Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Tektonische Verschiebungen in der Weltwirtschaft

Warum das US- Konjunkturprogramm zum Scheitern verurteilt ist

Von David Harvey *

Der US-amerikanische Geograph David Harvey ist einer der allgemein anerkannten Theoretiker der globalisierungskritischen Bewegung. Er prägte den Begriff „Akkumulation durch Enteignung“, um u.a. die destruktiven Umverteilungsmechanismen der aufgeblähten Finanzmärkte zu kennzeichnen. In seinem Buch „Der neue Imperialismus“ untersuchte er die Verbindung von Neoliberalismus und Gewalt. Jetzt hat er auf der Webseite chinaleftreview.org seine Analyse der Krise und der Antikrisenprogramme vorgelegt.

Man gewinnt eine Menge an Erkenntnissen, wenn man die gegenwärtige Krise als eine Oberflächeneruption betrachtet, die durch eine tiefe tektonische Verschiebung in der räumlich-zeitlichen Anordnung der kapitalistischen Entwicklung hervorgerufen wurde. Die tektonischen Platten beschleunigen ihre Bewegung und die Wahrscheinlichkeit von häufigeren und heftigeren Krisen in der Art, wie sie seit 1980 aufgetreten sind, wird mit großer Wahrscheinlichkeit zunehmen. Die Art, die Form, die räumlichen und zeitlichen Erscheinungen dieser Oberflächeneruptionen sind unmöglich vorherzusagen, aber es ist nahezu sicher, dass sie häufiger vorkommen und heftiger ausfallen werden. Die Ereignisse von 2008 müssen deshalb im Zusammenhang mit einem tiefer zugrunde liegenden Muster gesehen werden. Da diese Krisenzeiten der kapitalistischen Dynamik inhärent sind – das schließt einige anscheinend extern verursachte Ereignisse wie eine katastrophische Pandemie nicht aus – was für ein besseres Argument sollte es geben, als dass- wie Marx es einmal ausdrückte - „der Kapitalismus sich überlebt hat und Platz machen sollte für eine andere und vernünftigere Produktionsweise“.

Ungleiche Entwicklung

Ich beginne mit dieser Schlussfolgerung, weil ich es wichtig, wenn nicht gar dramatisch finde, wie ich es immer wieder über die Jahre in meinen Schriften versucht habe darzustellen, dass es ein Fehler ist, wenn man die geographische Dynamik des Kapitals nicht versteht oder die geographische Dimension nur als etwas Beschränkendes oder Zweitrangiges ansieht. Es würde bedeuten, sowohl den Kern der ungleichen geographischen Entwicklung des Kapitalismus zu missverstehen, als auch Möglichkeiten zu verpassen, radikale Alternativen aufzubauen. Aber dies stellt eine akute Schwierigkeit der Analyse dar, da wir ständig damit konfrontiert sind, universelle Prinzipien betreffs der Rolle von Räumen, Orten und Umfeldern in der kapitalistischen Dynamik aus dem Meer der oft flüchtigen geographischen Besonderheiten herauszufischen. Also: können wir ein geographisches Verständnis in unsere Theorien des evolutionären Wandels integrieren? Schauen wir uns die tektonischen Verschiebungen genauer an.

Im November 2008, kurz nach der Wahl eines neuen Präsidenten, gab der National Intelligence Council (NICS) der USA seine Mutmaßungen heraus, wie die Welt 2025 aussehen würde.

Vielleicht zum ersten Mal prophezeite eine quasi offizielle Einrichtung in den USA, dass die USA bis 2025 zwar immer noch der mächtigste, einzelne Player in Weltangelegenheiten sein wird, aber nicht mehr der beherrschende. Die Welt würde multipolar sein, weniger zentriert, und die Macht von nicht staatsgebundene Akteuren würde zunehmen. Der Bericht räumte ein, dass die Vorherrschaft der USA sich schon lange, mal stärker, mal schwächer, abgeschwächt hat, betont aber, dass ihre wirtschaftliche, politische und sogar militärische Dominanz nun systematisch verblasst. Darüber hinaus werde sich (und es ist wichtig zu beachten, dass der Bericht vor dem Zusammenbruch des US- und britischen Finanzsystems vorbereitet wurde) „die beispiellose Verschiebung in Reichtum und wirtschaftlicher Macht von West nach Ost, die bereits in Vorbereitung ist, fortsetzen“.

Diese „beispiellose Verschiebung“ hat den lang anhaltenden Sog von Reichtum vom Osten, Südosten und Süden Asiens nach Europa und Nordamerika umgekehrt, den es seit dem 18. Jahrhundert gab, ein Sog, den Adam Smith in seinem Buch „Wohlstand der Nationen“ bedauerte, der sich aber während des ganzen 19.Jahrhunderts ständig beschleunigte.

Der Aufstieg Japans in den 60ern, gefolgt von Südkorea, Taiwan, Singapore und Hongkong in den 70ern und dann das schnelle Wachstum von China nach 1980, später begleitet durch die Industrialisierungsspurts in Indonesien, Indien, Vietnam, Thailand und Malaysia während der 90er hat das Gravitationszentrum der kapitalistischen Entwicklung verändert, obwohl es überhaupt nicht glatt verlief. Die ost- und südostasiatische Finanzkrise 1997/8 führte zu einem kurzen aber heftigen Rückfluss von Reichtum, zurück an die Wallstreet und hin zu den europäischen und japanischen Banken. Die wirtschaftliche Hegemonie scheint sich hin zu einer Konstellation von Mächten in Ostasien zu bewegen. Krisen sind, wie schon häufig festgestellt, Momente von radikalen Veränderungen in der kapitalistischen Entwicklung. Es ist eine Tatsache, dass die USA mit einer Staatsverschuldung auf enorm hohem Niveau jetzt ihren Weg aus den finanziellen Schwierigkeiten mit noch größeren Defiziten finanzieren muss, die zum größten Teil gedeckt werden durch jene Länder mit angesparten Überschüssen: Japan, China, Südkorea, Taiwan und die Golfstaaten. Jetzt scheint der Augenblick gekommen zu sein für die Konsolidierung einer solchen Verschiebung.

Verschiebungen dieser Art hat es in der langen Geschichte des Kapitalismus schon früher gegeben.

In Giovanni Arrighis gründlicher Darstellung in „Das lange 20. Jahrhundert“ sehen wir die Hegemonie sich verschieben von den Stadtstaaten Genua und Venedig im 16. Jahrhundert hin zu Amsterdam und den Niederlanden in dem 17. Jahrhundert, bevor sie sich im späten 18. Jahrhundert in Großbritannien konzentrierte und schließlich die USA 1945 die Kontrolle übernahmen. Arrighi unterstreicht eine Reihe von typischen Merkmalen bei diesen Übergängen, die für unsere Analyse relevant sind.

Arrighi betont, dass jede Verschiebung mit dem Ausbruch einer heftigen Finanzkrise zusammen hing (er zitiert zustimmend Braudels Maxime, dass Finanzkrisen den Herbst einer Hegemonialkonfiguration ankündigen).

Jeder Übergang zog auch einen radikalen Wechsel in der Größenordnung der wirtschaftlichen Aktivitäten nach sich, von den kleinen Städten zu Beginn bis hin zur kontinentalen Wirtschaft der US in der zweiten Hälfte des 20sten Jahrhunderts. Dieser Wechsel der Größenordnung macht Sinn angesichts des kapitalistischen Gesetzes der endlosen Akkumulation und der ständigen Wachstumsrate von mindestens 3%.

Allerdings sind hegemoniale Verschiebungen, so argumentiert Arrighi, nicht im Voraus determiniert. Sie hängen davon ab, ob eine Macht auftaucht, die wirtschaftlich fähig und politisch und militärisch bereit ist, die Rolle des globalen Hegemons (mit seinen Vor- und Nachteilen) zu spielen. Die Weigerung der USA vor dem 2. Weltkrieg, diese Rolle anzunehmen, bedeutete ein Interregnum von multipolaren Spannungen, das nicht die Tendenz zum Krieg aufhalten konnte (Großbritannien war nicht länger in der Lage, seine frühere Hegemonialrolle aufrecht zu erhalten).

Vieles hängt auch davon ab, wie der frühere Hegemon sich angesichts des Schrumpfens seiner früheren Rolle verhält. Er kann sich friedlich oder kriegerisch aus der Geschichte verabschieden. Aus dieser Sicht schafft die Tatsache, dass die USA noch immer eine überwältigende Macht besitzt, ein beängstigendes Scenario für jeden zukünftigen Übergang, vor allem vor dem Hintergrund ihrer schwächer werdenden wirtschaftlichen und finanziellen Macht und ihrer zunehmend schwankenden moralischen und kulturellen Autorität. Noch dazu ist es nicht klar, ob China - Hauptkandidat für die Nachfolge der USA - die Fähigkeit oder den Willen besitzt, eine Hegemonialrolle einzunehmen. Chinas Bevölkerung ist zweifellos groß genug, um die Anforderungen der wachsenden Größenordnung zu erfüllen, aber weder seine Wirtschaft noch seine politische Autorität (oder nicht einmal sein politischer Wille) deuten auf eine leichte Thronfolge als globaler Hegemon hin. Bei den gegebenen nationalen Trennungen ist die Idee, dass ein Bündnis von ostasiatischen Mächten die Aufgabe übernehmen könnte, ebenso unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, eine zerstückelte und gespaltene Europäische Union oder die so genannten BRIC-Mächte (Brasilien, Russland, Indien und China) könnten langfristig auf gemeinsamem Pfad bleiben. Deshalb erscheint die Voraussage plausibel, dass für eine lange Zeit ein weiteres Interregnum multipolarer und konfliktträchtiger Interessen und globaler Instabilität vor uns liegt.

Schulden als Hauptindikator

Die tektonische Verschiebung weg von der US Dominanz und Hegemonie findet schon seit einiger Zeit statt und wird jetzt viel deutlicher. Die These sowohl von einer exzessiven Finanzkrise und von den „Schulden als einem Hauptindikator für die Entkräftung von führenden Weltmächten“ hat eine populäre Stimme in den Schriften Kevin Phillips gefunden. Die gegenwärtigen Versuche, die Herrschaft der USA wieder aufzubauen durch Reformen in der Struktur sowohl der nationalen und globalen Verknüpfungen von Staaten und Finanzmärkten scheinen nicht zu wirken, während der Ausschluss, der dem Rest der Welt bei der Suche nach einer neuen die Architektur auferlegt wird, ziemlich sicher heftige Opposition, wenn nicht sogar offene Wirtschaftskonflikte provozieren wird.

Tektonische Verschiebungen dieser Art passieren nicht wie durch Zauberei. Während die historische Geographie sich verschiebender Tektonik, wie sie Arrighi beschreibt, ein klares Muster hat und es von der Historie aus auch klar ist, dass solchen Verschiebungen Perioden der Finanzialisierung vorangehen, liefert Arrighi keine tiefgehende Analyse der Prozesse, die solche Verschiebungen zu allererst produzieren. Natürlich führt er die „endlose Akkumulation“ und deshalb das Wachstumssyndrom (die 3% Wachstumsregel) zur Erklärung an. Das impliziert, dass sich die Hegemonie im Laufe der Zeit von kleineren (z. B. Venedig) hin zu größeren Einheiten (z.B. USA) bewegt. Es ist auch klar, dass die Hegemonie in einer politischen Einheit liegen muss, in der ein großer Teil der Wertschöpfung produziert wird (oder zu dem ein großer Teil der Wertschöpfung fließt in Form von Abgaben oder imperialen Abzügen). So betrug 2005 bei einem globalen Output von 45 Bill. $ der US-Anteil 15 Bill. $. Die USA hatten damit den dominanten Anteil am globalen Kapitalismus und diktierten auch die globale Politik (z.B. als Hauptanteilseigner in den internationalen Institutionen wie Weltbank und IWF). Der NCIS-Bericht (s.o.) begründet seine Voraussage vom Verlust der Vorherrschaft bei gleichzeitigem Erhalt einer starken Position u. a. mit dem fallenden Anteil der USA am globalen Output relativ zum Rest der Welt und insbesondere gegenüber China.

Politische Auswirkungen ökonomischer Verschiebungen

Es ist keineswegs ausgemacht, meint Arrighi, wie die politische Ebene auf solche Verschiebungen reagiert. Das Angebot der USA für globale Hegemonie unter Woodrow Wilson während und unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg wurde in den US vereitelt durch eine innere Präferenz für Isolationalismus (deshalb scheiterte auch der Völkerbund) und erst nach dem 2. Weltkrieg (in den die Bevölkerung ja vor Pearl Harbor nicht eintreten wollte) nahmen die USA ihre Rolle als globaler Hegemon an, durch eine überparteiliche Außenpolitik, die mit dem Bretton Woods Abkommen verankert wurde und damit festlegte, wie die Nachkriegsordnung (angesichts des Kalten Krieges und der sich ausdehnenden Bedrohung des Kapitalismus durch den internationalen Kommunismus) organisiert werden sollte. Dass die USA sich schon lange in einen Staat entwickelt hatten, der prinzipiell die Rolle eines globalen Hegemons hätte spielen können, war evident seit ihren frühen Jahren. Sie besaßen relevante Doktrinen wie „Manifest Destiny“ (schicksalsmäßige Aufgabe zur kontinentalen geographischen Ausdehnung, die sich schließlich über den Pazifik und die Karibik ergoss, bevor sie global wurde ohne weitere territoriale Erwerbungen) oder die „Monroe Doktrin“, welche die Europäischen Mächte warnte, den amerikanischen Kontinent in Ruhe zu lassen (die Doktrin war in Wirklichkeit vom britischen Außenminister Canning in den 1820er Jahren formuliert worden, aber sofort von den USA übernommen worden). Die USA besaßen die notwendige Dynamik, um einen wachsenden Anteil des globalen Outputs zu erstellen und verpflichteten sich auf eine Version von beschränktem Markt - oder „Monopol“- Kapitalismus, getragen von einem Ellbogen-Individualismus. Daher gibt es die Vorstellung, dass sich die USA in ihrer ganzen Geschichte auf die Übernahme der Rolle als Welthegemon vorbereitet habe. Die einzige Überraschung bestehe darin, dass es der 2. statt des 1. Weltkriegs war, der sie dazu führte, diese Rolle zu übernehmen. So wurden die Zwischenkriegsjahre der Multipolarität und der chaotischen Konkurrenz imperialen Ehrgeizes überlassen, der Art, wie sie der NCIS Bericht als Situation ab 2025 befürchtet.

Reaktionen auf die Krise

Die tektonische Verschiebung, die sich jetzt vollzieht, ist jedoch beeinflusst durch die radikale geographische Ungleichheit der ökonomischen und politischen Möglichkeiten, auf die augenblickliche Krise zu reagieren. Lassen Sie mich mit einem handgreiflichen Beispiel illustrieren, wie sich diese Ungleichheit auswirkt.

Als sich die Depression, die 2007 begann, vertiefte, wurde von vielen das Argument vorgebracht, dass es einer voll entwickelten keynesianischen Lösung bedürfe, um den globalen Kapitalismus aus dem Durcheinander zu führen, in dem er sich befand. Zu diesem Zweck wurden eine Reihe von Konjunkturanreizen und Maßnahmen zur Stabilisierung von Banken vorgeschlagen und bis zu einem bestimmten Grad in verschiedenen Ländern in unterschiedlicher Weise durchgeführt, in der Hoffnung, diese Maßnahmen würden die Schwierigkeiten lösen. Die vielen angebotenen Lösungen unterschieden sich immens, abhängig von den ökonomischen Umstände und den vorherrschenden politischen Meinungen (die Deutschland zum Beispiel in eine feindliche Position gegenüber Frankreich und GB in der EU brachten).

Barrieren in den USA

Man beachte die unterschiedlichen ökonomischen und politischen Möglichkeiten in den US und China und die potentiellen Folgen für beides, für die Machtverschiebung in der Welt und für die Methoden, mit der die Krise gelöst werden könnte.

In den USA ist jeder Versuch, eine adäquate keynesianische Lösung zu finden, von Anfang an zum Scheitern verurteilt durch wirtschaftliche und politische Hindernisse, die kaum überwunden werden können.

Wenn eine keynesianische Lösung Erfolg haben sollte, würde das eine massive und lang andauernde Defizitfinanzierung erforderlich machen. Zu recht wurde argumentiert, dass Roosevelts Versuch 1937/8, zu einem ausgeglichenen Haushalt zurückzukehren, die US wieder zurück in die Depression warf, und dass es deshalb der 2. Weltkrieg war, der die Lage rettete und nicht Roosevelts zaghafter Versuch der Schuldenfinanzierung des New Deal. Selbst wenn die institutionellen Reformen sowie der Anstoß zu einer egalitäreren Politik die Fundamente für die Nachkriegserholung legten, so ist der New Deal gescheitert bei dem Versuch, die Krise in den US alleine zu lösen.

Das Problem der USA 2008/9 ist, dass sie mit einer chronischen Verschuldung gegenüber dem Rest der Welt beginnen (sie haben sich in den letzten 10Jahren täglich mehr als $ 2 Milliarden geliehen) und das setzt eine ökonomische Grenze für das Ausmaß der zusätzlichen Defizitausgaben, die man jetzt vornehmen kann. (Das war kein ernsthaftes Problem für Roosevelt, der mit einem einigermaßen ausgeglichenen Haushalt begann).

Es gibt da auch eine geopolitische Grenze, denn die Finanzierung jedes zusätzlichen Defizits ist begrenzt von der Bereitschaft anderer Mächte (hauptsächlich aus Ostasien und den Golfstaaten) zu leihen.

In beiderlei Hinsicht wird der ökonomische Stimulus, der den US zur Verfügung steht, aller Voraussicht nach weder groß genug noch nachhaltig genug sein, um die Aufgabe zu erfüllen, die Wirtschaft wieder zum Wachsen zu bringen.

Dieses Problem wird verschlimmert durch den ideologischen Widerstand von Teilen beider Parteien, so große Defizitausgaben zu bejahen, die erforderlich sind, ironischer Weise teilweise weil die frühere Republikanische Regierung nach Dick Cheneys Prinzip arbeitete:„Reagan lehrte uns, dass Defizite nicht wichtig sind.“ Wie Paul Krugman, der führende öffentliche Fürsprecher einer keynesianischen Lösung, argumentiert hat, sind die $800 Mrd, die der Kongress 2009 widerwillig beschlossen hat, wenn auch besser als nichts, so doch bei weitem nicht ausreichend. Es bräuchte etwas in der Größenordnung von 2 Billionen Dollar, um die Aufgabe zu erledigen, und das ist wirklich zuviel an Schulden im Vergleich zum jetzigen Schuldenstand der USA. Die einzige mögliche wirtschaftliche Option läge darin, den schwachen Keynesianismus exzessiver Militärausgaben durch stärkere keynesianische Sozialprogramme zu ersetzen. Das Halbieren des US Verteidigungshaushalts (den man dann – als Anteil am BiP - mehr dem europäischen Niveau angleichen würde ) könnte helfen, aber das wäre natürlich politischer Selbstmord für jeden, der das vorschlagen würde, wenn man die Haltung der Republikanischen Partei und vieler Demokraten berücksichtigt.

Die zweite Barriere ist rein politisch. Um wirksam zu sein, muss das Konjunkturprogramm so verwaltet werden, , dass es zu Ausgaben für Waren und Dienstleistungen kommt, sodass die Wirtschaft wieder zum Brummen gebracht wird. Das heißt alle Unterstützungen müssen an jene gehen, die das Geld auch sofort wieder ausgeben werden, d.h. an die unteren Klassen, denn selbst die Mittelschicht wird alles Geld sehr wahrscheinlich wieder für den Kauf von Vermögensanlage ausgeben (z.B. zum Kauf von zwangsversteigerten Häusern), anstatt ihre Ausgaben für den Kauf von Waren oder Dienstleistungen zu erhöhen. Jedenfalls tendieren viele Leute in schlechten Zeiten dazu, zusätzliches Einkommen für die Rückzahlung von Schulden zu verwenden oder zu sparen (so wie es in großem Umfang mit den $600 Steuernachlässen passierte, die die Bush Regierung im Frühsommer 2008 gewährte).

Was weise und vernünftig für die einzelnen Haushalte erscheint, verspricht nichts Gutes für die Volkswirtschaft als Ganzes ( ähnlich wie die Banken, die vernünftiger Weise öffentliche Gelder genommen haben und sie entweder gehortet oder Vermögenswerte gekauft haben, statt sie zu verleihen). Die vorherrschende Feindschaft in den USA, „Wohlstand zu verteilen“ und irgendeine Form der Unterstützung zu vergeben außerhalb von Steuererleichterungen, entspricht der hart gesottenen neoliberalen Ideologie ( keineswegs beschränkt auf die Republikanische Partei), dass die privaten „Haushalte es am besten wissen“.

Diese Doktrinen sind weit verbreitet wie ein Glaubensbekenntnis, akzeptiert nach mehr als 30 Jahren neoliberaler Indoktrinierung in der amerikanischen Öffentlichkeit Wir sind, wie ich wo anders bereits ausgeführt habe, „jetzt alle Neoliberale“, meistens ohne es überhaupt zu wissen. Da gibt es ein stilles Einverständnis, z.B. dass „Lohndrücken“ - eine Schlüsselkomponente des augenblicklichen Problems – eine „normale“ Lage der Dinge in den USA ist. Eines der drei Bestandteile einer keynesianischen Lösung: mehr Macht der Arbeiterbewegung, Lohnsteigerungen und Umverteilung hin zu den unteren Klassen, ist zum augenblicklichen Zeitpunkt politisch nichtdurchsetzbar. Allein der Vorwurf, dass solch ein Programm dem „Sozialismus“ gleich komme, lässt die Reihen des politischen Establishments erschaudern wie bei einem terroristischen Anschlag.

Die Arbeiterbewegung ist nach 30 Jahren der Schläge durch die politischen Mächte nicht stark genug; es ist momentan keine breite soziale Bewegung in Sicht, die eine Umverteilung zu Gunsten der arbeitenden Klassen erzwingen kann.

Ein zweiter Weg, keynesianische Ziele zu erreichen, besteht darin, Gemeinschaftsgüter bereitzustellen. Dies hat traditionell Investitionen in sowohl materielle wie auch soziale Infrastruktur nach sich gezogen. Die WPA- (Work Progress Administration) Programme der 30er Jahre sind ein Vorläufer davon. Deshalb gibt es den Versuch, in die Konjunkturprogramme Programme einzufügen, um Infrastruktur für Verkehr, Kommunikation, Energie und andere öffentliche Arbeiten wieder aufzubauen oder auszudehnen, gleichzeitig mit erhöhten Ausgaben für Gesundheit, Erziehung, städtische Dienstleistungen und ähnliches. Diese kollektiven Güter haben das Potential, Multiplikatoreffekte zu erzeugen, sowohl direkt für die Beschäftigung als auch indirekt für die effektive Nachfrage nach weiteren Gütern und Dienstleistungen. Die Annahme ist, dass diese kollektiven Güter ab einem bestimmten Punkt zu der Kategorie „produktive Staatsausgaben“ gehören werden (d.h. weiteres Wachstum anregen) statt eine Reihe von öffentlichen „weißen Elefanten“ zu erzeugen, die, wie Keynes vor langer Zeit bemerkte, nichts anderes bedeuteten als Leute einzustellen zum Ausgraben von Gräben und sie dann wieder aufzufüllen. In anderen Worten: eine Infrastruktur- Investment- Strategie muss abzielen auf die systematische Wiederbelebung von 3% Wachstum durch z.B. die systematische Planung unserer urbanen Infrastruktur und Lebensweise. Dies wird nicht gelingen ohne ausgeklügelte staatliche Planung plus eine existierende produktive Grundlage, die die neuen infrastrukturellen Konfigurationen ausnutzen kann. Auch hier machen die lange Geschichte der Deindustrialisierung in den USA und die intensive ideologische Gegnerschaft zu staatlicher Planung (Elemente davon waren in Roosevelts New Deal vorhanden und setzten sich fort bis in die 1960er Jahre, bis sie durch den neoliberalen Angriff auf die Staatsmacht in den 1980er Jahren abgeschafft wurden) und die offensichtliche Präferenz für Steuererleichterungen statt für infrastrukturelle Transformationen es unmöglich, in den US eine vollständige keynesianische Lösung zu verfolgen.

China ist anders

In China dagegen existieren sowohl die wirtschaftlichen wie die politischen Bedingungen für eine konsequente keynesianische Lösung, und es gibt dort eine Vielzahl an Anzeichen dafür, dass ein solcher Weg beschritten wird.

Zu allererst: China hat eine riesige Reserve an ausländischer Währung und auf dieser Basis ist eine Schuldenfinanzierung einfacher als auf der Basis eines bereits großen Schuldenberges wie im Fall der USA. Es ist auch wichtig zu beachten, dass seit Mitte der 1990er Jahre die „toxischen Papiere“ (die nicht verkäuflichen, faulen Anleihen) der chinesischen Banken (einige Schätzungen setzten sie auf 40% aller Kredite 2000 an) aus den Büchern der Banken getilgt sind durch gelegentlichen Zuweisungen von Währungsreserven. Die Chinesen haben ein langfristiges Programm, das dem TARP Programm (Troubled Asset Relief Programm = Bankensicherungsprogramm der USA vom Sept. 2008) in den US gleichwertig ist und sie wissen augenscheinlich, wie man das macht (wenn auch viele dieser Transaktionen durch Korruption befleckt sind).

Die Chinesen haben die wirtschaftlichen Mittel, sich in einem massiven Ausgabenprogramm zu engagieren und sie haben einen zentralisierten staatlichen Finanzapparat, um dieses Programm auch effektiv zu verwalten. Die Banken, die lange Zeit staatlich waren, sind nominell privatisiert, um den WTO-Anforderungen zu genügen und um ausländisches Kapital und Experten anzulocken, aber sie können leicht an den Staat gebunden werden, während in den US nur die geringste Anspielung von staatlicher Leitung geschweige denn von Verstaatlichung zu einem politischen Aufruhr führt.

Es gibt auch absolut keine ideologischen Barrieren gegen eine Umverteilung wirtschaftliche Vorteile zugunsten der bedürftigsten Sektoren der Gesellschaft, obwohl es einige verfestigte Interessen wohlhabender Parteimitglieder und einer entstehenden Kapitalistenklasse zu überwinden gilt. Der Vorwurf, dies würde „Sozialismus“ bedeuten oder noch schlimmer „Kommunismus“, würde in China nur mit Schmunzeln beantwortet werden. Aber in China wird das Entstehen von Massenarbeitslosigkeit (im letzten Bericht sprach man von einigen 20 Millionen Arbeitslosen als Ergebnis des Wachstumsrückgangs), und die ersten Anzeichen von weit verbreiteten und schnell eskalierenden Unruhen ganz sicher die Kommunistische Partei zu massiven Umverteilungen bewegen. Anfang 2009 schien diese Umverteilung in erster Linie darauf gerichtet zu sein, die rückständigen ländlichen Gebiete zu beleben, in die viele arbeitslose Wanderarbeiter zurückgekehrt sind, da sie ihre Arbeitsplätze in den Gebieten des verarbeitenden Gewerbes verloren haben. In diesen Gebieten fehlt es sowohl an sozialer wie auch an materieller Infrastruktur. Ein starker Zuschuss der Zentralregierung wird die Einkommen erhöhen, effektive Nachfrage schaffen und den langen Prozess der Konsolidierung des inneren chinesischen Marktes in Angriff nehmen.

Zweitens gibt es eine starke Neigung, die massiven Investitionen in die Infrastruktur zu unternehmen, die in China immer noch fehlen (während Steuererleichterungen nahezu keinen politischen Reiz haben). Während einige davon sich in „weiße Elefanten“ verwandeln könnten, so ist doch die Wahrscheinlichkeit dafür viel geringer, da ja noch eine immens große Arbeit getan werden muss, um den chinesischen Raum zu integrieren und sich so mit dem Problem der ungleichen geographischen Entwicklung zwischen den Küstenregionen mit ihrem hohen Entwicklungsniveau und den verarmten inneren Provinzen auseinanderzusetzen. Die Existenz einer extensiven, wenn auch problembeladenen industriellen und handwerklichen Basis, die dringend der räumlichen Rationalisierung bedarf, macht es wahrscheinlicher, dass die chinesischen Bemühungen in die Kategorie produktiver Staatsausgaben fallen. Für die Chinesen kann viel von dem Überschuss in die weitere Entwicklung des Raumes gesteckt werden, auch wenn man zugeben muss, dass in Städten wie Shanghai – ähnlich wie in den USA - die Spekulation auf den urbanen Immobilienmärkten ein Teil des Problems und nicht Teil der Lösung ist. Infrastrukturelle Ausgaben, vorausgesetzt sie werden in ausreichender Größenordnung durchgeführt, werden eine ganze Menge erreichen auf dem Weg, überschüssige Arbeitskraft zu integrieren und dadurch soziale Unruhe zu reduzieren und den inneren Markt zu fördern.

Internationale Implikationen

Diese völlig verschiedenen, ja gegensätzlichen Möglichkeiten für eine voll entwickelte keynesianische Lösung in China und in den USA haben tiefe internationale Implikationen.

Falls China mehr von seinen finanziellen Reserven benutzt, um seinen inneren Markt zu fördern, wie es aus politischen Gründen ziemlich sicher gezwungen sein wird, wird es weniger davon übrig haben, um sie den USA zu leihen. Weniger Käufe amerikanischer Schuldverschreibungen werden (in den US, d. Übers.) höhere Zinsen erzwingen und die innere Nachfrage in den USA negativ beeinflussen, und wenn es nicht vorsichtig gemacht wird etwas lostreten, was jedermann fürchtet und was bisher abgewendet werden konnte: den Verfall des Dollars.

Eine stufenweise Abkehr von der Abhängigkeit von den US Märkten und den Ersatz des inneren Marktes als Quelle effektiver Nachfrage für die chinesische Industrie wird das Machtgleichgewicht bedeutend verändern (und wird - nur am Rande bemerkt - stressig sein sowohl für China wie auch die US). Die chinesische Währung wird notwendigerweise gegenüber dem Dollar steigen (eine Bewegung, die die amerikanischen Behörden seit langem gefordert aber insgeheim gefürchtet haben), was die Chinesen zwingt, sich umso mehr auf für die Gesamtnachfrage ihres inneren Marktes zu verlassen.

Die Dynamik innerhalb Chinas wird - im Gegensatz zur fortgesetzten Rezession in den USA - immer mehr von den globalen Rohstofflieferungen in den chinesischen Handelskreislauf hineinziehen und die relative Bedeutung der US im internationalen Handel mindern.

Der Gesamteffekt wird sein, dass sich der Reichtumsdrift vom Westen nach dem Osten beschleunigt und die Balance der hegemonialen ökonomischen Macht sich schnell verändern wird. Die tektonische Verschiebung in der Balance der globalen kapitalistischen Macht wird sich intensivieren mit allen möglichen unvorhersagbaren politischer und ökonomischer Auswirkungen in einer Welt, in der die USA nicht mehr in einer dominierenden Position sein werden, auch wenn sie noch bedeutsame Macht besitzen.

Die feine Ironie ist natürlich, dass die politischen und ideologischen Hindernisse, ein voll entwickeltes keynesianisches Programm durchzuführen, ziemlich sicher den Verlust der US-Dominanz in den Weltangelegenheiten beschleunigen wird, auch wenn die Welteliten (einschließlich der chinesischen) diese Dominanz so lange wie möglich erhalten möchten.

Ob in Chinas ein echter Keynesianismus (zusammen mit Ländern in ähnlicher Position) ausreichen wird, um das unausweichliche Scheitern des zögerlichen Keynesianismus im Westen wettzumachen oder nicht, ist eine offene Frage, aber die Ungleichheit, gekoppelt mit der schwindenden US Hegemonie, könnte gut der Vorbote sein für das Auseinanderbrechen der Weltökonomie in regionale hierarchische Strukturen, die genauso leicht heftig mit einander konkurrieren könnten wie sie zusammenarbeiten können an der elenden Frage, wer die Hauptlast einer lang anhaltenden Depression zu tragen haben wird.

Das ist nicht gerade ein ermutigender Gedanke, aber wenn man an eine solche Aussicht denkt, könnten viele im Westen durch die Dringlichkeit der Aufgaben vorher aufgeweckt werden. Und sie könnten die politischen Führer dazu bringen, aufzuhören, Banalitäten über die Wiederherstellung von Vertrauen zu verbreiten und endlich damit anzufangen, was zu tun ist: den Kapitalismus vor den Kapitalisten und ihrer falschen neoliberalen Ideologie zu retten.

Und wenn das heißt: Sozialismus, Verstaatlichung, starke staatliche Lenkung, verbindliche internationale Zusammenarbeit und eine neue, inklusive (ich wage zu sagen „demokratische“) internationale Finanzarchitektur, na bitte, dann soll, dann muss es eben so sein.

* David Harvey ist ordentlicher Professor am Graduiertenzentrum der City University New York. Er unterhält den Blog „Marx`Kapital Lesen“ davidharvey.org

Übersetzung: Gerd Röder; Lektorat:SiG-Redaktion

Quelle: "Sand im Getriebe". Der deutschsprachige Newsletter von Attac Österreich, Deutschland, Schweiz; http://sandimgetriebe.attac.at



Zurück zur Globalisierungs-Seite

Zur Seite "Neue Weltordnung"

Zurück zur Homepage