Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Klassenkampf ist konkret

Deutsche Medien tun gern so, als sei die BRD ein streikfreudiges Land. Ensemble, die Zeitschrift der CGT zeigt: Der Nachbar kann es besser

Von Georges Hallermayer, Dieter Schubert *

Gewerkschafter wissen für gewöhnlich: Arbeitsniederlegungen sind das letzte Mittel, ihre »Herren Arbeitgeber« – in Frankreich werden sie »Patron« genannt – zum Einlenken zu bewegen, ihnen abzuringen, was sie freiwillig nicht »geben« wollen. Trotz des sich ausbreitenden Web-Prekariats, zahlloser Versionen von Billig- und Minijobs, deren Konditionen bestehende gesetzliche Regelungen unterlaufen, ist abhängige Lohnarbeit für die meisten Menschen immer noch die einzige Quelle, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist somit kein leichtfertiger Schritt, in den Streik zu treten – wie es beispielsweise der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) regelmäßig unterstellt wird.

Die Macht der Kapitaleigner wird von Justiz und Polizei geschützt. Dem setzen Arbeiter und Angestellte die Kraft der Solidarität entgegen. Der Begriff wird auch vom Klassengegner für sich reklamiert. Doch Solidarität ist das Gegenteil von Kungelei und »Schwarmintelligenz«, hat nichts mit gelenkter Massenaufmerksamkeit der Netzfänger in den angeblich »sozialen« Medien gemein. Was diese Kraft der Arbeiterklasse in den Betrieben erreichen kann, zeigen einige Beispiele aus Frankreich (April/Mai), die der Mitgliederzeitung der Gewerkschaft CGT, Ensemble, entnommen sind.

So die Firma Clestra Hauserman: Die Gruppe ist in der jüngeren Vergangenheit stark ins Geschäft mit Saudi-Arabien eingestiegen. Sie verdoppelte die Produktion in bestimmten Bereichen. Die Beschäftigten vereitelten nach sieben Tagen Streik die Anwendung des berüchtigten »Abkommens der Wettbewerbsfähigkeit«. Diese gesetzliche Regelung stellt unter bestimmten Bedingungen die 35-Stunden-Woche in Frage und macht es möglich, Gehälter vorübergehend einzufrieren. Die Arbeiter des Unternehmens erkämpften eine Erhöhung ihrer Löhne und Gehälter um 20 Euro netto pro Monat.

Oder Eberspächer SAS: Auf Druck der Beschäftigten zahlt der auch in Frankreich aktive Automobilzulieferer jedem Mitarbeiter eine Prämie von 150 Euro, verbunden mit einer Lohnerhöhung von 1,5 Prozent. Zudem übernimmt das Unternehmen dabei zu 80 Prozent die »Mutuelle«, eine Zusatzversicherung im Krankheitsfall.

Mehr Lohn erhalten die Beschäftigten von Subunternehmern des Luxushotels Hyatt Madelaine nach einem Monat Arbeitskampf. Die Vereinbarung gilt für ausgegliederte »Housekeeping«-Kräfte, Gepäcksträger und das Wartungspersonal und sieht eine monatliche Lohnerhöhung von 380 auf 420 Euro vor. Der Streik hatte sich auch auf andere Pariser Hotels erstreckt. Nach für die Betreiber peinlichen Presseberichten mussten diese beträchtliche Zugeständnisse machen.

Vier Tage lang streikten 90 Prozent der Belegschaft des Nudelfabrikanten Alpina. Dann akzeptierte das Unternehmen eine Lohnsteigerung von 50 Euro brutto pro Monat. Zudem wurde eine Beendigung der Praxis »Karenzzeit« eingeräumt, d. h. Alpina bezahlt im Krankheitsfall nicht erst nach drei Tagen den Lohn weiter, sondern sofort. Die Gewerkschaft CGT erreichte nach sechs Tagen Streik eine Beendigung der bisherigen Mindestlohnpraxis bei Tang Frères. Die »Gebrüder Tang«, eine chinesische Restaurantkette und Betreiberin des größten Asia-Supermarktes außerhalb Chinas, sind jetzt zu Verhandlungen über einen Tarifvertrag bereit.

Sanofi: Der multinationale Pharmakrake, einer der mächtigsten Konzerne Frankreichs, ließ die letzten beiden Jahre keine Gehaltserhöhung zu. Die Beschäftigten in Sisteron (in den Alpen der Provence) fühlten sich nicht nur schlecht behandelt, sondern auch aufs äußerste provoziert, als das Unternehmen eine Ausschüttung von 3,6 Milliarden Euro Dividende beschloss. Bei einem Nettogewinn von sieben Milliarden Euro machten sie den Arbeitern ein »Angebot«, eine Stellenzulage von 70 Eurocents pro Monat zu zahlen. Im Februar legten die Beschäftigten das Werk still. 96 Prozent der Belegschaft folgten dem Aufruf der CGT. Ziel war es, eine Erhöhung der Zulage um 120 Euro netto zu erkämpfen. Nach fünf Wochen gestand Sanofi eine Erhöhung um 80 Euro monatlich rückwirkend zum Januar zu, nachdem bekanntgeworden war, dass der neue »Big Boss« vier Millionen Euro allein als Willkommensprämie einsacken durfte.

Auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sind im Ausstand – für Franzosen selbstverständlich, für Deutsche »bedenklich«. Und sie kämpfen auch für sogenannte politische Ziele. Die 5,3 Millionen Beamten des Staates, der Regionalverwaltungen und der Krankenhäuser haben seit sieben Jahren keine allgemeine Erhöhung ihrer Gehälter bzw. Besoldung erhalten. Premierminister Manuel Valls will das bis 2017, dem Ende der Legislaturperiode, fortsetzen. Auf Initiative der CGT werden die Beamten der Territorialverwaltungen (Region und Departement) in ganz Frankreich die Arbeit niederlegen. Sie wenden sich gegen die beschlossene, aber noch nicht umgesetzte Gebietsreform.

Auf Initiative der Gewerkschaft SNALC werden Lehrer an Gymnasien landesweit am 28. und am 31. August streiken. Sie wenden sich gegen den geänderten Beginn des Schuljahres. Das Personal (Lehrkräfte und Verwaltung) am Collège Saint-Exupéry in Perpignan (Pyrenäen) protestierten gegen die Einschränkungen im Budget mit einem eintägigen Streik am 4. Mai. In Valence haben am 4. Mai die Bediensteten der Stadt auf Initiative der CGT die Arbeit niedergelegt. Ab 4. Mai sind die kommunalen Kinderkrippen in Montreuil geschlossen. Die Erzieherinnen lassen sich den extremen Personalmangel nicht mehr gefallen.

Mehrere Gewerkschaften rufen die Mitarbeiter der Assistance publique – Hôpitaux de Paris, der 38 städtischen Krankenhäuser der Hauptstadt, auf, am 21. Mai erneut zu streiken. Wie die Humanité berichtet, protestieren sie gegen den verordneten »Strategieplan für das Gesundheitswesen«. Am 9. April hatten die Gewerkschaften bereits Hunderttausende Mitarbeiter des Gesundheitswesens gegen die Kürzungspolitik der Regierung Hollande mobilisiert.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 19. Mai 2015

Das streikende Deutschland

Eine Übersicht über aktuelle Arbeitskämpfe **

Der neunte Streik der Gewerkschaft der Lokführer steht derzeit klar im Vordergrund: Doch nicht nur die Zugführer streiken: Auch Postboten, Erzieherinnen, Geldtransporteure und Beschäftigte des Einzelhandels befinden sich im Ausstand. Eine Übersicht. Streiks in den Kitas fortgesetzt

Am heutigen Mittwoch sind in mehreren Bundesländern die unbefristeten Streiks in den Kindertagestätten fortgesetzt worden. In Brandenburg, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt blieben viele kommunale Kitas geschlossen.

In Brandenburg haben die Erzieher nach Angaben der Gewerkschaft ver.di im Landkreis Oberspreewald-Lausitz ihre Arbeit niedergelegt. Kommunale Kitas in den Städten Lübbenau und Vetschau sowie in der Gemeinde Altdöbern blieben geschlossen. Geplant ist, diese Aktion dort bis einschließlich Freitag fortzusetzen.

In Saschsen-Anhalt sind die Einrichtungen in Dessau-Roßlau, Köthen und Halle betroffen, wie der Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Alexander Pistorius, mitteilte. Etwa 400 Beschäftigte der Sozial- und Erziehungsdienste werden am Vormittag zu einer Kundgebung in Halle erwartet. Dort wollen sie laut GEW den Schulterschluss mit den Eltern suchen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Die Beschäftigten in Dessau-Roßlau verlängerten ihren Streik, sagte ver.di-Sprecherin Ellen Bornschein am Mittwoch. Statt wie zunächst geplant bis zum Freitag wollen sie nun bis zum 29. Mai ihre Arbeit niederlegen.

Die Ausstände fanden auch in sächsischen Kindertagesstätten ihre Fortsetzung. Nach Angaben der Gewerkschaft ver.di sind diesmal Kita-Mitarbeiter in Leipzig, Chemnitz, Zwickau, Plauen und Freiberg zu Arbeitsniederlegungen aufgerufen. »Die Leute sind motiviert und die Streikbereitschaft ist hoch«, sagte ver.di-Sprecher Philipp Motzke. Hunderte Beschäftigte wollen sich am Mittag erneut in Leipzig zu einer gemeinsamen Kundgebung der Gewerkschaften versammeln, dieses Mal vor dem Rathaus.

Im Bundesland Thüringen legen weiterhin die Erzieher in Erfurt, Gotha, Weimar und Jena sowie in drei Landkreisen die Arbeit nieder, wie GEW-Sprecher Michael Kummer mitteilte. Schwerpunkt der Proteste ist diesmal die Wartburgstadt Eisenach, wo sich die Erzieher am Vormittag zu einer Streikversammlung treffen wollen. Laut GEW werden etwa 200 Beschäftigte erwartet, die sich am Morgen mit Bussen auf den Weg nach Eisenach gemacht haben.

Unterdessen plant ver.di weitere Streikaktionen nach Pfingsten. Diese würden sofort ausgesetzt, wenn die kommunalen Arbeitgeber ein akzeptables Angebot vorlegen würden. »Es ist Zeit, wieder miteinander zu reden. Die Gewerkschaft sollte an den Verhandlungstisch zurückkehren«, erklärte der Geschäftsführer Kommunaler Arbeitgeber Brandenburg (KAV), Klaus Klapproth.

Ver.di fordert eine Aufwertung der Sozial- und Erzieherberufe. Dies sollte durch eine höhere Eingruppierung in den Tarifvertrag öffentlicher Dienst erfolgen. Dies würde im Durchschnitt zu einer Gehaltserhöhung von zehn Prozent führen. Das ist aus Sicht der Kommunalen Arbeitgeber nicht bezahlbar.

In der vergangenen Woche hatten etwa 2000 Beschäftigte von 450 kommunalen Einrichtungen in Brandenburg die Arbeit niedergelegt. In Berlin werden weiterhin sieben Kitas und fünf Horte des Studentenwerks bestreikt.

Neue Tarifrunde bei der Deutschen Post begonnen

Bei der Deutschen Post wurde bis zum heutigen Mittwochvormittag der Warnstreik fortgesetzt. Derzeit haben Gewerkschaft und Arbeitgeber einen weiteren Versuch zur Lösung des festgefahrenen Tarifkonflikts gestartet. Nach vier erfolglosen Runden traten ver.di und Management am Mittwoch in Königswinter bei Bonn zu weiteren Gesprächen zusammen. Für die rund 140.000 Beschäftigten fordert die Gewerkschaft kürzere Arbeitszeiten sowie 5,5 Prozent mehr Geld. Eine Lösung des Tarifkonflikts gilt angesichts der zugespitzten Lage als extrem schwierig. Für die Verhandlungen wurden zwei Tage angesetzt. Verschärft hatte sich Tarifstreit in den vergangenen Tagen nicht allein durch Warnstreiks. Ver.di warf der Post vor, Beschäftigte eingeschüchtert und Beamte als Streikbrecher eingesetzt zu haben. Am Dienstag hatte die Gewerkschaft beim Arbeitsgericht Bonn eine einstweilige Verfügung beantragt, um gegen den unzulässigen Einsatz von Beamten während der Streiks vorzugehen. Darüber soll am Dienstag kommender Woche verhandelt werden. Das Unternehmen wies die Anschuldigungen zurück und forderte den Tarifpartner auf, den Konflikt am Verhandlungstisch zu lösen.

Streik der Geldtransporteure in Brandenburg fortgesetzt

Im Tarifkonflikt beim Werttransport-Unternehmen Prosegur in Potsdam ist der Streik am Montag wie geplant fortgesetzt worden. Allerdings setzt die Gewerkschaft ver.di auf eine Schlichtung. Am Montag sei der Arbeitgeberseite ein entsprechender Vorschlag zum Prozedere von ver.di-Verhandlungsführer André Pollmann übermittelt worden, hieß es. Bereits am Freitag hatte sich eine Streikversammlung mit knapp 150 Beschäftigten für ein Schlichtungsverfahren ausgesprochen.

Prosegur zeigte sich aufgeschlossen. »Wir sind gesprächsbereit«, teilte ein Unternehmenssprecher am Montag mit. Prosegur werde eine Schlichtung als Alternative ernsthaft prüfen, hieß es weiter.

Anfang vergangener Woche war ein drittes Spitzengespräch mit den Arbeitgebern ergebnislos verlaufen. Die Gewerkschaft ver.di verlangt statt der angebotenen 0,65 Euro einen Zuschlag von einem Euro pro Stunde. Die Auswirkungen des Streiks fallen laut Gewerkschaft unterschiedlich aus: An einigen Geldautomaten gebe es in Berlin und Brandenburg kein Geld mehr. Über einen Notbetrieb würde Geldautomaten aber weiter beliefert.

Streiks im bayerischen Einzelhandel

Ebenfalls am Montag ist der Streik im bayerischen Handel fortgesetzt worden. Es wurden die Beschäftigten der Kaufland-Betriebe in München Ollenhauerstr., Bad Tölz, Moosbrug, Erding, Regensburg, Weiden sowie des H&M Zentrallagers in Großostheim aufgerufen. Bereits in den letzten beiden Wochen war es zum Streikauftakt im bayerischen Einzelhandel gekommen. Laut ver.di werde es in den kommenden Tagen zu weiteren Arbeitskampfmaßnahmen kommen.

Warnstreik im rheinland-pfälzischen Einzelhandel

Die Gewerkschaft ver.di hat in Rheinland-Pfalz Warnstreiks im Einzelhandel beschlossen. In verschiedenen Städten seien Aktionen geplant, sagte ver.di-Gewerkschaftssekretär Stefan Prinz am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. Auch Streiks seien vorgesehen. Die Arbeitskämpfe liefen zunächst unbefristet. Gewerkschaft und Arbeitgeber hatten ihre Tarifgespräche nach der zweiten Runde erneut vertagt und wollen am 23. Juni weiterverhandeln. Der Einzelhandelsverband zeigte sich dennoch zuversichtlich.

Die Gewerkschaft fordert für die rund 100 000 Beschäftigten eine Gehalts- und Lohnerhöhung von einem Euro pro Stunde, Auszubildende sollen 70 Euro im Monat mehr erhalten. Die Unternehmer boten in der ersten Runde im April eine Gehalts- und Lohnerhöhung um 1,5 Prozent ab 1. Juni bei 21 Monaten Laufzeit des Tarifvertrags an. Das Angebot umfasst auch eine Einmalzahlung von 215 Euro, die in zwei Raten 2016 ausgezahlt werden soll - und danach weiter als feste Größe in bestimmten Bereichen. Nach Angaben der Unternehmerseite entspricht die ver.di-Forderung umgerechnet zwischen vier Prozent in oberen und bis über zehn Prozent in unteren Lohngruppen.

Das Angebot der Unterneher komme der Forderung von ver.di in keinster Weise entgegen, sagte Gewerkschaftssekretär Prinz. Der Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbands Mittelrhein-Rheinhessen-Pfalz, Thomas Scherer, sagte, die Arbeitskämpfe seien für ihn keine große Überraschung. »Wir sind immer noch zuversichtlich, dass wir eine Einigung finden.«

Urabstimmung zum Charité-Streik

Einen unbefristeten Streik könnte es bald in der Berliner Charité geben. Mit dem Verschicken der Abstimmungs- und Infobriefe hat am Mittwoch an der Berliner Charité die Urabstimmung über einen unbefristeten Streik begonnen. Die Gewerkschaft ver.di hat ihre Mitglieder dazu aufgerufen, bis zum 5. Juni ihre Stimmen dazu abzugeben. Die drei Wahllokale an den einzelnen Charité-Standorten seien ab kommenden Dienstag geöffnet, teilte Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel mit.

Damit gestreikt werden kann, müssten sich mindestens 75 Prozent der Mitglieder für den Arbeitskampf aussprechen. Angaben darüber, wie viele Mitglieder die Gewerkschaft unter den rund 13.000 Beschäftigten der größten deutschen Universitätsklinik hat, macht ver.di nicht. In dem Konflikt geht es vor allem um Forderungen der Charité-Pflegekräfte nach mehr Personal und besseren betrieblichen Normen.

** Aus: neues deutschland (online), Mittwoch, 20. Mai 2015 betrieblichen Normen.




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