Zaungäste
Vor dem G 8-Gipfel im Juni: Besuch im Ostseebad Heiligendamm, solange man es noch besuchen kann
Von Christina Matte *
Es gab einmal eine Siedlung, die pars pro toto »Wandlitz« hieß, obwohl der Ort Wandlitz ja viel größer war. In dieser Siedlung hatte sich das Politbüro der DDR eingemauert.
Es gab einmal einen Staat, der sich einmauerte. Das Wort vom »sich einmauern« wurde ein Wort des Zusammenbruchs – eben jenes Staates DDR. Es stand für Abschottung, Lebensfremdheit, Ignoranz, und jawohl, für schwitzende Angst. Aber das sind Nachrichten aus der Provinz und also zu vernachlässigen.
Nie hätte sich das kleine DDR-Ferienparadies Heiligendamm träumen lassen, es könnte einmal derart weltoffen werden, dass sich hier die Repräsentanten der G 8-Staaten treffen würden. So wie sich die Menschen in Trinwillershagen nicht träumen ließen, dass auf dem Platz vor ihrem Kulturhaus eine aus ihrer Nachbarschaft, Bundeskanzlerin Angela Merkel, für US-Präsident George W. Bush eine Grillparty ausrichtete. In diesem Juni, nach Heiligendamm, werden sie alle kommen: die Staats- und Regierungschef der acht größten Industrienationen der Welt.
Derzeit wird an der Ostseeküste ein gigantisches Bollwerk errichtet. Mit dem Bau wurde am 15. Januar begonnen, im Mai soll er beendet sein. Ein zweieinhalb Meter hoher Zaun wird sich dann über zwölf Kilometer durch Felder, Wiesen, Forste ziehen – rund um Heiligendamm. Die zwölf Kilometer Zaun, sie stehen bereits. Die Betonpfeiler sind im Boden und die Stahlgitter montiert. Nun wird er unterirdisch gesichert: einen halben Meter tief, damit sich kein Maulwurf hindurchwühlen kann. Zu installieren sind auch noch Kameras und Bewegungsmelder. Der NATO-Draht, sozusagen als Krönung, ist derzeit lediglich markiert – er wird erst zum Schluss aufgezogen, vermutlich aus ästhetischen Gründen: Ein derart unziviles Bild mag man nicht länger als nötig bieten. Ein Polizist an der Baustelle: »Über diesen Zaun kommt keiner. Allerdings wird keiner auch nur dicht genug an ihn herankommen, um die Chance zu haben, ihn zu überwinden.« Schon nach wenigen Minuten kreist ein Hubschrauber der Bundespolizei über uns – schon jetzt sind Zaungäste unerwünscht. Im Juni werden 16 000 Polizeibeamte an der Küste unterwegs sein – beim größten Polizeieinsatz der deutschen Geschichte.
12,5 Millionen Euro hat Mecklenburg-Vorpommern für den Sicherheitszaun locker gemacht. Die Kosten für den Gipfel insgesamt werden sich auf 100 Millionen Euro belaufen. Erstaunlicherweise regt sich kaum ein Küstenbewohner darüber auf. Mit den Arbeiten am Zaun ist die Firma MZS Metall-Zaun-Stahlbau aus dem Landkreis Bad Doberan betraut. Jede Firma in dieser Region hat jeden Auftrag bitter nötig, und der bevorstehende Gipfel füllt erfreulicherweise die Auftragsbücher: Allenthalben werden noch schnell löchrige Straßen repariert, am Strand von Heiligendamm sogar auf einer Länge von zwei Kilometern 150 000 Kubikmeter Sand aufgespült, die Strandzugänge neu gestaltet – die Bauunternehmen sind zufrieden. Wie sie setzen auch die Tourismusbranche und das Gaststättengewerbe handfeste Hoffnungen in den Gipfel: Bereits jetzt sind Hotels und Pensionen im Umkreis von 30 Kilometern um den Gipfelstandort für Delegationen, Begleitschutz- und Sicherheitspersonal sowie das Bundespresseamt ausgebucht. Auch Städte im weiträumigeren Umland wie Rostock, Wismar, Stralsund und Schwerin wollen vom Gipfel profitieren: Dort sind – bis jetzt – noch Zimmer zu mieten. Für die Zeit des Treffens, und das schlägt zu Buche, rechnet man mit 100 000 Globalisierungskritikern, die sich die Welt ein bisschen anders als die G 8-Re- präsentanten vorstellen. Nur wenige der Protestierer, sucht man sich zu beruhigen, werden wahrscheinlich gewaltbereit sein. Wenn sie anreisen, füllen sie Camps und Pensionen, Kneipen, Cafés und Gaststätten. Die Küste im Stimmungshoch: Von den Mitarbeitern der Nobelhotels bis zu den Fahrern und Schaffnern des »Molli« – alle büffeln für den Gipfel, berichtet die lokale Presse. Sie pauken Englisch, und die Rostocker Straßenbahnfahrer, wenn sie schon nicht geschult werden, werden im Juni doch zumindest ein Englisch-Wörterbuch mitführen.
Sagen wir so«, bringt Herr Friedemann etwas Realität in den Hype, »jedes Bundesland ist mal dran, so ein Treffen auszurichten. Diesmal wurden wir ausgesucht, da kann man nichts gegen einwenden. Und Sicherheit, die ist schon wichtig.« Herr Friedemann wohnt direkt vor Ort, im Ostseebad Heiligendamm, und er führt seinen Hund spazieren. Dem »Rummel« sieht er gelassen entgegen: »Der Bush, der war doch schon einmal hier.« Von diesem ersten Besuch her weiß er, dass – beginnend vor dem Bahnhof – noch ein weiterer Zaun gebaut werden wird, der sogenannte engere Kreis. Er soll die Heiligendammer, also Leute wie ihn, auf Abstand halten. Aber Zäune jeder Art ist Herr Friedemann gewöhnt.
Heiligendamm, das älteste deutsche Seebad, bietet einen befremdlichen Anblick. Die »Weiße Stadt am Meer«, sie scheint derzeit allein aus dem »Kempinski« zu bestehen. Seit vier Jahren betreibt Kempinski den riesigen Hotelkomplex, der der Fundus-Gruppe gehört. Mit sechs strahlend weißen Gebäuden macht sich das Hotel am Ufer breit – von der Seeseite aus gesehen prunkt links das Severin-Palais, daneben das Grand-Hotel, rechterhand das Kurhaus mit Restaurants, Ballsaal und Konferenzräumen, noch weiter rechts das Haus Mecklenburg, dahinter die Hohenzollernburg, hinter der wiederum die Orangerie liegt. Und ja, auch dieser Komplex ist umzäunt. Um »die Welt mit viel Geld« zu schützen – vor »Gaffern«, wie man hier Touristen nennt, die nicht im »Kempinski« nächtigen. Somit ist die Hälfte des Ortes gesperrt. Und Herrn Friedemann der direkte Zugang zu Strand und Seebrücke versagt. Nicht nur ihm, auch den anderen Heiligendammern. Und natürlich ihren Gästen: Herr Friedemann betreibt eine kleine Pension. Wer sich bei ihm einquartiert, muss nun einen Weg von zwei Kilometern bis zum Strand in Kauf nehmen. Nicht jeder will das, nicht jeder kann das. Der Pension ist das nicht bekömmlich.
Für die weniger Betuchten ist nur noch ein einziger Zugang zur alten Strandpromenade geöffnet. Spaziert man in Richtung Seebrücke, die am Ende der Promenade ins Meer ragt, liegt linkerhand die »Perlenkette«. Jenes einzigartige Ensemble aus einstmals sieben klassizistisch-romantischen Villen, die ab 1793 als Badecottages errichtet wurden. Sie gammeln seit Jahren vor sich hin. Eines der vormals mondänen Häuser, die »Villa Perle«, wurde im Januar abgerissen. Selbstverständlich hat Fundus auch einen Zaun vor der »Perlenkette« errichtet. Aus der Nähe zu betrachten sind die historischen Villen nicht mehr. Der Weg, den man zu nehmen hat, ist abgezirkelt, vorgeschrieben. Friedemann hat sich an alle Parteien gewandt. Keine hat ihn unterstützt. Die CDU hat ihm gesagt: »Betrachten Sie sich als enteignet.« Neulich war die NPD im Ort. Vielleicht kann die Friedemann ja helfen? Eigentlich möchte er das nicht. »Doch was soll ich machen?«, fragt er. »Soll ich mich an mein Haus ketten? Hier gibt's keinen Laden mehr, nichts. Wir sind hier nur noch ein paar Hanseln, die anderen wurden weggeekelt.«
Um die »Villa Perle« trauern Heike Ohde und Hannes Meyer. Beide sind Architekten und gehören zur Bürgerinitiative »Pro Heiligendamm«. Und: Sie sind Bad Doberaner. Ist die Einwohnerzahl Heiligendamms seit der »Enteignung« auf 300 geschrumpft, leben in Bad Doberan immerhin noch 12 000 Menschen. Heike Ohde: »Bad Doberan und Heiligendamm sind schon historisch eine Einheit. Es waren Gäste Doberans, die nach Heiligendamm zum Baden fuhren und das spätere Seebad gründeten. Auch heute noch ist Heiligendamm der Zugang Doberans zum Strand.« Beziehungsweise eben nicht mehr oder doch sehr eingeschränkt.
Dafür kämpft die Initiative: Sie will, dass das historische Ensemble in seiner Gesamtheit erhalten und restauriert wird – dazu hatte sich Fundus beim Kauf verpflichtet, und eigentlich sollte dies längst passiert sein. Sie will mindestens einen direkten öffentlichen Weg zwischen Bahnhof und Seebrücke. Weiterhin will sie die Öffnung des gesperrten »Kleinen Wohldes« und des Internationalen Küstenwanderweges E9. Sie will, dass die Seepromenade in ihrer jetzigen Wegführung mit Anbindung an den Wanderweg erhalten bleiben.
Solche Ziele spiegeln Befürchtungen wider. »Ja«, bestätigen Ohde und Meyer, Fundus schaffe Tatsachen, wie der Abriss der »Villa Perle« beweise. Erst 1995 unter Denkmalschutz gestellt, habe Fundus den wieder aufheben lassen. Begründung: verrottete Bausubstanz. »Man hätte sie restaurieren können«, sagt Meyer, »doch das hätte viel Geld gekostet.« Selbst wenn man die Villa neu bauen würde, wie Fundus gegenwärtig behauptet, wäre sie nicht mehr dieselbe: Ein neues Haus ist ein neues Haus, und Heiligendamm wäre Disneyland.« Nach dem Gipfel sollen auch die Villen »Schwan« und »Möwe« verschwinden. Meyer hält dieses Sze- nario für möglich: »Wenn man die Häuser tatsächlich bewirtschaften will, brauchen sie Keller, die sie nicht haben. Durch die entstandenen Lücken könnte man sie äußerst preiswert unterkellern.«
Mit den Globalisierungskritikern, die zum G 8-Gipfel anreisen werden, wollen Ohde und Meyer aber nicht in einem Atemzug genannt werden. »Egal, was wir persönlich denken, man würde unsere Initiative sofort in die Nähe von Leuten rücken, von denen man denkt, dass sie Fenster einschmeißen. Das würde unserer Sache nicht nützen.« Nur so viel möchte Meyer sagen: »Wenn Heiligendamm zum G 8-Gipfel im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, könnte diese auch fokussieren, dass der demokratische Prozess außer Kraft gesetzt wird, sobald Investoren dahinterstehen.«
Übrigens wird auf dem Platz, auf dem die »Villa Perle« stand, für die Zeit des G 8-Treffens die Pressetribüne aufgebaut. Sozusagen für die »embedded journalists«, die der Welt die »Familienfotos« präsentieren sollen. Doch andere, nicht wenige Berichterstatter aus aller Welt werden auch das Geschehen außerhalb des Zauns dokumentieren. »Die Proteste werden sich vor allem in und um Rostock abspielen«, weiß Pedram Shahyar vom Attac-Koordinierungskreis. Nein, Fenster einwerfen wollen sie nicht. Sie protestieren ja für »eine gerechte, friedliche Globalisierung«, und so sollen auch ihre Aktionen friedlich ablaufen. »Aber G 8 ist der Gipfel der Ungerechtigkeit«, meint Shahyar, »und wie hier Politik gemacht wird, das lehnen wir ab. G 8 ist die selbsternannte Elite, die sich wie eine Weltregierung aufspielt. Wir halten das für undemokratisch, denn niemand hat sie gewählt.«
Er spricht von einer Großdemonstration, die geplant ist, von verschiedenen thematischen Aktionstagen, einem Alternativgipfel, kulturellen Veranstaltungen – einer Art »Rock am Damm«, und von »massivem zivilen Ungehorsam«. Mit anderen Worten: Die Globalisierungskritiker wollen etliche der gerade instandgesetzten Straßen blockieren. Shahyar: »Wir haben viele Forderungen. Alle laufen darauf hinaus, dass der enorme gesellschaftliche Reichtum, den es in der Welt gibt, den Menschen zugutekommen soll.«
Herr Friedemann führt seinen Hund spazieren. Wenn er richtig darüber nachdenkt, dann weiß er: Was in Heiligendamm geschieht, sind »Ausläufer der Politik, die die Mächtigen betreiben: eine Politik für die Reichen«. Er grinst, als er vor dem Einsatzwagen der Rostocker Polizei vorbeigeht, der vor dem Grand-Hotel postiert ist. Seit G 8-Gegner letzten Dezember an die strahlend weiße Fassade des Grand-Hotels drei Farbbeutel warfen, halten hier ständig Polizisten nach verdächtigen Personen Ausschau. »Die fassen keinen«, glaubt Friedemann, »die Farbbeutel haben sie selbst geschmissen.« Wer, die Polizei etwa? »Nein, die vom Hotel natürlich. Jetzt haben sie eine Standwache, damit sich die Gäste sicher fühlen.«
Es wird viel geredet in Heiligendamm; man darf nicht alles glauben. Die Gäste des »Kempinski« bekommen davon nichts mit. So wenig, wie die G 8-Repräsentanten – gleichsam dreifach verbarrikadiert – etwas von den Protesten mitbekommen werden. Luxus pur wird sie umgeben: prächtige Blumenarrangements, weißer Marmor, Teppiche, Lüster. Wer welche Suite bezieht, steht noch nicht fest – es stehen genügend zur Auswahl, unter anderen die Hohenzollern-Suiten für 800 Euro pro Nacht, was man nicht pingelig nachrechnen sollte, denn der Komplex ist pauschal gemietet. Unklar sind auch noch die Menüs. Wahrscheinlich wird der Küchenchef Lamm vom Gut Vorderbollhagen mit einheimischen Kräutern servieren. Die Gespräche werden im Kurhaus stattfinden. Nachrichten aus der Provinz dürften keine Rolle spielen.
* Aus: Neues Deutschland, 17. März 2007
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