Donnerschlag in der zweiten Instanz
Italienische Polizisten und Einsatzleiter wegen Übergriffen beim G 8-Gipfel in Genua 2001 verurteilt
Von Jens Herrmann *
Das Berufungsgericht von Genua hat in zweiter Instanz Polizisten und Einsatzleiter für gewalttätige Übergriffe auf schlafende Globalisierungsgegner beim
G 8-Gipfel von 2001 in der norditalienischen Stadt verurteilt. In
erster Instanz waren die Einsatzleiter freigesprochen worden.
Fast neun Jahre nach den Ereignissen beim G8-Gipfel in Genua hat das Berufungsgericht der
norditalienischen Hafenstadt am späten Dienstagabend 25 meist hochrangige Polizisten zu hohen
Haftstrafen verurteilt. Das Gericht sah sie verantwortlich für den nächtlichen brutalen Polizeiüberfall
auf eine Schlafstätte von G 8-Gegnern in der so genannten Diaz-Schule. Bei dem Polizeiübergriff
waren mehr als 70 Personen - unter ihnen auch zahlreiche Deutsche - teilweise lebensgefährlich
verletzt worden.
Zusammengerechnet 85 Jahre Haftstrafen wurden nun in zweiter Instanz gegen die Polizeichefs
verhängt. Zudem hat das Gericht ihnen für fünf Jahre die Arbeit im Staatsdienst verboten. In erster
Instanz waren im November 2008 nur 13 Polizisten zu deutlich geringeren Strafen verurteilt worden.
Das Gericht sah die Angeklagten nun schuldig unter anderem der falschen Beschuldigung der
Demonstranten sowie der Urkunden- und Beweismittelfälschung. Während im erstinstanzlichen
Urteil die Polizeiführung noch freigesprochen wurde, kam das Berufungsgericht nun zu der
Auffassung, dass die während des Übergriffs anwesenden Polizeichefs voll in der Verantwortung für
die Prügelorgie stehen.
Die höchste Strafe wurde mit fünf Jahren gegen den Einsatzleiter der römischen Spezialpolizei
Vincenzo Canterini verhängt, dessen Einheit die meisten Gewaltverbrechen gegen die 93
Demonstranten in der Schule beging. Jeweils vier Jahre Haftstrafe verhängte das Gericht gegen den
heutigen Chef der Kriminalpolizei, Francesco Gratteri, sowie den aktuellen Chef der Polizei für
Information und innere Sicherheit (Inlandsgeheimdienst), Giovanni Luperi. Zu je drei Jahren und acht
Monaten wurden der damalige Chef der politischen Polizei in Genua und heutige
Polizeivizepräsident von Turin sowie der damalige Vizechef der mobilen Einsatzpolizei SCO
verurteilt.
Fabio Taddei von der Anwaltsvereinigung GLF, die G 8-Gegner in den vergangenen neun Jahren in
den zahlreichen Prozessen um die Gewalt während des G8-Gipfels 2001 vertreten hat, zeigte sich
sehr zufrieden mit dem Urteil: »Das Gericht hat anerkannt, dass die in der Diaz-Schule begangenen
Verbrechen von höchsten Polizeistellen angeordnet und begangen wurden. Das wichtigste Ergebnis
ist, dass diese Männer nun verurteilt wurden, ihre Staatsposten für fünf Jahre zu verlassen.« Den
Ausgang des Prozesses habe man vor allem der hervorragenden Arbeit der Staatsanwälte Enrico
Zucca und Francesco Albini zu verdanken, die die Ereignisse der Tatnacht akribisch rekonstruierten.
Die Freude wird jedoch etwas getrübt durch die Aussicht, dass dank einer Amnestieregelung und
der kurzen Verjährungszeiten für viele der Straftatbestände am Ende wohl keiner der Verurteilten ins
Gefängnis gehen wird.
Mit dem neuerlichen Urteil hat auch die Regierung Silvio Berlusconis eine Niederlage erlitten. Er
hatte sich bedingungslos hinter die Polizisten gestellt und die Demonstranten wie auch die Justiz
beschimpft.
Bereits im März war der Berufungsprozess wegen der Misshandlung von rund 250 Demonstranten in
einer Polizeikaserne während des G 8-Gipfels 2001 und danach mit einer ebenfalls deutlichen
Verschärfung des Urteils zu Ende gegangen. Aufgrund des Fehlens eines Anti-Folter-Paragraphen
im italienischen Gesetz und kurzer Verjährungsfristen blieben die Strafen für die verurteilten
Polizisten und Sanitäter jedoch vergleichsweise gering. Die Anwälte kündigten an, deshalb vor den
europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen.
* Aus: Neues Deutschland, 20. Mai 2010
Knast für Prügelpolizisten
Von Micaela Taroni, Rom **
Mit Jubel und Freudenrufen haben Globalisierungsgegner am Dienstag (19. Mai) in Genua das Urteil über die Polizisten begrüßt, die wegen der schweren Übergriffe auf Demonstranten beim
G-8-Gipfeltreffen 2001 in der norditalienischen Hafenstadt angeklagt waren. Fast neun Jahre nach der brutalen Mißhandlung von Protestierenden durch die Polizei hoben die Richter in dem Berufungsprozeß die milden Urteile und Freisprüche aus der
Vorinstanz auf und verurteilten 25 der einst 29 Angeklagten zu hohen Haftstrafen. Zu ihnen gehört auch die damalige Leitung der Einsatzkräfte. In der ersten Instanz war die Hälfte der 29 Angeklagten noch freigesprochen worden.
In dem Verfahren ging es um die Mißhandlung von Demonstranten, die in einer Schule übernachtet hatten. Die Polizei hatte die Schlafenden nachts regelrecht überfallen. Die damals Verhafteten berichteten von Schlägen, Beleidigungen, systematischen Demütigungen und Folter. Betroffene mußten stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen und waren Schlafentzug, Androhung sexueller Gewalt sowie CS-Gas in den Zellen ausgesetzt. Einige wurden gezwungen, faschistische Lieder zu singen und vor Fotos des italienischen Diktators Mussolini zu salutieren, während anderen Finger gebrochen und Piercings ausgerissen wurden.
Mit fünf Jahren Haft wurde die höchste Strafe nun gegen den früheren Kommandeur einer Einheit der Bereitschaftspolizei, Vincenzo Canterini, verhängt, der erstinstanzlich nur zu vier Jahren Haft verurteilt worden war. Die Richter gingen davon aus, daß auch die Führungsinstanzen der Polizei über die Vorfälle in der Schule informiert waren. Beim erstinstanzlichen Urteil im November 2008 waren nur 13 der 29 Angeklagten verurteilt worden, weil sie direkt an Mißhandlungen beteiligt gewesen waren. Ihre Vorgesetzten waren hingegen mit der Begründung freigesprochen worden, sie seien über die Ereignisse in der Schule nicht informiert gewesen.
Damalige Opfer und andere Prozeßbeobachter sprachen nach dem Urteil von einer »Sensation«. »Das gibt den vielen Italienern und Ausländern den Mut zurück, die beim G-8-Gipfel schikaniert und verhaftet wurden«, sagte ein Engländer, der selbst in Genua verprügelt worden war. Zufrieden zeigte sich ebenso Haidi Giuliani, die Mutter des während des Gipfels von einem Polizisten erschossenen Aktivisten Carlo Giuliani.
Auch die kommunistische Partei Rifondazione Comunista begrüßte das Urteil. Die Demonstranten seien einer willkürlichen und mörderischen Gewalt ausgesetzt gewesen, dafür müßten die Täter nun bezahlen. Nie wieder dürfe in einer Demokratie ein solches Rechtsvakuum entstehen, in dem die Gesetze und die Verfassung außer Kraft gesetzt werde, wie dies beim G-8-Gipfel in Genua geschehen sei.
Weitergehende Konsequenzen aus dem Urteil will die Rechtsregierung von Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der auch während der Übergriffe 2001 im Amt gewesen war, jedoch nicht ziehen. Sogar eine Entlassung der noch im Dienst befindlichen Polizisten, die nun verurteilt wurden, lehnte der stellvertretende italienische Innenminister Alfredo Mantovano ab. Die Beamten hätten nach wie vor das Vertrauen des Sicherheitsapparates und seines Ministeriums, sagte Mantovano und kündigte an, die Verurteilung der Polizisten beim obersten italienischen Gericht anfechten zu wollen.
** Aus: junge Welt, 20. Mai 2010
Zurück zur Globalisierungs-Seite
Zur Seite "Friedensbewegung und andere soziale Bewegungen"
Zurück zur Homepage