Der Ordre public und die Marktgesetze
Gesellschaftliche Vereinbarungen gegen die imperiale Ordnung des Neoliberalismus
"Die Weltgesellschaft ist in eine Phase des Imperialismus eingetreten,
dessen Motor nicht eine Regierung ist, sondern das System eines multi-
nationalen und staatenübergreifenden Kapitalismus. Widerstand gegen
die so geschaffene Ordnung wird nicht geduldet", schreibt Monique Chemillier-Gendreau in einem Beitrag für die Dezember-Ausgabe 2002 von Le Monde diplomatique. Der Aufsatz handelt von der Aushöhlung des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen und der Unterminierung demokratischer und sozialer Standards in den Nationalstaaten der Ersten Welt. An Europa ergeht der Rat, sich nicht auf einen militärischen Wettlauf mit den USA einzulassen, sondern sich auf die Ideen und Werte der Zivilgesellschaft zu besinnen und diese als "Waffe" im Kampf gegen die "globale Herrschaft" einzusetzen.
Wir dokumentieren aus dem sehr anregenden Essay jene Passagen, in denen sie über einen "ordre public", eine Art freiwilligen Gesellschaftsvertrag, nachdenkt.
Von Monique Chemillier-Gendreau*
(...)
Müssen wir die Dinge laufen lassen? Müssten wir uns nicht darum
bemühen, dass Europa als einzige politische Gemeinschaft, die noch
ihre Stimme erheben kann, den militärischen Wettbewerb annimmt, um
eine neue bipolare Konstellation herbeizuführen? Nein, denn wir haben
eine weitere, viel zu selten genutzte Waffe: die Ideen und die Werte,
die sie ausdrücken. Das vietnamesische Volk, das algerische Volk und
die von Portugal kolonisierten Völker Afrikas haben ihre Befreiungs-
kriege gegen den Westen nicht gewonnen, weil das Kräfteverhältnis für
sie günstig gewesen wäre - im Gegenteil. Sie haben sie gewonnen mit
der Idee der Emanzipation, der Berufung auf eine neue juristische
Norm: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das dem kolonialistischen
Menschenbild den Garaus machte.
Diese Mittel müssen, in anderer Form, auch für den Widerstand gegen
die globale Herrschaft tauglich sein. Leider ist das Völkerrecht
durch den UN-Sicherheitsrat und sein Völkerrechtsverständnis in
Misskredit geraten. Die beachtlichen Fortschritte, die bei der
Formulierung von Rechten im internationalen Rahmen erzielt worden
sind, bleiben folgenlos, weil die Instrumente fehlen, ihnen Geltung
zu verschaffen. (...)
Nachdem der Kapitalismus die Voraussetzungen für seine grenzenlose
Ausbreitung erzeugt hat, duldet er nicht mehr, dass irgendeine Ecke
der Welt dem Gesetz des Marktes entzogen ist. Wo die Ausbeuter sich
wichtige Bodenschätze erschließen wollen wie im Nahen Osten oder dem
Kaukasus, nehmen sie das Leiden der Bevölkerung billigend in Kauf.
Alles wird zur Ware, selbst das Denken, die Kreativität, die Umwelt,
die Gesundheit, das Bildungswesen, der Mensch und sein Körper. Alles
muss vermarktet werden.
Wenn es stimmt, dass ein Vertrag als Instrument der Freiheit unter
Rechtssubjekten anzusehen ist, existiert dieser Vorzug jedoch nur für
Partner, die sich auf gleicher Augenhöhe begegnen. Wird er zwischen
ungleichen Parteien ausgehandelt, begünstigt er die Ausbeutung nur
noch mehr. Dem kann man nur mittels der unantastbaren Prinzipien
entgegenwirken, die das Wertsystem einer bestimmten menschlichen
Gemeinschaft verkörpern. Insofern gilt es deutlich zu machen, dass
es materiell rechtliche Werte gibt, die gegenüber anderen, insbeson-
dere vertraglichen Regelungen Vorrang haben. Nur auf solcher Basis
vermag sich ein Gemeinwesen einen "ordre public" zu geben - eine
vereinbarte Ordnung der eigenen Gesellschaft.
Ordre public ist ein auf staatsrechtlicher Ebene eingeführter Begriff.
Er ist in Europa vor allem bei transnationalen Verträgen relevant,
weil vertragliche Regelungen nicht gegen den Ordre public der einzelnen
Länder verstoßen dürfen. Im Allgemeinen unterscheidet man zwischen
dem "ordre public de direction" und dem "ordre public de protection".
Ersterer will eine bestimmte Vorstellung von öffentlichem Interesse
und Allgemeinwohl durchsetzen, Letzterer soll Vertragspartner schützen,
die zu schwach sind, ihre Interessen selbst zu vertreten. (1) Um aber
einen Ordre public begründen zu können, muss der Gruppe erstens bewusst
sein, dass sie einer sich konstituierenden politischen Gemeinschaft
angehört. Zweitens geht es darum, mit welchen Mitteln das geschieht.
Diese können in den für den Ordre public maßgeblichen Gesetzen nieder-
gelegt sein. Es kann sich jedoch auch um Grundsätze handeln, die nicht
unbedingt schriftlich fixiert sein müssen, sondern im kollektiven
Bewusstsein verankert sind. Daraus ergibt sich ein schwieriges Problem
im Hinblick auf das Prinzip der Demokratie.
Zum Beispiel kann das Konzept des Ordre public von repressiven Kräften
vereinnahmt werden, die es auf die öffentliche Sicherheit oder auf
bestimmte Moralvorstellungen reduzieren (wie es in manchen europäischen
Demokratien derzeit verstärkt geschieht). Insofern müssen wir sehr
genau auf den Inhalt des Ordre public achten, damit er nicht etwa
regressive Wertvorstellungen befördert. Dabei ist die Qualität eines
Rechtssystems ebenso entscheidend wie die tatsächliche Informations-
freiheit, also die Möglichkeit aller, an der Debatte über die unver-
rückbaren Prinzipien teilzuhaben.
In dieser Hinsicht erleben wir gegenwärtig eine fatale Fehlentwicklung.
Die unverzichtbare soziale Strukturierung auf der Ebene der nationalen
Gesellschaften ist in Auflösung begriffen oder außer Kraft gesetzt. Und
die zaghaften Ansätze, die es dazu nach 1945 weltweit gegeben hat, sind
erstorben.
Die nationalen Gesellschaften stehen unter dem ideologischen Druck der
Deregulierung. Für den Markt oder die Vertragsfreiheit als dessen Hebel
darf es keine prinzipielle Einschränkung geben. Die europäischen Linken
haben immer mehr an Boden verloren, weil sie es nicht vermochten,
dieser Entwicklung überzeugend entgegenzuwirken. Die Länder der Dritten
Welt schaffen es nicht mehr, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu
bewahren. Obwohl sie wegen ihrer schwachen Ausgangsposition zum Unter-
gang auf Raten verurteilt sind, haben sie die Öffnung ihrer Märkte
gestattet. Was vom öffentlichen Dienst noch übrig ist, wird überall
weiter abgebaut. Der Begriff des öffentlichen Interesses, der eine
lebendige, tätige Demokratie voraussetzt, wird im Namen fragwürdiger
Transaktionen ad acta gelegt.
Ein Beispiel: Die unersättlichen französischen Banken verlangen im
Kleingedruckten eine Extrazahlung dafür, dass sie die Echtheit der
von ihren Kunden ausgestellten Schecks überprüfen. Dazu aber sind
sie gesetzlich ohnehin verpflichtet. (2) Sich dafür bezahlen zu
lassen, dass man die gesetzlichen Bestimmungen auch erfüllt, bedeutet
eine Aushöhlung des Begriffs des Ordre public. Nach diesem Motto
könnten Dozenten ihren Studenten Geld dafür abknöpfen, dass sie
ihnen garantieren, bei den Prüfungen die Regeln einzuhalten. Und
jeder könnte seinen Nachbarn für das Versprechen, ihm keine Gewalt
anzutun, zur Kasse bitten.
Während der Ordre public sich in den nationalen Gesellschaften
zunehmend auflöst, etabliert er sich deswegen keineswegs in der
globalisierten Gesellschaft. Hier herrscht das Prinzip "Vertrag
ist Vertrag", das für zwischenstaatliche Abkommen, bei denen die
schwächeren Länder keinerlei Verhandlungsspielraum haben, ebenso
gilt wie für Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen Unternehmen
und Staaten. Dabei ist der Begriff eines dem Vertrag übergeordneten
Rechts nicht unbekannt. Es ist kodifiziert im allgemeinen zwingenden
Recht. (3) Da dieses über allen anderen rechtlichen Regeln steht,
müssten eigentlich alle Verträge, die ihm widersprechen, unwirksam
werden. Die Praxis sieht anders aus. Kein Vertrag, der den Großmächten
finanzielle, territoriale, militärische oder polizeiliche Vorteile
auf dem Gebiet kleiner Staaten einräumt, drohte jemals annulliert zu
werden, egal welche Folgen er für die Menschen hatte. Das bedeutet,
dass der Widerspruch zwischen den Verträgen und den ehernen Gesetzen
zum Schutz der Grundrechte nicht anerkannt wird. So bleibt das Recht
im Kern intersubjektiv, Ergebnis von Beziehungen zwischen Staaten, in
denen die Schwächsten schutzlos sind, weil die objektiven, universal
gültigen Bestimmungen, die der globalen Gesellschaft einen Sinn ver-
leihen könnten, ohnmächtig sind.
Die Charta der Vereinten Nationen wurde 1945 als Blaupause für ein
globales Rechtssystem entworfen. Trotz ihres Vertragscharakters
hatte sie einen universalen Geltungsanspruch, der durch die breite
Anerkennung der Staaten bekräftigt wurde. Die Charta selbst betont
ihren grundlegenden Charakter, insofern die sich aus ihr ergebenden
Verpflichtungen Vorrang vor jeder anderen internationalen Vereinbarung
haben (Artikel 103). Leider hat der Sicherheitsrat sich von der
Respektierung der Charta supendiert und die Herausbildung einer UN-
legitimierten "ordre public mondial" gestoppt. Das Tauziehen um die
Irak-Resolution 1441 vom 8. November hat das deutlich gezeigt. Denn
keine Interpretation dieser Resolution kann aus dem angekündigten
Krieg eine rechtlich zulässige Mission kollektiver Sicherheitspolitik
machen. Das Recht auf Kriegsführung steht Einzelstaaten unter keinen
Umständen zu. Bei einer autorisierten Militäroperation ist für die
kollektive Sicherheit von Anfang bis Ende allein der Sicherheitsrat
verantwortlich (Art. 46 UN-Charta). Wenn sich ein Staat die Durch-
führung militärischer Operationen mit Hinweis auf seine eigene und
die Sicherheit seiner Alliierten anmaßt, äußert sich darin erneut
die imperial verfasste Ordnung.
(...)
Wir müssen der Grundregel des universalen öffentlichen Interesses
zum Durchbruch verhelfen. Und wir müssen dafür sorgen, dass sie zum
obersten Maßstab für den Einsatz von Gewalt wie für die Grenzen des
Marktes wird. Dafür braucht es zwei Voraussetzungen: Wir brauchen
erstens eine theoretische Studie über den Begriff des universalen
öffentlichen Interesses, der im Zentrum des Projekts globaler Demo-
kratie stehen muss und von einem demokratisch nicht legitimierten
Organ wie dem UN-Sicherheitsrat nicht vereinnahmt werden darf. Die
zweite betrifft die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit.
Ihr wären alle Fälle zu unterbreiten, in denen der Verdacht besteht,
dass die hochgerüsteten Nationen ihre Machtposition ohne Rücksicht
auf den Schutz der betroffenen Bevölkerung ausnutzen. Und solche
Fälle, in denen die Mechanismen des Marktes in Verdacht stehen,
gravierende Menschenrechtsverletzungen zu verursachen. Das heißt,
wir müssen den Sicherheitsrat bis zu seiner unabdingbaren Reformierung
unter demokratische Kuratel stellen. Und wir müssen verlangen, dass
die Befugnis der internationalen Zivilgerichte oder Strafgerichtshöfe
allgemein anerkannt wird. Das wären erste Schritte auf dem Weg zu
einem internationalen Ordre public, hin zu einer öffentlichen Ordnung,
die in der Lage wäre, der imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten.
Fußnoten:
-
Vgl. Jacques Ghestin, "Lutile et le juste dans le droit
des contrats", Archives de Philosophie du Droit, Bd. 26,
1981, S. 35 ff.
- Vgl. "Quand les banques font payer un service gratuit",
Le Monde, 17. August 2002.
- Siehe den Begriff "Ordre public international", in:
"Dictionnaire de Droit International Public", hg. von
Jean Salmon, Brüssel (Bruylant) 2001.
dt. Christian Hansen
* Professorin an der Universität Paris-VII, Denis-Diderot.
Aus: Le Monde diplomatique, Dezember 2002
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