Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

(Zer-)Störung des inneren Friedens statt Kriegserklärung der Regierung an die Armut

Einige Argumente gegen das neoliberale Konzept zum Um- bzw. Abbau des Sozialstaates

Von Christoph Butterwegge*

Aufrüstung und Sozialabbau bilden immer schon zwei Seiten einer Medaille. Beide sind Teil eines Konzepts, das Gewalt als legitimes Mittel der Politik versteht. Massenarbeitslosigkeit und steigende (Kinder-)Armut sind in einem so wohlhabenden Land wie der Bundesrepublik "strukturelle Gewalt" (Johan Galtung). Gleichzeitig beteiligt sich die rot-grüne Bundesregierung im EU-Rahmen am Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe, womit sie das Ende der "Zivilmacht Europa" einleitet und militärischer Gewalt nach außen den Vorzug gegenüber anderen Möglichkeiten der Konfliktlösung gibt.

Strukturschwächen des Sozialstaates

Erwerbsarbeits-, ehe- und erwachsenenorientiert, setzt die Konstruktionslogik des Sozialstaates in Deutschland seit Bismarcks Zeiten einen männlichen Familienernährer voraus, der sich, seine Ehefrau und gemeinsame Kinder mittels eines sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsverhältnisses unterhält. Fragt man nach den tiefer liegenden Gründen für die Krisensymptome und Strukturprobleme des Wohlfahrtsstaates, spielen aufgrund der Globalisierung, Modernisierung und Individualisierung hoch entwickelter Industriegesellschaften wie der Bundesrepublik drei Tendenzen eine Schlüsselrolle:
  1. Im Produktionsprozess löst sich das Normalarbeitsverhältnis, von der Kapitalseite unter den Stichworten "Deregulierung" und "Flexibilisierung" vorangetrieben, tendenziell auf. Es wird zwar keineswegs ersetzt, aber durch eine ständig steigende Zahl atypischer, prekärer, befristeter, Leih- und (Zwangs-)Teilzeitarbeitsverhältnisse, die den so oder gar nicht (mehr) Beschäftigten wie ihren Familienangehörigen weder ein ausreichendes Einkommen noch den erforderlichen arbeits- und sozialrechtlichen Schutz bieten, in seiner Bedeutung stark relativiert.
  2. Im Reproduktionsbereich büßt die Normalfamilie, d.h. die z.B. durch das Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht staatlicherseits subventionierte traditionelle Hausfrauenehe mit ein, zwei oder drei Kindern, in vergleichbarer Weise an gesellschaftlicher Relevanz ein. Neben sie treten andere Lebens- und Liebesformen, die zumindest tendenziell weniger materielle Sicherheit für Frauen und Kinder gewährleisten (sog. Ein-Elternteil-Familie, "Patchwork-Familie", gleichgeschlechtliche Partnerschaft usw.).
  3. Hinsichtlich des Wohlfahrtsstaates bedingt der 1989/91 zum Programm erhobene und seither im Konsens ökonomischer, politischer und wissenschaftlicher Eliten immer mehr verschärfte Wettbewerb zwischen den "Wirtschaftsstandorten" einen drastischen Abbau von Sicherungselementen für "weniger Leistungsfähige". Kinder und Jugendliche sind besonders stark von der steigenden Arbeitslosigkeit und/oder Armut betroffen, weil das Projekt eines "Umbaus" des Sozialstaates auf Kosten vieler Eltern geht, die erheblich weniger Absicherung als vorherige Generationen genießen.
Die gängigen Muster zur Erklärung der "Misere des Sozialstaates"

Als für die Probleme des Sozialstaates ursächlich werden in der öffentlichen Diskussion darüber hauptsächlich vier Faktoren bzw. Entwicklungsdeterminanten genannt:
  1. Übertriebene Großzügigkeit/Generosität: Der deutsche Wohlfahrtsstaat sei in seiner Leistungsgewährung zu freigiebig, was ihn finanziell zunehmend überfordere und das Gegenteil dessen bewirke, was eigentlich intendiert sei. Arbeitslosigkeit und Armut könnten nicht mehr wirksam bekämpft werden, weil es sich für die Betroffenen kaum lohne, Erwerbsarbeit zu leisten, wenn sich die Höhe der Lohnersatzleistungen auf nahezu demselben Niveau bewege.
  2. Massenhafter Leistungsmissbrauch: Da es keine wirksamen Kontrollen gebe, lasse sich auch nicht verhindern, dass Menschen von Sozialleistungen profitieren, die gar nicht anspruchsberechtigt seien. Gemäß der "Logik des kalten Büfetts" bediene man sich auch dann, wenn kein ernsthafter Hilfebedarf existiere. So würden z.B. medizinische Behandlungen nur deshalb in Anspruch genommen, weil der Arztbesuch für gesetzlich Krankenversicherte kostenfrei sei.
  3. Demografischer Wandel: Durch die sinkende Geburtenrate der Deutschen und die steigende Lebenserwartung aufgrund des medizinischen Fortschritts komme es zu einer "Vergreisung" der Bundesrepublik, die das ökonomische Leistungspotenzial des Landes schwäche und die sozialen Sicherungssysteme (Renten-, Pflege- und Krankenversicherung) überfordere. Dem könne nur mittels einer (Teil-)Privatisierung auf der Beitrags- sowie einer Leistungsreduzierung auf der Kostenseite begegnet werden.
  4. Globalisierungsprozess und Standortschwäche: Infolge der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz müsse der kränkelnde "Standort D" entschlackt und der Sozialstaat "verschlankt" werden, wolle man die Konkurrenzfähigkeit und das erreichte Wohlstandsniveau halten. Der (nordwest)europäische Wohlfahrtsstaat gilt seinen Kritikern als von der ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, Hemmschuh der Wirtschaft und bürokratisches Investitionshindernis.
Kritik an den dominierenden Erklärungsmustern

Diesen (größtenteils "interessierten", d.h. von Lobbyisten und neoliberalen Gegnern des Sozialstaates gezielt verbreiteten) Missverständnissen bzw. Fehlurteilen ist Folgendes zu erwidern:
  1. Die empirische Wohlfahrtsstaatsforschung hat nachgewiesen, dass die Bundesrepublik - entgegen den hierzulande dominierenden Medienbildern wie dem davon geprägten Massenbewusstsein - keineswegs den "großzügigsten" europäischen Sozialstaat besitzt, sondern hinsichtlich der Leistungsgewährung im Vergleich mit den übrigen 14 EU-Staaten seit der Weltwirtschaftskrise 1974/76 und vor allem nach dem Regierungswechsel Schmidt/Kohl im Herbst 1982 weit zurückgefallen ist und heute höchstens noch im unteren Mittelfeld (Platz 8 oder 9) rangiert. Die Sozialleistungsquote (Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt) ist heute nicht höher als Mitte der 1970er-Jahre, obwohl die Arbeitslosenquote seither stark gestiegen ist und die Lasten der deutschen Vereinigung hinzugekommen sind.
  2. Auch der Missbrauch des Wohlfahrtsstaates durch nicht Anspruchsberechtigte hält sich trotz zahlreicher Berichte (vor allem der Boulevardpresse) über spektakuläre Einzelfälle, ausgeprägter Vorurteile bezüglich sozialer Randgruppen, die existenziell auf Sozialleistungen angewiesen sind, und des Stammtischgeredes über "Sozialschmarotzer" in Grenzen. Alle seriösen Studien gelangen zu dem Schluss, dass es sich bei dem beklagten Leistungsmissbrauch weder um ein Massenphänomen handelt noch der Sozialstaat dadurch finanziell ausgezehrt wird. Vielmehr lenkt man dadurch von einem extensiveren Missbrauch in anderen Bereichen (Einkommensteuererklärungen von Besserverdienenden und Kapitaleigentümern; Subventionsschwindel) ab.
  3. Die demografischen Entwicklungsperspektiven werden in Öffentlichkeit und Medien zu einem wahren Schreckensszenario verdüstert. Mittels der Forderung nach (mehr) Generationengerechtigkeit werden soziale Ungerechtigkeiten innerhalb aller Generationen in einen "Kampf von Alt gegen Jung" umgedeutet. Der politische Kampfbegriff "Generationengerechtigkeit" lenkt von einer hier wie in anderen Teilen der Welt dramatisch wachsenden Ungleichheit innerhalb aller Generationen ab. Kinderarmut wird als geistig-politischer Hebel benutzt, um Alte und Junge, aber auch Eltern und Kinderlose gegeneinander auszuspielen. Ähnliches gilt für Diskussionen zum demografischen Wandel, zur "Vergreisung" unserer Gesellschaft und zu den daraus (angeblich) erwachsenden Finanzierungsproblemen für das System der sozialen Sicherung. Insofern degeneriert die Demografie zur Ideologie und fungiert als Mittel einer familien- und sozialpolitischen Demagogie. Dabei fehlen keine Babys, sondern Beitragszahler/innen, die man etwa durch eine konsequente(re) Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote, die Erleichterung der Zuwanderung und/oder die Erweiterung des Kreises der Versicherten gewinnen kann. Statt zu klären, wie man aus einer längerfristigen Veränderung der Altersstruktur resultierende Schwierigkeiten solidarisch (z.B. durch die Aufhebung/Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze und/oder die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, also die Einbeziehung von Selbstständigen, Freiberuflern und Beamten) bewältigen kann, benutzt man sie als Hebel zur Durchsetzung unsozialer "Sparmaßnahmen".
  4. Leistungskürzungen sind keine Sozialreform, sondern ein Rückfall ins vorletzte Jahrhundert, als die Gesellschaft ihre Mitglieder nicht vor allgemeinen Lebensrisiken aufgrund fehlender Ressourcen zu schützen vermochte. Heute ist sie so reich wie nie und der Wohlfahrtsstaat für die Gesellschaft insgesamt und erst recht für sozial Benachteiligte unverzichtbar. Gerade die Bundesrepublik, deren exportorientierte Wirtschaft zu den Hauptgewinner(inne)n des Globalisierungsprozesses zählt, kann sich einen entwickelten Sozialstaat aufgrund ihres kontinuierlich wachsenden Wohlstandes, der allerdings immer ungleicher verteilt ist, nicht nur weiterhin leisten, sondern darf ihn auch nicht abbauen, wenn sie einerseits die Demokratie und den inneren Frieden bewahren sowie andererseits konkurrenzfähig bleiben will. Selbst im Rahmen der neoliberalen Standortlogik gibt es gute Gründe für eine - im Vergleich mit anderen, weniger erfolgreichen "Wirtschaftsstandorten" - expansive Sozialpolitik.
"Umbau"-Folgen für die Staatsentwicklung: Bedeutet die neoliberale Wende das Ende des Sozialstaates?

Bei der gegenwärtigen "Umbau"-Diskussion handelt es sich um den umfassendsten Angriff auf den Sozialstaat in seiner gewohnten Gestalt. Hierbei geht es längst nicht mehr um bloße Leistungskürzungen (wie noch unter der Regierung Kohl), sondern um einen Systemwechsel. Damit verbunden ist eine gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung von historischer Tragweite. Zwar steht nicht der Sozialstaat selbst zur Disposition, aber es geht um seine grundlegende Transformation, deren Richtung, Radikalität und Realisierungschancen nunmehr erörtert werden sollen. Statt in der Globalisierung einen naturwüchsigen Prozess zu sehen, der entwickelte Industriestaaten wie die Bundesrepublik zwingt, soziale und Umweltstandards zu senken, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben können, ist es notwendig, die neoliberale Modernisierung bzw. Umstrukturierung fast aller Lebensbereiche nach dem Vorbild des Marktes als gesellschaftspolitisches Großprojekt zu kritisieren.

Auf der politischen Agenda, die sich in der rot-grünen Regierungspraxis widerspiegelt, steht nicht etwa weniger, sondern ein anderer Staat. Es geht also keineswegs um die Liquidation des Sozialstaates, vielmehr um seine Reorganisation nach einem neoliberalen Konzept, das Leistungsreduktionen (z.B. "Nullrunden" für Rentner/innen), Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen (Erhöhung des Rentenzugangsalters) bzw. Verkürzung der Bezugszeiten (von Arbeitslosengeld) und die Reindividualisierung sozialer Risiken beinhaltet. Dadurch verändert sich der Sozialstaat grundlegend, und zwar in mehrfacher Hinsicht:
  1. Aus dem Wohlfahrtsstaat wird ein "nationaler Wettbewerbsstaat" (Joachim Hirsch), der die Aufgabe hat, durch seine Politik die Konkurrenzfähigkeit des "eigenen" Wirtschaftsstandortes auf dem Weltmarkt, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Sozialstaatlichkeit, die in der Bundesrepublik ursprünglich Verfassungsrang hatte, besitzt für Neoliberale keinen Eigenwert mehr. Vielmehr muss sich die Wohlfahrt im weitesten Sinne nach der Standortlogik wirtschaftlichen und Machtinteressen unterwerfen. Dies zeigt sich etwa bei Debatten über die Lockerung des Kündigungsschutzes oder die Aufweichung des Flächentarifvertrages.
  2. Aus dem Sozialstaat wird ein Minimalstaat. Der "schlanke Staat" des Neoliberalismus ist magersüchtig im Hinblick auf die Sozialpolitik, aber keineswegs frei von bürokratischen Auswüchsen - ganz im Gegenteil! Beispielsweise werden für Zertifizierungsagenturen, Evaluationsbürokratien und Leistungskontrollen aller Art womöglich mehr Sach- und Personalmittel benötigt als vorher.
  3. Der neoliberale Residualstaat ist eher Kriminal- als Sozialstaat, weil ihn die drastische Reduktion der Wohlfahrt zur Repression gegenüber all jenen Personengruppen zwingt, die als Modernisierungs- bzw. Globalisierungsverlierer/innen zu Opfern seiner rückwärts gerichteten "Reformpolitik" werden. Je weniger großzügig die Sozialleistungen einer reichen Gesellschaft ausfallen, umso schlagkräftiger muss ihr Sicherheits- bzw. Gewaltapparat sein. Nicht nur in den Vereinigten Staaten (US Patriot Act) wurden die Terroranschläge des 11. September 2001 als Vorwand für Einschränkungen der Bürgerrechte benutzt, was die Möglichkeiten verringert, Widerstand gegen soziale Demontage zu leisten.
  4. An die Stelle des aktiven Sozialstaates, wie man ihn bisher kannte, tritt - vom Kommunitarismus, einer US-amerikanischen Denkrichtung, beeinflusst - ein "aktivierender Sozialstaat". Ausgerechnet in einer Beschäftigungskrise, wo Millionen Arbeitsplätze - nicht: Arbeitswillige - fehlen, wird so getan, als seien die von Arbeitslosigkeit Betroffenen an ihrem Schicksal selbst schuld. Unter der positiv anmutenden Formel des "ermunternden Staates" verstärkt man den Arbeitszwang und damit den Druck auf die Erwerbslosen. Trotz des Mottos "Fördern und fordern!", das Leistungsgesetze von Gegenleistungen der Begünstigten abhängig macht, bemüht man sich aber gar nicht darum, die Chancen von sozial Benachteiligten zu verbessern, wie man im Weiterbildungsbereich sieht, wo sich die Bundesagentur (früher: -anstalt) für Arbeit immer stärker auf Hochqualifizierte und leicht Vermittelbare konzentriert. Durch den Verzicht auf Zielgruppenförderung und sozialpädagogische Zusatzbetreuung sowie die unsoziale, aber auch kurzsichtige Fixierung auf den zu erwartenden Vermittlungserfolg ("Output-Orientierung" mit der Festlegung einer "Verbleibsquote" von mindestens 70 Prozent als Voraussetzung für die Finanzierung von wie auch die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen) bleiben die sog. Hauptproblemgruppen des Arbeitsmarktes (Langzeitarbeitslose, Ältere und Berufsrückkehrerinnen) von Qualifizierungs- bzw. Fördermaßnahmen praktisch ausgeschlossen.
Folgen der neoliberalen Hegemonie für die soziale Symmetrie, den inneren Frieden und die Demokratie

Die gegenwärtige US-Amerikanisierung des Sozialstaates führt perspektivisch auch zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur, d.h. einer wachsenden Polarisierung zwischen Arm und Reich. Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch "Risikogesellschaft" von einem sozialen "Fahrstuhl-Effekt", der alle Klassen und Schichten gemeinsam nach oben befördert habe. Betrachtet man die jüngste Gesellschaftsentwicklung, kann eher von einem Paternoster-Effekt die Rede sein: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je gibt es im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt.

Jenseits des Atlantiks ist die sozialräumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen schon viel klarer erkennbar, samt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft: einer gestiegenen (Gewalt-)Kriminalität, des Drogenmissbrauchs und einer Verwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur. Die neoliberale Hegemonie, wie man die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus nennen kann, verschärft aber nicht nur die soziale Asymmetrie, ist vielmehr auch eine Gefahr für den inneren Frieden und die Demokratie.

Deregulierung bedeutet nicht Verzicht auf staatliche Rahmensetzung, vielmehr deren Konzentration auf die Förderung des wirtschaftlichen Leistungswettbewerbs und der rentablen Kapitalverwertung. Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und -zeiten bringt für die Beschäftigten keine oder nur wenig Vorteile, weil sie sich den wirtschaftlichen Verwertungsbedingungen unterordnen müssen und nicht selbst bestimmen können, wann und unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen. Privatisierung öffentlichen Eigentums und sozialer Dienstleistungen läuft auf Entpolitisierung, diese wiederum auf die Entdemokratisierung der Gesellschaft hinaus, weil nunmehr der Bourgeois jene Entscheidungen trifft, die eigentlich dem Citoyen bzw. dem Gemeinwesen und seinen gewählten Repräsentant(inn)en vorbehalten bleiben sollten. Überhaupt werden Menschen der Möglichkeit beraubt, in gesamtgesellschaftliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einzugreifen. Wie soll z.B. eine alleinerziehende Mutter, die nicht einmal weiß, ob sie genug Geld für die nahende Klassenfahrt ihres Kindes erübrigen kann, am politischen Leben teilhaben?

In der neoliberalen Weltsicht erscheint Armut nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal, das im Grunde eine gerechte Strafe für Leistungsverweigerung oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die auch ganz schlicht darin bestehen kann, den Tipp eines guten Anlageberaters zu befolgen. Dagegen sind hohe Löhne bzw. Lohnnebenkosten der wirtschaftliche Sündenfall schlechthin und müssen als Ursache für die Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche in Deutschland herhalten.

Fast allen bekannten Plänen, die den Sozialstaat sanieren sollen, wie den Konzepten der sog. Hartz-Kommission "zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit" sowie der sog. Rürup-Kommission "für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme" und der von Bundeskanzler Gerhard Schröder präsentierten "Agenda 2010" liegt das neoliberale Dogma zugrunde, wonach die Arbeitslosigkeit in erster Linie durch Senkung der Lohnnebenkosten bekämpft werden muss. Es kommt aber in Wirklichkeit gar nicht auf die Höhe der (gesetzlichen) Personalzusatzkosten, also der von den Arbeitgebern zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge, an. Entscheidend ist vielmehr die Höhe der Lohnstückkosten, welche in der Bundesrepublik aufgrund einer überproportional wachsenden Arbeitsproduktivität seit Jahren stärker sinken als in den meisten mit ihr auf dem Weltmarkt konkurrierenden Ländern, was im letzten Jahr zu einem Rekordüberschuss in der Handelsbilanz von mehr als 100 Mrd. EUR führte. Nicht zufällig ist Deutschland - bezogen auf die Leistungsfähigkeit pro Kopf der Bevölkerung - mit großem Abstand "Exportweltmeister". Hinge das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft von niedrig(er)en Lohn- bzw. Lohnnebenkosten ab, wie Neoliberale behaupten, müssten in Bangladesch und Burkina Faso längst Vollbeschäftigung und allgemeiner Luxus herrschen!

Wer die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf gestiegene Personalzusatzkosten zurückführt, wie es die Arbeitgeber, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Bundesregierung tun, verwechselt Ursache und Wirkung: Die hohe Erwerbslosigkeit ist zwar für die hohen Lohnnebenkosten verantwortlich, aber nicht umgekehrt. Daher erwies sich der Glaube, die (teilweise) Umstellung des Sozialsystems von der Beitrags- auf Steuerfinanzierung schaffe Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität und mehr soziale Gerechtigkeit, in der jüngsten Vergangenheit genauso als Illusion wie die der Riester'schen Rentenreform zugrunde liegende Auffassung, das Kapitaldeckungsprinzip löse die Probleme der Alterssicherung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (zumindest besser als das Umlageverfahren). Wer die Lohnnebenkosten senken will, um "den Faktor Arbeit zu entlasten", macht ihn in Wahrheit billiger für das Kapital und belastet damit die Arbeitnehmer/innen zusätzlich.

Gegen eine Zurückdrängung der Beitrags- und einen Ausbau der Steuerfinanzierung des sozialen Sicherungssystems sprechen im Wesentlichen vier Gründe:
  1. Für die Betroffenen ist die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen erheblich weniger diskriminierend als die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe, deren Inanspruchnahme ihnen noch mehr Missbrauchsvorwürfe eintragen würde, weil ihr keine "Gegenleistung" in Form eigener Beitragsleistungen entspricht.
  2. Da steuerfinanzierte - im Unterschied zu beitragsfinanzierten - Sozialausgaben den staatlichen Haushaltsrestriktionen unterliegen, fallen sie eher den Sparzwängen der öffentlichen Hand zum Opfer; außerdem ist ihre Höhe von wechselnden Parlamentsmehrheiten und Wahlergebnissen abhängig. Wie sollen die ständig sinkenden Steuereinnahmen des Staates zur Finanzierungsbasis eines funktionsfähigen Systems der sozialen Sicherung werden? Schließlich haben alle Parteien die weitere Senkung von Steuern auf ihre Fahnen geschrieben.
  3. Man muss sich die Struktur der Steuereinnahmen ansehen, um zu erkennen, dass Unternehmer und Kapitaleigentümer im "Lohnsteuerstaat" Deutschland kaum noch zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Die steuerliche Schieflage würde zu einer einseitigen Finanzierung der Sozialleistungen durch Arbeitnehmer/innen führen, wohingegen die (bisher erst ansatzweise durchbrochene) Beitragsparität der Sozialversicherung für eine angemessene(re) Beteiligung der Arbeitgeberseite an den Kosten sorgt.
  4. Gegenwärtig wird die Steuerpolitik im Wesentlichen von zwei Trends bestimmt: Einerseits findet unter dem Vorwand der Globalisierung bzw. der Notwendigkeit, durch Senkung der Einkommen- und Gewinnsteuern (potenzielle) Kapitalanleger zu ködern und den "Standort D" zu sichern, eine Verlagerung von den direkten zu den indirekten Steuern statt. Andererseits neigt die öffentliche Meinung, flankiert von einem Wandel des Gerechtigkeitsverständnisses im neoliberalen Sinne, viel stärker als früher zur Nivellierung der Steuersätze. Statt progressiver Einkommensteuern präferiert man Stufensteuersätze, die sich nach US-Vorbild in Richtung der Einheitssteuer (flat tax) annähern. Typisch dafür sind das von Friedrich Merz, dem stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, entwickelte Modell mit drei Steuersätzen (12, 24 und 36 Prozent) sowie das Konzept des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Paul Kirchhof, das nur noch einen Steuersatz (25 Prozent) kennt. Unter diesen Voraussetzungen wäre es naiv anzunehmen, ein sozialer Ausgleich könne aus Steuermitteln erfolgen. Vielmehr sinkt das Steueraufkommen tendenziell, zumal sich die Parteien der Bundesrepublik - genauso wie die Nationalstaaten - in einem regelrechten Steuersenkungswettlauf befinden.
Die solidarische Bürgerversicherung als einzige Alternative zum neoliberalen Um- bzw. Abbau des Sozialstaates

M.E. geht es darum, die spezifischen Nachteile des deutschen Sozialstaatsmodells auszugleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben. Strukturdefekte des "rheinischen" Wohlfahrtsstaates bilden seine duale Architektur (Spaltung in die Sozialversicherung und die Sozialhilfe), seine strikte Lohn- und Leistungsbezogenheit (Äquivalenzprinzip) sowie seine Barrieren gegen Egalisierungs-tendenzen (Beitragsbemessungsgrenzen; Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung; Freistellung prekärer Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungs- bzw. Steuerpflicht). Der entscheidende Pluspunkt des Bismarck'schen Sozialsystems gegenüber anderen Modellen liegt jedoch darin, dass seine Geld-, Sach- und Dienstleistungen keine Alimentation von Bedürftigen und Benachteiligten aus Steuermitteln darstellen, die je nach politischer Opportunität widerrufen werden kann, sondern durch Beitragszahlungen erworbene (und verfassungsrechtlich garantierte) Ansprüche.

Das in der Bundesrepublik bestehende System der sozialen Sicherung speist sich nur zu etwa einem Drittel aus Steuereinnahmen; zwei Drittel der Finanzmittel stammen aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. Umso wichtiger wäre es, durch eine Übertragung des Prinzips der ökonomischen Leistungsfähigkeit auf dieses Gebiet für mehr Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Statt alle nicht dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Leistungen gleich als "versicherungsfremd" zu brandmarken, was der Logik gewinnorientierter Privatversicherungen entspricht, müsste man überlegen, wie ein Mehr an solidarischer Umverteilung innerhalb der Sozialversicherungzweige zu realisieren und die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen ist.

An die Stelle der bisherigen Arbeitnehmer- muss m.E. eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung treten. Allgemein zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung sämtliche dafür geeignete Versicherungszweige (Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) umfasst. Schon jetzt stellt die Gesetzliche Unfallversicherung insofern einen Sonderfall dar, als sie sich nur aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert. Der letzte Versicherungszweig, die Arbeitslosenversicherung, könnte nach einem Vorschlag des "Forums Demokratische Linke 21" in eine "Arbeitsversicherung" umgewandelt werden, die auch sämtliche Selbstständigen und Freiberufler/innen aufnehmen soll. Damit schlösse sich der Kreis zu einer beinahe alle Einwohner/innen als Mitglieder umfassenden Volksversicherung.

Einheitlich zu sein heißt in diesem Zusammenhang, dass neben der Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren. Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Wahrung des Bestandsschutzes), Zusatzangebote und Ergänzungsleistungen beschränken. Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht nur auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen, Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet dies nicht, dass Arbeitgeberbeiträge entfallen. Sie sollten jedoch nicht mehr an die Bruttolohn- und -gehaltssumme gekoppelt werden, was beschäftigungsintensive Betriebe übermäßig belastet. Ende der 1970er-/Anfang der 1980er-Jahre wurde über alternative Erhebungsmethoden diskutiert. Damals schlugen sozialdemokratische Politiker/innen, Gewerkschafter/innen und Wissenschaftler/innen vor, die Bruttowertschöpfung eines Unternehmens als Bemessungsgrundlage zu wählen. Durch den als "Maschinensteuer" bezeichneten Wertschöpfungsbeitrag sollte eine ausgewogenere Belastung erreicht und ein positiver Beschäftigungseffekt erzielt werden. Auch wenn man sich davon keine Wunderdinge versprechen sollte, hätte es der Wertschöpfungsbeitrag verdient, wieder mehr Aufmerksamkeit zu finden.

Nach oben darf es Beitragsbemessungs- sowenig wie Versicherungspflichtgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben würden, sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte zu entziehen und in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen. Wer den nach Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht selbst entrichten kann, muss finanziell aufgefangen werden. Vorbild dafür könnte die Gesetzliche Unfallversicherung sein. Dort dient der Staat gewissermaßen als Ausfallbürge für Vorschulkinder, Schüler/innen und Studierende, die einen Kindergarten, eine allgemeinbildende Schule bzw. eine Hochschule besuchen.

Bürgerversicherung schließlich heißt, dass Mitglieder aller Berufsgruppen, d.h. nicht nur abhängig Beschäftigte, aufgenommen werden. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Es geht primär darum, die Finanzierungsbasis des Sozialsystems zu verbreitern und den Kreis seiner Mitglieder, zu erweitern. Bürgerversicherung bedeutet, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Dies schließt keineswegs aus, dass sich der Staat mit Steuergeldern an ihrem Auf- und Ausbau beteiligt. Die geplante Bürgerversicherung könnte zum Einfallstor für einen Systemwechsel werden, sofern sie nicht nach dem Versicherungsprinzip konstruiert wäre, sondern aus Steuermitteln finanziert würde.

* Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Leiter der Abteilung Politikwissenschaft an der Universität Köln. Der hier vorliegende Text enstpricht einem Referat, das der Autor beim 10. Friedenspolitischen Ratschlag am 6./7. Dezember 2003 in Kassel hielt.

Buchveröffentlichungen des Autors zum Thema:
  • Butterwegge, Christoph: Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik, 3. Aufl. Opladen (Leske & Budrich) 2001
  • Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (Hrsg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, 2. Aufl. Opladen (Leske & Budrich) 2003
  • Butterwegge, Christoph (u.a.): Armut und Kindheit. Ein regionaler, nationaler und internationaler Vergleich, Opladen (Leske & Budrich) 2003


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