Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Internationalisierung und Globalisierung könnten ein Segen für die Menschen sein und kein Fluch"

Rede von Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, am 3. April in Berlin

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede, die der DGB-Vorsitzende Michael Sommer auf der Großkundgebung gegen Sozialabbau am 3. April in Berlin gehalten hat.


Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Freunde,

wenn wir schreiten Seit an Seit
  • für eine menschliche Gesellschaft,
  • für Arbeit und soziale Gerechtigkeit,
  • für ein Land, in dem die Schwachen Schutz erfahren,
  • für eine Gesellschaft, die solidarisch ist mit den Arbeitslosen,
  • für eine Politik, die den jungen Menschen Zukunftschancen gibt, statt ihr Leben zu versauen,
wenn wir also schreiten Seit an Seit, dann können wir es schaffen. Und nur dann werden wir es schaffen.

So gesehen, ist dieser 3. April ein klares Signal an die Herrschenden in Parteien und Wirtschaft, dass Schluss sein muss mit einer Politik, die der Masse der Bevölkerung schadet und die die Reichen immer reicher und die das Kapital und seine Manager immer dreister werden lässt.

Hunderttausende sind heute morgen aufgestanden, sehr früh, haben Busse bestiegen und Sonderzüge gefüllt mit einer einzigen Botschaft: Wir sind heute aufgestanden, damit es endlich besser wird. Mit dieser Botschaft wissen wir uns eins mit den Demonstranten in Rom, in 50 französischen Städten, in Bratislava und Lubljana, in allen Ländern der Europäischen Union von Spanien bis Schweden, von Großbritannien bis Griechenland. Überall dort findet heute der große Schulterschluss statt: Der große Schulterschluss zwischen Gewerkschaftern und Studenten, Sozialverbänden und Rentnern, von Arbeitslosen und Auszubildenden, von linken Kritikern in den Parteien über kirchliche Gruppen, der Friedensbewegung bis zu den Globalisierungskritikern.

Auch hier in Deutschland schaffen wir dieses neue Bündnis: Ein Bündnis der Solidarität! Gemeinsam setzen wir dieses Zeichen. Wir können stolz darauf sein:
In Köln demonstrieren zur Stunde 100.000!
In Stuttgart sind es 120.000!
Und wir hier in Berlin haben es auf 250.000 gebracht!

Der Kanzler und die Unionsparteien, Wirtschaftsführer und Manager, also die Ewig-Gestrigen aus dem Unternehmerlager müssen wissen: Wenn diese asoziale Politik nicht aufhört, dann kommen wir wieder! Wir wollen und wir werden es nicht hinnehmen, dass in Deutschland und Europa nicht die Krise, nicht die Massenarbeitslosigkeit, nicht die Perspektivlosigkeit der jungen Menschen bekämpft werden, sondern die Lasten der Krise nur auf dem Rücken der kleinen Leute verteilt werden. Und erst recht werden wir nicht dulden, dass immer wieder versucht wird, die kleinen Leute, die Habenichtse, gegeneinander auszuspielen: Jung gegen alt, Arbeitnehmer gegen Arbeitslose, Lehrlinge gegen Studenten, Sozialhilfeempfänger gegen Rentner. Wir lassen uns nicht spalten! Wir stehen zusammen!

Damit das klar ist: Uns geht es heute nicht nur darum, gegen die Umverteilung von unten nach oben zu demonstrieren. Wir protestieren auch dagegen, dass die Politik des Sozialabbaus und der Tatenlosigkeit gegen die Massenarbeitslosigkeit auch darauf zielt, uns die Würde zu nehmen.

Es ist an sich schon würdelos, nicht arbeiten zu dürfen, arbeitslos zu sein. Aber es wird völlig unwürdig, wenn mit der Einführung des Arbeitslosengeldes II in Zukunft 70 Prozent der Langzeitarbeitslosen im Westen und 80 Prozent der Langzeitarbeitslosen im Osten nichts mehr oder wesentlich weniger bekommen.

Wir werden diesen Totalabsturz der Arbeitslosenhilfeempfänger nicht akzeptieren. Und wer immer den Schulterschluss mit den Gewerkschaften und den sozialen Kräften in diesem Land will, der muss wissen, auf dieser Basis wird es keinen Schulterschluss geben.

Wer uns weismachen will, dass neue Stellen nur dann entstehen, wenn die Löhne sinken, wenn die Arbeitszeiten länger werden, wenn jeder kollektive Schutz vom Tarif bis zur Mitbestimmung beseitigt und die Arbeitnehmer rechtlos werden, der wird seine Lektion lernen müssen. Und wer das Propagandamärchen in die Welt setzt, in Deutschland gebe es nur reiche Rentner - um damit zu begründen, dass man zum 1. April die Renten kürzt – und in Zukunft die gesetzliche Rente nicht mehr bringt als die Sozialhilfe, der kann nicht erwarten, dass wir ihn wählen.

Ich sage: Sozialabbau ist Mist. Lasst es einfach sein!

Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, die dieses Land wieder aufgebaut und mit ihrer Arbeit reich gemacht haben, haben so etwas nicht verdient. Sie haben ein Recht auf ein würdiges Alter.

All die, die dazu noch diese Gesundheitsreform zu verantworten haben, mit Praxisgebühr und extrem hohen Zuzahlungen, und die zugleich die Abkassierer-Lobby von Fachärzten und Apothekern, Pharmaindustrie und Medizintechnik ungeschoren lassen, die sind dafür verantwortlich, dass Gesundheit zur Ware geworden ist, die sich nicht mehr jeder leisten kann. Und da glauben wir auch der Propaganda nicht mehr, dass jeder Kranke die Hilfe bekommen wird, die er braucht. Das ist leider nicht mehr so.

Es ist für mich nicht hinnehmbar, dass eine Regierung, die mit dem Slogan angetreten ist, sie wolle vieles besser machen, nun vieles noch viel schlechter macht.

Natürlich wissen wir, dass Union und FDP keine gute Alternative sind. Denn die sind angetreten, das Soziale in der Marktwirtschaft, den Sozialstaat, gänzlich zu schleifen. Aber es ist höchste Zeit, dass die Sozialdemokraten endlich tun, wofür sie bei den Wählern um die Stimme gebeten haben!

Sozialer Ausgleich, Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, Respektierung der Arbeitnehmerrechte und Schutz für die Schwachen in unserer Gesellschaft. Das haben wir von rot-grün erwartet. Was haben wir bekommen?

Eine Politik, die zum Beispiel zu verantworten hat, dass jemand, der mit 50 Jahren arbeitslos wird, binnen drei Jahren auf Sozialhilfeniveau leben muss und kaum eine Chance hat, je wieder eine Arbeit zu bekommen. Ebenso unerträglich ist die neue Zumutbarkeitsregelung für Langzeitarbeitslose. Das ist vom Staat gefördertes Lohndumping. Wer soll denn von ein paar Euro die Stunde leben? Die Familie ernähren und die Miete zahlen? Diese Zumutbarkeitsregelung muss weg.

Dieses Land braucht keine amerikanischen Verhältnisse! Wir wollen nicht in einem Europa leben, in dem man zwei bis drei Jobs braucht, um auch nur einigermaßen über die Runden zu kommen.

Und all den Unternehmern, die mit Verlagerung ihrer Betriebe ins Ausland drohen, um längere Arbeitszeiten und drastisch gekürzte Löhne durchzusetzen, denen sage ich: Sie werden damit nicht durchkommen.
Wer Arbeit wie Dreck behandeln will, der stößt auf unseren Widerstand.

Ja, wir werden uns wehren. Und wir wissen auch, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in Polen oder Ungarn, in der Slowakei oder im Baltikum auf Dauer nicht bereit sein werden, für Hungerlöhne zu arbeiten, nur damit die Börsenkurse und die Dividenden westeuropäischer Großkonzerne stimmen. Wir werden nicht widerspruchslos zusehen, wie Spitzenmanager und Unternehmer diesen Staat ausplündern. Wie sie eine Subvention, eine Steuererleichterungen nach der anderen einstreichen und sich um das Gemeinwohl einen Dreck scheren. Denn wenn es um die Pflichten geht, also darum, Steuern zu zahlen, gute Löhne und Sozialabgaben, dann wollen sie sich ins Ausland verdrücken. Und mit dieser Drohung versuchen sie, uns zu erpressen.

Eigentum verpflichtet, sagt das Grundgesetz. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie aufhört mit den Wölfen zu heulen, sondern gegen diese Erpressung einschreitet und diese Verfassungsnorm endlich durchsetzt.

Die Regierungen in Deutschland und in Europa, die Parlamentarier in Straßburg und Berlin, auch die Euro-Bürokraten in Brüssel müssen sich darüber im Klaren sein, dass sonst weder die Herzen noch die Hirne von Millionen für die Idee eines gemeinsamen Europas gewonnen werden können. Wir wollen ein anderes Europa. Unser Europa ist ein Europa der Solidarität, der Freiheit und der Gerechtigkeit. Aber keines von Ausbeutung, Hungerlöhnen und Massenarbeitslosigkeit. Wir wollen ein Europa, das beweist: Internationalisierung und Globalisierung könnten ein Segen für die Menschen sein und kein Fluch.

Aber davon sind wir im Jahr 2004 noch um Lichtjahre entfernt. Vielleicht schafft es unsere Jugend ja, dorthin zu gelangen. Aber nur, wenn wir sie heute nicht alleine lassen. Die jungen Leute brauchen heute, hier und jetzt, gute Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl. Und deshalb sagen wir, einfach aber für jeden verständlich: Wer nicht ausbildet, der muss zahlen. Und wir werden sehr genau beobachten, ob rotgrün ernsthaft versucht, ein Gesetz zur Ausbildungsumlage durchzubringen. Wir werden jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wenn eine vereinte Lobby von Unternehmern, Kammern, Arbeitgeberverbänden, wirtschaftshörigen Politikern und übelwollenden Ministerialbürokraten versucht, dieses Gesetz zu torpedieren und damit Hunderttausende von jungen Menschen abermals ihrer Lebenschancen zu berauben.

Vergleichbares gilt für die Studenten. Ich halte es für eine bodenlose Verhöhnung, wenn den Politikern keine andere Antwort auf die Studentenproteste einfällt als die Eliteuniversität. Damit wir uns recht verstehen: Ich habe nichts gegen Spitzenforschung. Aber ich habe was dagegen, wenn pharisäerhaft die Bildungsmisere beklagt wird und für Schulen, Kindergärten, Krippen und Universitäten das notwendige Geld fehlt.

Verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wir stehen zusammen für ein soziales Europa und für eine bessere Politik in unserem Land. Alle, die beobachten, was wir hier heute tun, und wer sich hier und heute zusammengefunden hat, sollte wissen: Dieser Tag gibt uns Mut. Und er gibt uns die Zuversicht, dass wir nicht nur heute zusammenstehen, sondern auch morgen und übermorgen.

Junge und Alte, Frauen und Männer, Auszubildende und Studenten, Arbeitnehmer und Arbeitslose, Rentner und Kranke – wir lassen uns gegeneinander nicht ausspielen. Wir sind heute gemeinsam aufgestanden, damit es endlich besser wird. Und wir werden nicht ruhen, bis es endlich besser ist.


Zur "Gewerkschafts"-Seite

Zurück zur Homepage