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"Eine 'andere Welt' ist mit WTO und IWF nicht möglich"

Ein Plädoyer für eine "offensive Herrschaftskritik" von Ulrich Brand (Universität Kassel)*

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag aus der entwicklungspolitischen Zeitschrift Iz3W, den uns die Herausgeber freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Informationen über Bezugsbedingungen gibt es hier: Homepage von Iz3w.


Die Debatten darüber, wie die weitere Liberalisierung der Finanzmärkte verunmöglicht werden kann, sollten nicht als »reformistisch« denunziert werden, auch wenn es sich um »defensive« Auseinandersetzungen handelt. Andererseits sollten diese Kämpfe aufgrund ihrer Orientierung an der »großen« Politik auch nicht als die einzig wirklich wichtigen interpretiert werden. Denn das reproduziert ein Verständnis, demzufolge »Politik« die Angelegenheit von Staat, Parteien und Verbänden ist. In der Realität sieht es aber anders aus: Viele Entscheidungen werden nicht - oder erst in letzter Instanz - »von oben durchgedrückt«. Sie sind vielmehr Ausdruck von gesellschaftlichen Kämpfen um Hegemonie. Emanzipatorische Politik bedarf daher der Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

Sicherlich entsteht die derzeitige globalisierungskritische Konjunktur deswegen, weil Akteure wie ATTAC am bürgerlichen Politik- und Staatsverständnis anknüpfen. Menschen politisieren sich heute z.B. aufgrund der unternehmensfreundlichen staatlichen Politik. Dies darf jedoch nicht zum fast ausschließlichen Bezugspunkt der Bewegung werden. Diese Gefahr sehe ich beispielsweise bei Susan George, Vizepräsidentin von ATTAC Frankreich. Die Stoßrichtung ihrer Ansätze läuft auf gegenseitige Machtkontrolle im Sinne von checks and balances hinaus: Die Neoliberalen sollen zurückgedrängt und eine »neue, modernisierte und globalisierte keynesianische Strategie« ermöglicht werden. Damit denkt George politische Veränderung von oben und in bestehenden Bahnen. Nicht zufällig ist ihr wichtigstes strategisches Element ein »weltweiter Gesellschaftsvertrag«, in dem es vor allem um eine neue Entwicklungspolitik geht.

Auch im aktuellen Manifest von ATTAC Frankreich scheint auf, dass staatliche Politik vor allem über Öffentlichkeitsarbeit und die Stärkung nationaler Parlamente sowie deren Kontrolle durch die Bewegungen verändert werden soll. Der ungleich komplexere Prozess, Herrschaftsverhältnisse in verschiedensten Lebensbereichen abzubauen, gerät dabei aus dem Blick. Aus der Perspektive eines radikalen Reformismus ist hingegen festzuhalten, dass die Gesellschaft vor allem außerhalb des Staates und der eng mit ihm verknüpften Zivilgesellschaft verändert werden kann - durch emanzipative, post-kapitalistische Orientierungen und Praxis. Wenn die derzeit entstehende Bewegung ihren Anspruch auf eine 'andere Welt' ernst nimmt, dann geht es nicht (nur) um Macht, schon gar nicht nur um staatliche, sondern um eine andere Form von Gesellschaftlichkeit.

Die dazu nötigen »offensiven« Prozesse der Herrschaftskritik und der Selbstbestimmung sind zwar für die bürgerlichen Feuilletons uninteressant. Aber erst ein anderes Politikverständnis, nach dem Motto »das Private ist politisch«, schafft jenes rebellische Bewusstsein, dem es nicht nur um alternative Expertise, Macht in NGOs oder mehr Demokratie im Sinne eines größeren Einflusses der Parlamente geht. Die 'andere Welt' entsteht vielmehr in neuen alltäglichen Lebensformen, im Abweichen von der Normalität. Dazu zählen auch geistreiche Formen des sich Lustigmachens über die Inszenierungen der Staatsmänner. Der größte Erfolg des Weltsozialforums in Porto Alegre lag in der Botschaft: Hier die bunte Schar lebensbejahender Menschen, dort in New York das Grau-in-Grau der Verwalter der Welt.

Bewegungen wachsen nicht nur, weil sie »klare« Forderungen haben. Die Menschen kommen nicht wegen der Tobin-Tax zu ATTAC, sondern weil sich dort etwas bewegt. Es muss daher keine »programmatischen Ziele einer Bewegung« geben, wie Peter Wahl meint. Die Bewegung gibt es ja gar nicht, sie setzt sich aus unterschiedlichen Spektren zusammen. Warum können diese nicht unterschiedliche Ziele haben? Bei Wahl klingt entgegen dem eigenen Postulat das Strategien-Entwerfen für die »große« Bewegung durch.

Die Forderungen der globalisierungskritischen Bewegung müssen nicht unbedingt »realpolitische« Kraft entfalten, sondern Denk- und Handlungshorizonte öffnen. Eine in diesem Sinne politisierbare Forderung wäre jene nach der Abschaffung der großen Institutionen wie WTO oder IWF. Auch wenn sie zunächst unrealistisch klingt, können mit ihr Argumente über die Verfasstheit des internationalen Systems transportiert werden. Denn eine 'andere Welt' ist mit WTO und IWF nicht möglich. Diese hochgradig vermachteten Organisationen suggerieren, dass Probleme »von oben« und mit Hilfe des Kapitals gelöst werden. Mit der Forderung nach ihrer Abschaffung könnten jene Kräfte delegitimiert werden, die meinen, die Institutionen seien reformierbar.

Weltweite Machtverhältnisse stellen sich natürlich nicht allein über IWF & Co. her. Doch sollten diese Apparate nicht unterschätzt werden: Sie haben nicht nur materielle Macht, sondern sind auch »organische Intellektuelle« des Neoliberalismus. Sie stellen die hegemonialen Verhältnisse immer wieder her, indem sie Kritik partiell aufnehmen und zur Beibehaltung grundlegender Machtverhältnisse nutzen. Aus einer radikalen Reformperspektive wäre ihre Abschaffung Teil der Veränderung bürgerlich-kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse und ihrer neoliberalen Ausformung. Ähnliches will auch das Konzept der »De-Globalisierung« von Walden Bello. Es geht ihm gerade nicht um die falsche Alternative von Protektionismus versus wirtschaftliche Außenorientierung, sondern um die Abschaffung der desaströsen internationalen Zwänge, die lokale Entwicklung unmöglich machen. Gegenüber der breiten Öffentlichkeit ist es sinnvoll, die Gemeinsamkeiten der globalisierungskritischen Bewegung(en) herauszustellen. Intern sollten jedoch kritisch-solidarische Diskussionen um divergierende Perspektiven geführt werden. Der undogmatische radikale Flügel kann dabei verhindern helfen, dass die am hegemonialen Politikverständnis orientierten Teile der Bewegung zur »außerparlamentarischen Sozialdemokratie« werden.

* Ulrich Brand (Uni Kassel) ist in der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) aktiv und Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von ATTAC Deutschland.

Aus: Iz3W, Heft 261 (2002). Der Beitrag erschien unter dem Titel "Offensive Herrschaftskritik"

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