«.

Die gleichen Politiker warnen jetzt vor Panikmache. 50 Prozent der Wirtschaft sei Psychologie, heißt es. Zur Krisenprävention sei daher Optimismus erforderlich.

Die abgegriffene Floskel, dass die Wirtschaft zu 50 Prozent von Psychologie abhänge, hat sich nur bedingt bewahrheitet. Denn es war gerade auch der optimistische Irrtum unbegrenzten Wachstums, der die Psyche von Zockern, Spekulanten und anderen Renditejägern zu ihrem krisenträchtigen Treiben ermutigte. Zweckoptimismus hilft nur soweit, als er realistisch bleibt, anderenfalls ist er unzweckmäßig. Vertrauen wird aber nur geschaffen, wenn berechtigte Aussicht auf Verbesserung der Situation erzeugt wird. Und das gelingt nur, wenn die Wirtschaftspolitik wirksame Maßnahmen ergreift. Dazu ist jedoch eine zutreffende Ursachenanalyse der Krise unabdingbar. Bisher vermittelt die Wirtschaftspolitik jedoch eher den Eindruck eines blinden Herumtastens. Krisenbewältigung durch »Versuch und Irrtum« und ohne Einsicht in die wirklichen, d. h. langfristigen Ursachen der Krise, mag oberflächlich betrachtet den Kompromisszwängen politischen Handelns geschuldet sein. Aber es fragt sich, warum in einer extremen Krisensituation keine einheitliche, klare Strategie erreicht wird. Doch wohl wegen der fehlenden Einsicht in die eigentlichen Krisenursachen und deren Folgen. Deshalb bedeutet der von der Krise erzwungene Staatsinterventionismus - richtiger: Dirigismus - noch keine grundsätzliche wirtschaftspolitische Neuorientierung, sondern er steht unter dem Einfluss von Lobby-Forderungen, Ratschlä-gen uneinsichtiger Neoliberalisten und verzweifelten Hilferufen aus den Betrieben. Die Krise wie einen Feind zu bekämpfen, erfordert eben eine Strategie. Wenn die Politik aber weiterhin Getriebene der Krise bleibt, kommt das die Steuerzahler noch viel teurer, als heute bereits absehbar ist.

Gibt es überhaupt Möglichkeiten, zukünftig derartig gravierenden Einbrüche zu verhindern?

Mit dem wirtschaftspolitischen Kurswechsel vor drei Jahrzehnten begann eine Irrfahrt, die in die gegenwärtige Krise mündete. Diese Fehlentwicklung lässt sich weder revidieren, noch sind ihre Folgen schmerzlos zu korrigieren. Die gegenwärtige Krise verbessert jedoch die Chancen, die politische Öffentlichkeit für einen fundamentalen Wandel der weiteren Entwicklung zu mobilisieren. Unterbleibt der notwendige Transformationsprozess in ein System, das Vollbeschäftigung und Wohlstand ohne anhaltendes Wirtschaftswachstum gewährleistet, so wird das politische Weiterwursteln auf absehbare Zukunft eine erneute Wirtschaftskrise mindestens gleichen Ausmaßes wie gegenwärtig provozieren.

Es wird bis dahin etwas mehr Zeit verstreichen, wenn die Politik der Systemkonservierung mit einigen sinnvollen ökologischen Komponenten und ökonomischen Kontrollen verbunden wird - und eine künftige Krise kommt schneller als gedacht, wenn am Ende der gegenwärtigen Talfahrt wieder die Wirtschaftskonservativen obsiegen und zum »business as usual« zurückkehren.

Doch die durch die Krise bewirkte mentale Erschütterung und die Bereitschaft zu einem Neuanfang begünstigen die Kräfte, die auf den Transformationsprozess hinwirken - und er kann gelingen, wenn die demokratische Öffentlichkeit sich dafür engagiert.

GM zum vierten Mal mit Verlust

  • Der Opel-Mutterkonzern General Motors hat im vergangenen Jahr mit einem Minus von 30,9 Milliarden Dollar den vierten Riesenverlust in Folge eingefahren.
  • Der Verlust von GM war nach 2007 der zweithöchste in der gut 100-jährigen Konzerngeschichte.
  • Auch in Europa mit der Hauptmarke Opel raste das Geschäft nochmals deutlich tiefer in die roten Zahlen. Der Verlust hat sich hier vor Steuern mit knapp 2,9 Milliarden Dollar mehr als verfünffacht.
  • Der globale GM-Umsatz brach im Schlussquartal angesichts der Krise auf den Automärkten immer schneller um mehr als ein Drittel auf 30,8 Milliarden Dollar ein.
  • 2008 fiel er um 17 Prozent auf 149 Milliarden Dollar. Der Europa-Umsatz stürzte im Schlussquartal sogar um 40 Prozent auf 6,4 Milliarden Dollar ab, im gesamten Jahr um mehr als acht Prozent auf 34,4 Milliarden Dollar.
  • Zum Jahresende halbierten sich die flüssigen Mittel im Vergleich zu 2007 auf noch 14 Milliarden Dollar.
  • In den vergangenen zwölf Monaten büßte der Konzern 90 Prozent seines Börsenwerts ein.
  • Zusammen mit schon erhaltenen Hilfen fordert der Autobauer für seine Sanierung von der US-Regierung bis zu 30 Milliarden Dollar.
  • Zur Sanierung plant GM unter anderem weltweit den Abbau von nochmals 47 000 Jobs und damit etwa jeder fünften Stelle.
  • Der US-Konzern verlor erstmals seit 77 Jahren den Spitzenplatz als weltgrößter Autobauer an den japanischen Rivalen Toyota.


* Aus: Neues Deutschland, 27. Februar 2009


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