Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Globalisierung von oben oder von unten?

von Erhard Crome, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin *

Die Sozialforumsbewegung wurde anfangs in der Selbstwahrnehmung wie von außen als gegen „die Globalisierung“ gerichtet verstanden. Das wurde von den Schreibern des Neoliberalismus dann gern benutzt, um die Protestierer gegen die „schöne neue Welt“ der Globalisierung als Ignoranten gegenüber dem „historischen Fortschritt“ darzustellen, die – ähnlich den Maschinenstürmern des 19. Jahrhunderts – die Zeichen der Zeit nicht verstanden hätten. In den Debatten der folgenden Jahre wurde dann in der Bewegung selbst erarbeitet, dass es nicht gegen „die Globalisierung“, sondern um eine andere Globalisierung geht. DemonstrantInnen aus der indigenen Bewegung Ekuadors brachten es auf dem ersten Sozialforum Amerikas in Quito im Jahre 2004 auf den Punkt: „Ihr globalisiert die Armut – wir globalisieren den Widerstand“.

Proteste zielen auf eine andere Globalisierung

Als in Europa die Gemäuer des Realsozialismus zu Staub zerfielen, als die Sozialdemokratie aufhörte, „Dritte Wege“ begehen zu wollen, und sich dem neoliberalen „Konsens von Washington“ zuordnete, da erreichten die Verhältnisse im Süden Amerikas wieder ein neues Maß der Unerträglichkeit. Der Kapitalismus in Lateinamerika trat in den 1960er Jahren in eine neue Phase der Industrialisierung und Akkumulation ein. Parallel dazu entwickelten sich die Gegenkräfte. Sie zu zerstören errichtete der Kapitalismus Militärdiktaturen, in Brasilien, in Argentinien, in Chile mit dem Sturz von Präsident Allende am 11. September 1973, in Uruguay. In Lateinamerika war Offensive des Kapitalismus nie zuvörderst Investitions- und Kreditpolitik, sondern blutiger Terror. Hier sind nicht Kapitalismus und Demokratie in eins gesetzt, wie es in den Sonntagsreden im Norden der Welt so schön heißt, sondern Kapitalismus und Diktatur. Demokratie dagegen gibt es nur, wenn die Menschen von unten sie erkämpfen.

Ohne Aufstand der Zapatistas in Chiapas (Mexiko) seit Mitte der 1990er Jahre hätte es keine Großdemonstrationen gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle (USA) 1999 gegeben, gegen die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds in Prag im Jahre 2000, gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 – heißt es in Lateinamerika. Porto Alegre, das Weltsozialforum seit 2001, war dann der Versuch, den vielen Betroffenen Stimme zu geben, sie zusammenzuführen: Gewerkschafter, Frauenorganisationen, Umweltschützer, Menschenrechtsgruppen, Schwule und Lesben, Verbraucherorganisationen, Bauernverbände, Entwicklungshelfer, kirchliche Gruppen, Arbeitsloseninitiativen und viele andere mehr – sie alle erkannten in der Welthandelsorganisation WTO seit Ende der 1990er Jahre eine undemokratische Institution, die sich gesellschaftlicher Kontrolle entzieht, nationale Schutzstandards zu unterminieren bestrebt ist und vor allem die Interessen der transnationalen Großkonzerne verfolgt. So kam das Weltsozialforum zustande, als Kontrastprogramm zum Weltwirtschaftsforum von Davos, als das Forum von „unten“ gegen das von „oben“, als das des „Südens“ gegen den „Norden“. Die vielen verschiedenen Gruppen und Organisationen, die zuvor kaum miteinander zu tun hatten, fanden einen gemeinsamen Raum zum Dialog.

Auch die jährlich stattfindenden G7-, dann G8-Gipfel (unter Einbeziehung Russlands) wurden bald als selbst ernanntes und nicht legitimiertes Direktorium verstanden, das der Welt seine neoliberalen Globalisierungsrezepte zu oktroyieren betrebt ist. Proteste gegen diese Treffen verstanden sich daher stets als Ausdruck des Willens der Zivilgesellschaft, daß das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, auf Bestimmen des eigenen Schicksals höher stehen muß als das Gewinnstreben der Reichen und Mächtigen.

Putins G8-Gipfel 2006

Russland war in St. Petersburg im Juli 2006 erstmals Gastgeber eines der G8-Gipfel. Es ging um Energie. Präsident Putin hatte alle Mühe geben lassen, den Gipfel im Sinne des neoliberalen Programms zu einem Erfolg zu führen. Es waren insbesondere die linken, globalisierungskritischen Menschen aus Russland und aus dem Ausland, die in St. Petersburg diese Politik und ihre Folgen zu kritisieren sich bemühten, die die Folgen des neuen russischen Autoritarismus zu spüren bekamen: Schikanen gegen russische Aktivisten, die an der Anreise gehindert wurden, Verbote bei den Demonstrationen, Verhaftungen inländischer und ausländischer Teilnehmer, Denunziationen in den Medien, insbesondere auch gegen die ausländischen Gipfelkritiker. Die Freiheitsgrade, die die Linke in Westeuropa heute hat, sind in Russland Zukunftsmusik.

Auch die bürgerliche Presse in Deutschland betonte und betont, an der demokratischen Orientierung der Putin-Regierung bestünden „erhebliche Zweifel“. Das neue Russland trage nicht demokratische, sondern autokratische Züge. Putin habe, „ohne Rücksicht auf Verluste, die Energiewirtschaft des Landes unter seine Kontrolle gebracht“. Das klingt so, als sei Putin jetzt der Herr über Öl und Gas. Tatsächlich jedoch wird auf etwas ganz anderes gezielt. In der Jelzin-Zeit gab es neben einer „Zeit der Wirren“ auch geöffnete Türen für das Auslandskapital. Die USA haben es machtpolitisch nicht versäumt, ihre militärischen und politischen Positionen in Zentralasien und in der Kaukasus-Region auf- und auszubauen, und die US-Ölfirmen sind dort ihrerseits aktiv geworden. Putin hat dann die Ordnung im Innern wiederhergestellt, zunächst im ursprünglichen Sinne der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes von Leib und Leben der Bürger, und eine gewisse Ordnung von Gesetzlichkeit geschaffen. Zugleich zielten die Schritte der Regierung darauf, dass Russland über seine Naturreichtümer selbst verfügen soll, während der Westen meint, die USA und die westlichen multinationalen Konzerne sollten dieses Verfügungsrecht haben.

Man darf gespannt sein, wie im Hinblick auf den diesjährigen G8-Gipfel in Heiligendamm die Propaganda in dieser Frage sich gestalten wird. Beim Gebrauch der Wörter ist also Vorsicht angezeigt: Wenn die Mainstream-Medien von Freiheit in Russland schreiben oder reden, meinen sie die Freiheit der USA, über die russischen Ölvorkommen zu verfügen; wenn die Linken und Globalisierungskritiker über Freiheit sprechen, meinen sie die Freiheit, diese ganze neoliberale Aneignung und Herrschaft überhaupt zu kritisieren.

Und da hockten erstere und Putin in einem Boot: Die Kritik an der neoliberalen Politik des Kreml stellt die Grundlagen der kapitalistischen Herrschaft in Russland, Verlauf und Ergebnisse, Nutznießer und Opfer jener sogenannten Transformation in Frage. Deshalb die Schikanen in St. Petersburg während des Gipfels gegen die Linken.

Auf das grundrechts-staatliche Deutschland scheint das bereits abgefärbt zu haben: Wie berichtet wird, reicht bereits jetzt – Wochen vor dem Gipfel – das Radfahren in der Nähe des Millionen-Euro-teuren Zauns, um sich in Heiligendamm einen „Platzverweis“ einzuhandeln. In Mecklenburg- Vorpommern werden schon mal ganze Gefängnistrakte freigeräumt, um missliebige Demonstranten darin „unterzubringen“.

Nach dem Weltsozialforum von Nairobi

Kein Weltsozialforum wurde so schlecht kommentiert, wie das in Nairobi, das vom 20. bis 25. Januar 2007 stattgefunden hat. Grundtenor: Es habe sich überlebt, sei nicht mehr zeitgemäß, die Themen seien längst in den Mainstream eingegangen, und ansonsten gäbe es noch immer keinen Durchführungs-Plan für die „Andere Welt“, die da möglich sein soll.

Im Hintergrund steht ein ernstes Problem auch der heutigen politischen Auseinandersetzungen. In den sozialistischen Debatten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war es nicht unüblich, politische und soziale Auseinandersetzungen mit militärischen Begriffen auf den Punkt zu bringen. Franz Mehring, einer der wichtigen Theoretiker zu jener Zeit, benutzte den Begriff der „Niederwerfungsstrategie“ im Unterschied zu einer „Ermattungsstrategie“.

In diesem Sinne war die Grundkonstellation wie folgt zu beschreiben: Nach der Selbst-Schwächung des Kapitalismus durch den von ihm selber herbeigeführten ersten Weltkrieg entstand eine Situation, in der die revolutionären Linken in Russland die Revolution, das heißt eine „Niederwerfungsstrategie“ auf die Tagesordnung gesetzt hatten. Die endete in Russland mit dem Sieg und seiner Verteidigung im Bürgerkrieg. Alles danach – unterbrochen durch den Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion – in der Systemauseinandersetzung des 20. Jahrhunderts verlief nach den Regeln des „Ermattungskrieges“. Das betrifft übrigens nicht nur das Aufbrauchen der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Reserven, sondern auch die Ermüdung der geistigen und ideologischen. Mit anderen Worten: Während die russische Oktoberrevolution unmittelbar nach ihrem Stattfinden eine große Resonanz in vielen Ländern Europas und darüber hinaus, auch in den kolonial unterdrückten Völkern fand, verblasste dieser Glanz, je länger der „reale“ Sozialismus existierte, nicht nur wegen der Lager und der wirklichen Verbrechen, sondern auch wegen des glanzlosen Alltags, der leeren Geschäfte und der am Ende auch leeren Ideologie.

Jetzt wird auf eine ähnliche Konstellation gehofft. Die Globalisierungsgewinnler hokken zwischen ihren erbeuteten Eigentumstiteln der Privatisierungsorgien der vergangenen Jahrzehnte, in den von ihnen errichteten Dschungeln von Verträgen, Verordnungen und Kreditkonstruktionen, die alle auf das gleiche zielen: Gewinne zu privatisieren, Verluste den betroffenen Gesellschaften aufzubürden und Sozialstaatlichkeit zu demolieren und verantwortliches staatliches Handeln zu diskreditieren. Dann kamen Anfang des Jahrzehnts die Sozialforums- und andere kritische Bewegungen dazwischen, die diese gesamte Entwicklung kritisierten und mit dem Slogan: „Eine andere Welt ist möglich“ die neoliberale Ideologie und Herrschaftspraxis grundsätzlich in Frage stellten.

Nun hoffen die Reichen und Mächtigen, dass das ausläuft, der Schwung abnimmt, die Strahlkraft der Idee nachlässt. Wichtige Akteure in den sozialen Bewegungen aber wissen dies. Sie wissen, dass die anderen nur darauf warten. In Nairobi wurde ein neues Niveau der Vernetzung zwischen den unterschiedlichsten Kräften erreicht. Die kritischen Bewegungen sind reifer geworden. Sie gehen davon aus, dass Hegemonie nicht im Handstreich zu gewinnen ist. Der Ermattungsstrategie der anderen wird eine eigene entgegengestellt.

Im Juni wird Heiligendamm der Ort sein, an dem sich das erneut manifestiert. Und auch dort wird nicht nur gegen den G8- Gipfel protestiert werden, sondern eine breite, internationale Debatte über die Alternativen geführt werden.


* Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 3, Mai 2007

Das FriedensJournal wird vom Bundesausschuss Friedensratschlag herausgegeben und erscheint sechs Mal im Jahr. Redaktionsadresse (auch für Bestellungen und Abos):
Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V.
c/o Gewerkschaftshaus Frankfurt
Wilhelm-Leuschner-Str. 69-77
60329 Frankfurt a.M.
(Tel.: 069/24249950); e-mail: Frieden-und-Zukunft@t-online.de )



Zur Seite "Globalisierung"

Zur G8-Gipfel-2007-Seite

Zurück zur Homepage