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Freihandel mit der EU bringt den Bauern im Süden nur Elend

Der Ökonom Pedro Páez über Handelsabkommen, die Finanzwelt und die Zivilisationskrise *


Pedro Páez war 2007 bis 2008 Minister für die Koordination der Wirtschaftspolitik in Ecuador. Derzeit ist er Vorsitzender der ecuadorianischen Kommission für eine neue regionale Finanzarchitektur mit dem Ziel der Gründung einer »Bank des Südens« (Banco del Sur) als regionale Alternative zum Internationalen Währungsfonds (IWF). Er war Mitglied der Stiglitz-Kommission bei der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) 2009. Er ist Ökonom und Autor mehrerer Bücher. Mit ihm spach für das "Neue Deutschland" (ND) Rolf-Henning Hintze.

ND: Sie haben kürzlich die Ansicht vertreten, es gäbe nicht nur eine riesige Finanzkrise, sondern diese Krise gefährde unsere Zivilisation. Wie begründen sie das?

PáezWas wir erleben, ist tatsächlich nicht nur eine Finanzkrise sondern das Versagen der Gegenmittel für diese strukturelle Krise. Wir haben ein Problem der Lebensweise, das Verhältnis von Mensch und Natur ist in Gefahr. Die einzige Möglichkeit, aus dieser Krise herauszukommen, besteht in einem qualitativen technologischen Sprung, besonders im Hinblick auf Energie. Die Zeit, in der es billige Energie gab, ist vorbei. Wir benötigen riesige Investitionen in diesen Bereich, aber das ist dem Kapital im Vergleich zu Möglichkeiten der Spekulation und der Finanzierung von Kriegen nicht profitabel genug. Wir haben jetzt die Situation, dass es anstelle von technologischen Lösungen und der Befriedigung von Grundbedürfnissen der Menschen eine neue Art von Normalität gibt, auch in ethischer Hinsicht.

Sie rechnen mit mehr Kriegen?

Wenn wir nicht gemeinsam handeln, wenn die Gesellschaft nicht ihre Prinzipien verteidigt, wird uns dieses oligarchische Netzwerk von Spekulanten in mehr Kriege und immer mehr Spekulation verwickeln. Es wurde eine Situation geschaffen, wo die grundlegenden Mechanismen der Wirtschaft verzerrt worden sind. Dafür gibt es Beispiele noch und noch, etwa die Preisbildung auf internationaler Ebene. Sie korrespondiert nicht länger mit der Entwicklung der Produktionskosten, noch nicht einmal mit den saisonbedingten Knappheiten, weil sie Gegenstand von Spekulation geworden sind, einschließlich der Lebensmittel. Selbst bei reichlichen Ernten steigen die Preise.

Sie warnen vor der Gefahr, dass die Finanzoligarchen Europa und die USA lateinamerikanisieren und Lateinamerika afrikanisieren. Was meinen Sie damit?

Die afrikanischen Staaten wurden nach der Dekolonisierung durch den Abbau von Institutionen sowie des sozialen und demokratischen Gefüges beschädigt, das hat transnationalen Unternehmen die systematische Ausbeutung nationaler Rohstoffe zu sehr günstigen Bedingungen ermöglicht. Dazu gehören niedrige Löhne – fast schon Sklavenarbeit in einigen Gebieten -, kaum Steuern und wenig Umweltschutzauflagen. Dies ist auch der Zweck der Freihandelsabkommen, die Europa jetzt mit verschiedenen lateinamerikanischen Staaten abzuschließen versucht, verpackt in süßer Kooperationsrhetorik. Politik dieser Art versuchen sie jetzt auch in ihren eigenen Ländern anzuwenden, das heißt, anstelle der früheren Teilung zwischen Metropolen und Kolonien kolonisieren sie jetzt in ihren eigenen Ländern.

Wie wirkt sich das aus?

Seit Beginn des Neoliberalismus ist eine Erosion des Wohlfahrtsstaates festzustellen. Sie befinden sich jetzt am Rande eines sehr schnellen Prozesses von Anpassungs- und Sparmaßnahmen und das wird chronische Steuerdefizite zur Folge haben. Die Sparmaßnahmen sind eine Spirale mit einer Art eigenem Leben, zivilisatorische Errungenschaften der europäischen Völker sind in Gefahr. Alle Errungenschaften der Nachkriegszeit seit dem Sieg über den Faschismus stehen zur Disposition, einschließlich des Abbaus produktiver und technologischer Kapazitäten. Dies geschieht jetzt in Lateinamerika.

Kritiker der von der EU angestrebten »Partnerschaftsabkommen« mit den Ex-Kolonien sowie der Freihandelsabkommen mit lateinamerikanischen Staaten sagen, die Abkommen seien in Wirklichkeit Ausbeutungsabkommen. Halten Sie die Kritik für überzogen?

Nein, das ist vollkommen richtig. Wenn die Menschen in Europa die Texte kennen würden, die die Europäische Kommission jetzt verhandelt, wären sie, gleichgültig ob links oder rechts, empört. Nehmen wir zum Beispiel das öffentliche Beschaffungswesen, also die Anschaffungen der Städte, Gemeinden und der nationalen Regierungen. Im Falle Lateinamerikas bedeutet das bei öffentlichen Anschaffungen die bedingungslose Unterwerfung gegenüber transnationalen Unternehmen.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Die Milchproduktion in Europa wird mit riesigen Subventionen gefördert. Für jede Kuh in Europa gibt es mehr an Subventionen, als sie die Mehrheit der Bevölkerung des Südens an Einkommen hat. Und nun verlangt Europa von uns, dass wir unsere Grenzen für Milchpulver öffnen und damit die Milchproduktion in unseren Ländern zerstören! Das bringt den Bauern nur Elend.

Sie vertreten die Ansicht, der jetzige Kapitalismus sei einer der Ausgrenzung von Menschen, der sozialen Polarisierung und der Vertreibung vom angestammten Land. Halten Sie es für möglich, den Kapitalismus zu zügeln?

Wir sollten diese Frage unterteilen. Einerseits brauchen wir eine kapitalistische Produktion mit Unternehmen, das ist seit langem Teil des Entwicklungsprozesses. Etwas ganz anderes ist Kapitalismus als systemischer Regulator, als Achse der Organisation der ganzen Gesellschaft. Diese Ausprägung des Kapitalismus ist jetzt in der Krise. Es ist unmöglich, die gegenwärtige Form des Kapitalismus aufrechtzuerhalten, nämlich die des vom Finanzmarkt getriebenen, also den Kapitalismus der Spekulation. Sogar Großunternehmen sind durch die Logik der Spekulation versklavt. Wir müssten aber umgekehrt alle Formen der Kreativität freizusetzen. Neue Räume für Unternehmen, auch für mittlere und Kleinunternehmen, für Kooperativen, Selbsthilfeinitiativen und ethnische Gemeinschaften müssten eröffnet werden, wir müssten Quellen sozialer Energie schaffen. Das System, das wir jetzt haben, ist nicht länger eines das Initiative weckt, es beraubt uns der Initiative.

* Aus: Neues Deutschland, 27. September 2011


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