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"Wo ist die Spendenbüchse?"

Polizeipatrouillen, Bautrupps und ein Grand Hotel im Nirgendwo: Vor dem G-8-Gipfel wird Heiligendamm zum Sinnbild einer Globalisierung von oben

Von Sebastian Wessels *

Im Rot der untergehenden Sonne schlendern vereinzelt Menschen den schmalen Strand entlang. Eine Frau mittleren Alters sammelt Muscheln. Die Ostsee bricht sich an Felsbrocken und Kieseln. Schaut man vom »Kinderstrand« aus nach Osten, erblickt man die Seebrücke, die rund 200 Meter ins Meer ragt. Sie ist als Bootsanleger gedacht, aber vor allem bei Urlaubern und Spaziergängern beliebt. An diesem Abend im frühen Mai haben sich Angler darauf niedergelassen. Jenseits der Strandpromenade prunkt in Höhe der Seebrücke das Hauptgebäude des Grand Hotel Kempinski. Weiter in Richtung Osten führt die Promenade an den sechs Villen vorbei, deren Ensemble die »Perlenkette« genannt wird. Im Januar waren es noch sieben – die »Villa Perle«, die dem Grand Hotel am nächsten stand, ist abgerissen und zu Straßensplitt verarbeitet worden. Nur das Braun, das durch den nachwachsenden Rasen schimmert, verrät noch vage, wo sie einmal stand.

Spätestens hier fragt man sich, ob der Eindruck täuscht, daß man sich in einem malerischen, verschlafenen und stinknormalen Dorf an der Ostsee befindet: Die Bombastik des Grand Hotels stammt aus einer anderen Welt – der Bruch zwischen der Perlenkette und den Hotelbauten ist unübersehbar, obwohl letztere den Klassizismus der Villen nachahmen. Denn diese stehen seit etwa zehn Jahren leer und bedürfen dringend der Restauration; ihr einstiges Weiß ist ergraut, während die um ein Vielfaches größeren Kempinski-Bauten hell erstrahlen.

Auch erblickt man hier bald eine andere Art von Flaneuren, die schwarz gekleidet und aus der Ferne unauffällig sind, aber trotz ihrer langsamen Bewegung eine Anspannung ausstrahlen, die man bei Anglern und Urlaubern vergeblich suchen würde. Vielleicht liegt es an ihren herumschweifenden Blicken, vielleicht an etwas Offiziösem in ihrer Körperhaltung. Kommt man ihnen näher, wird der kleine, weiße Schriftzug auf ihren schwarzen Schirmmützen sichtbar: »Polizei«.

Heiligendamm retten

»Wir sind keine G-8-Gegner, wir wollen Heiligendamm retten«, betont Axel Thiessenhusen, Vertreter der Bürgerinitiative »Für Öffentlichkeit in Heiligendamm«. Die Initiative kämpft seit Jahren für den Erhalt des historischen Ostseebades für die Öffentlichkeit, und das heißt oft auch: gegen die Fundus-Immobiliengruppe, der ein Großteil des 280-Seelen-Städtchens rund um das Grand Hotel gehört. Dafür wurden Mitglieder der Bürgerinitiative immer wieder als »Ewiggestrige«, »Meckerer« und »Nestbeschmutzer« beschimpft, zuweilen auch drangsaliert und immer wieder verklagt. Da will man die Angelegenheit nicht durch eine Stellungnahme zur G-8-Politik noch komplizierter machen. Heiligendamm steuere auf ein Desaster zu, aber daran seien nicht die G 8 schuld, betont er, sondern Fundus, der Bürgermeister, der Stadtrat und die Landesregierung.

Abgründe tun sich auf, wenn der in Rostock wohnende, lebhafte Mittdreißiger davon berichtet, wie sich die Fundus-Gruppe seit 1997 Stück für Stück Heiligendamms bemächtigt, mit denkmalgeschützten Bauten nach Belieben verfährt und den öffentlichen Raum zurückdrängt. So führt etwa für die Bürger kein Weg mehr zwischen den Hotelgebäuden hindurch zur Seebrücke – sie müssen einige hundert Meter Umweg in Kauf nehmen. Die Tausenden schaulustigen »Ballonseide- und Netzhemdträger« seien den Hotelgästen nicht zuzumuten, habe Fundus-Chef Anno August Jagdfeld verfügt.

Die Lokal- und Landespolitik hülle derweil alles in eine »Mauer des Schweigens«, klagt Thiessenhusen weiter. Niemand verlange Rechenschaft über den Verbleib der rund 50 Millionen Euro Fördermittel, die Fundus vom Land kassiert habe. Auch für die 250 Arbeitsplätze, die angeblich geschaffen wurden, fehle jeder Beleg. Seit Jahren werde einfach »gottgleich festgelegt«, was in Heiligendamm geschehe. So stellte die DDR bereits in den 70er Jahren die gesamte Perlenkette unter Denkmalschutz; noch 1996 wurde dieser Status offiziell bestätigt. Im Jahr 2004 allerdings entschied die Landesdenkmalbehörde, daß die drei Villen, die Fundus abreißen wollte – darunter die »Perle« –, nicht mehr schutzwürdig seien. Nun hieß es, vorangehende Gutachten seien »fehlerhaft« gewesen.

Vor dem G-8-Gipfel sei die Mauer des Schweigens noch undurchdringlicher geworden, sagt Thiessenhusen. Aber ewig könne das nicht so weiter gehen, »die Situation ist verrissen«. Schon jetzt sei das Hotel kaum ausgelastet. In den restaurierten oder neuerrichteten Villen sollen weitere Luxusdomizile entstehen; dazu ein Stück landeinwärts eine ganz neue Villensiedlung mit benachbartem Golfplatz. Niemand weiß, woher all die reichen Leute kommen sollen, um dieses Angebot auszulasten. Auch die Anleger scheinen das Interesse zu verlieren. Zuletzt hat sich die Hypo Vereinsbank aus dem Fonds zurückgezogen und eine Finanzierungslücke von 15 Millionen Euro hinterlassen. »Wahrscheinlich werden es die Finanzströme sein, die Fundus stoppen«, sagt Thiessenhusen, »und nicht wir. Aber wir haben es wenigstens versucht. Wir wollen uns nicht für dumm verkaufen lassen«.

»Wie vor 1989 ...«

Will man sich die Kontraste vor Augen führen, die dieser Tage eine Aura der Unwirklichkeit über Heiligendamm legen, bietet sich eine Fahrt mit der Meckenburgischen Bäderbahn »Molli« an, die zwischen dem Ostseebad und dem sechs Kilometer landeinwärts gelegenen Bad Doberan verkehrt, zu dem Heiligendamm gehört. Die kleinen Züge werden von einer echten Dampflok angetrieben, die auf ihrer holprigen Fahrt fröhlich bimmelt. Das mit hellem Holz ausgekleidete Innere der Waggons übermannt die Fahrgäste förmlich mit nostalgischer Heimeligkeit; einige müssen beim Einsteigen unwillkürlich grinsen. In unmittelbarer Nähe formiert sich derweil der größte Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik: Die »Besondere Aufbauorganisation« (BAO) namens »Kavala«, benannt nach einer griechischen Stadt, die wie Heiligendamm als »weiße Stadt am Meer« bezeichnet wird, zieht 16000 Polizisten zusammen. Auch Bundeswehr, Bundeskriminalamt, Bundesnachrichtendienst und ausländische Geheimdienste sind beteiligt. Zwei US-Kriegsschiffe werden vor der Küste postiert, 40 Wasserwerfer aufgefahren, ein 13 Kilometer langer Zaun soll mit Kameras und Bewegungsmeldern jedes Karnickel in seiner Nähe registrieren können, wie ein Polizist kürzlich prahlte. Mecklenburgs Innenminister Lorenz Caffier drohte Demonstranten bereits mit Schnellprozessen und mobilen Gefängnissen. Der unbeeindruckt durch die Landschaft tuckernde Molli scheint zu bestätigen: Das kann alles gar nicht sein.

Oder man durchquert den »Kleinen Wohld«, der den Ort westlich begrenzt, und besucht die Zaunbaustelle an seinem Außenrand. Ein Glied des Zaunes wurde hier noch offengelassen, so daß die Bauarbeiter, die gerade den »Unterkriechschutz« in die Erde bohren und die Zaunkrone mit Stracheldraht auskleiden, noch auf die andere Seite kommen. Polizisten in einem Kleinbus bewachen die Szene. Zahlreiche Radfahrer sind unterwegs, meist gut gelaunt, und fahren kopfschüttelnd durch die Lücke im Zaun. Nur wenige sind verunsichert und fragen, ob sie »hier noch durch« dürfen. »Na guck, endlich wieder wie vor ’89«, ruft ein älterer Radfahrer vergnügt seiner Frau zu, als er Zaun und Stacheldraht erblickt. Und dann, im Vorbeifahren an einen der Arbeiter gerichtet: »Da kommen doch Heimatgefühle auf, nicht?« Der Arbeiter nickt langsam und murmelt: »Ganz genau!«.

An den Ausläufern der Kühlungsborner Straße, um die sich die Gebäude Heiligendamms drapieren, stören nur die Kleinbusse der Polizei die verschlafene Beschaulichkeit. Um den Bahnhof herum herrscht dagegen lärmende Betriebsamkeit. Vom Kempinski aus in Richtung Kühlungsborn, nach Westen also, werden zur Linken noch eilig schmucklose Gebäude hochgezogen, die nach dem Gipfel wieder abgerissen werden sollen. Der Bordstein wird aufgemeißelt, Kabel werden verlegt. An den Tischen des Bahnhofs­cafés im Freien hält es zur Zeit trotz des Sommerwetters niemand lange aus, denn unter Höllenlärm vernietet eine Maschine weitere Gleise parallel zur Molli-Trasse. »Für G 8«, sagt eine Kellnerin. »Die werden aber nicht rückgebaut«, fügt ihre Kollegin hinzu, »die sind dann für Sonderzüge.« Molli-Sonderzüge? Sie nickt. Derzeit fährt Molli fünf Mal am Tag.

Während des Gipfels soll die Bäderbahn Journalisten umherkutschieren. Für den sonstigen Personenverkehr wird es dann noch zwei Zugänge zum Ort geben. »Wenn man dort über die Panzersperre fährt, ist einem schon seltsam zumute«, erzählt Ariane van Loh, Mitarbeiterin im Bad Doberaner Büro der Linkspartei-Landtagsabgeordneten Birgit Schwebs. Wie bitte, Panzersperre? Ein dreißig Tonnen schwerer Klotz, erläutert sie, der in die Straße eingelassen ist und nach Bedarf emporgehoben werden kann, so daß selbst ein Panzer nicht durchkäme.

Aalglatte Antworten

Van Loh und Schwebs widmen sich seit mehr als einem Jahr dem Thema G8 und machen regelmäßig Infoveranstaltungen. »Wir sind die einzige etablierte linke Kraft hier«, erklärt van Loh, so daß die Linkspartei die natürliche Ansprechpartnerin für die Protestbewegung sei. Außerdem bitten besorgte Bürger bei ihnen um Auskünfte, mit denen sie allerdings oft nicht dienen können. Sie versuchen es dann mit kleinen Anfragen bei der Landesregierung und bekommen aalglatte Antworten. Warum fotografieren Polizisten bereits heute Menschen, die sich dem Zaun nähern, nehmen ihre Personalien auf und erteilen Platzverweise? Die Landesregierung verweist auf einen Paragraphen des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes Mecklenburg-Vorpommerns.

Im Wahlkreisbüro von Birgit Schwebs haben sich van Loh und der Linkspartei-Kreisvorsitzende Peter Möller mit einem Vertreter der »Infotour« getroffen, eines Zusammenschlusses von Aktivisten, die international über die Politik der G8 informieren. Gemeinsam fahren sie zu einem Termin bei einer Gruppe pensionierter Gewerkschafter, die um Informationen über den kommenden Gipfel gebeten haben. Bei Kaffee und Gebäck hören sie dem Aktivisten zu, der vom Protektionismus der G-8-Staaten erzählt, von der Ausbeutung abhängiger Volkswirtschaften, von Flüchtlingen und abgeriegelten Grenzen, von der Durchsetzung geopolitischer Interessen über den Weltsicherheitsrat, vom Einsatz der NATO zur Wohlstandssicherung, von der Beherrschung der Weltfinanzmärkte durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Der Gedanke, daß »eine andere Welt möglich ist«, sei ja nicht schlecht, murmelt einer der Herren, der ein Flugblatt studiert. »Das haben wir schon vor 30 Jahren gewußt«, schimpft ein anderer, »das ist doch alles Wahnsinn!« Er klopft sich in Höhe des Herzens leicht an die Brust und murmelt: »nicht aufregen«. Ein anderer, etwas jüngerer, rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Proteste – schön und gut«, sagt er, »aber wer garantiert mir, daß unter den 100000 Demonstranten keine Chaoten sind?« Das könne niemand garantieren, entgegnet van Loh, aber friedlich zu demonstrieren sei ein Grundrecht. Ob er dieses Grundrecht etwa abschaffen wolle, weil es keine absolute Sicherheit gebe? Nein, so weit geht er natürlich nicht, aber er fürchtet nun einmal weniger die G8 als brennende Autos und eingeworfene Scheiben in Bad Doberan.

Zentrum der Aktivisten

Kaum jemand vermag jedoch das Bild der zerstörungswütigen Chaoten so souverän Lügen zu strafen wie die neuen Bewohner der ehemaligen Ehm-Welk-Schule in Rostock-Evershagen. Sie arbeiten von morgens bis abends daran, in dem heruntergekommenen Gebäude Ordnung zu schaffen, und sind offiziell beauftragt, es vor Vandalismus zu schützen. Diese Zusage mußten sie der Stadt Rostock geben, als sie vor einigen Wochen die Erlaubnis erhielten, das bereits zum Abriß freigegebene Gebäude für die Protestvorbereitungen zu nutzen. Seither errichten sie hier ein »Convergence Center«, das Deutsche zuweilen etwas hölzern »Koordinationszentrum« nennen, während Insider aus der Umgebung meist einfach »die Schule« sagen. Die Idee des Convergence Centers hat Tradition, erklärt eine junge Aktivistin, die schon 2003 im französischen Evian und 2005 im britischen Gleneagles dabei war. Normalerweise lebt und studiert sie in Süddeutschland, doch seit das Schulgebäude zur Verfügung steht, wohnt sie hier. Nur nach der Aktionskonferenz am 14. und 15. April war sie ein paar Tage weg, zur Erholung und um den Kopf freizubekommen. »Mit der Zeit verschlingt einen die Arbeit hier«, seufzt sie, »es ist so viel zu tun«. Sie hofft, daß bald mehr Leute hier einziehen.

An der Wand des großen Raumes, der als Café dient und mit bunt zusammengewürfelten Sitzmöbeln so gastlich hergerichtet ist, wie es die Umstände erlauben, hängt eine überdimensionale To-Do-Liste. Wasser- und Stromleitungen verlegen, mehr Räume bewohnbar machen, Büros mit Telefonanschlüssen und Internetzugängen einrichten, mehr auf die Rostocker zugehen und Aufklärungsarbeit leisten. Jeden Sonntag sind alle Interessierten zu Kaffee und Gesprächen eingeladen. Viele Rostocker haben Berühungsängste; die abrißreife Schule sieht auch nach bürgerlichen Maßstäben wenig einladend aus, aber einige kommen trotzdem.

Das Center soll Organisationsaufgaben übernehmen, aber vor allem auch ein gastlicher, kommunikativer Ort und Schutzraum für Aktivisten sein; ein Ort, an dem man sich zurückziehen kann, Leute treffen, telefonieren, sich informieren und verabreden oder auch einfach etwas essen. Es ist keine Organisation im engeren Sinn; es gibt kein Programm, kein Logo, keine Führungsstruktur und kein Bedürfnis danach. Dazu gehört, wer gerade da ist und sich beteiligt.

Auch ein Informationsbüro in der Rostocker Innenstadt soll dazu dienen, mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen und sie über das Bevorstehende aufzuklären. Die Regale an den Wänden des kühlen Souterrain-Raums sind mit Broschüren, Flugzetteln und Textsammlungen der sozialen Bewegungen rund um G8 bestückt. Dazwischen sitzen Silvia Berg und Evelin Herrmann und warten auf Gäste. Die Leute seien sauer wegen der massiven Polizeipräsenz, erklärt Herrmann, und die Polizei rechtfertige sich eben mit der Bedrohung durch die angeblichen Chaoten, die zu erwarten seien. Doch viele Rostocker stehen der Protestbewegung aufgeschlossen gegenüber und kommen hier herein, um mehr über sie zu erfahren. Manche bieten an, Infomaterial weiterzuverteilen, andere stellen Schlafplätze zur Verfügung, Ärzte melden sich, die bei der medizinischen Versorgung der Demonstranten helfen wollen. Zuletzt war ein Kirchenvertreter hier. Die evangelische Kirche engagiere sich erfreulich stark rund um den Gipfel – »eine schöne Brücke zwischen den Einheimischen und den Wilden«, lächelt Herrmann und deutet Anführungsstriche um das Wort »Wilden« an.

Ein junger Mann kommt herein, der in seinem schicken, dunklen Anzug aussieht, als habe er sich verlaufen. »Guten Tag«, sagt er fröhlich, »wo habt ihr die Spendenbüchse«? Die beiden Frauen deuten synchron auf einen Tisch in der Ecke. Der Mann friemelt einen Geldschein hinein, grüßt noch einmal und verschwindet.

* Aus: junge Welt, 5. Mai 2007


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