Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Die Anti-NSA

Die Enthüllungsplattform WikiLeaks soll tot sein? Sie ist längst unsterblich

Von Fabian Köhler *

Acht Jahre nach der Gründung von WikiLeaks sorgen längst andere für die Enhüllungen. Doch das Whistleblower-Portal steht für weit mehr als subversive Downloads.

Irgendwo zwischen Saale-Ufer und Edeka-Supermarkt beginnt der Anfang vom Ende von WikiLeaks. Vier Polizeibeamte in Zivil drängen in das kleine 15-Quadratmeter-Zimmer von Theodor Reppe ein. »Sie wollten, dass ich Ihnen das Passwort gebe«, erinnert sich der Computer-Spezialist. Er tut es nicht. Dafür verschwinden die Polizisten mit seinem Laptop

Im Jahr 2009 war es, als die Jenaer Polizei zwar nicht WikiLeaks, aber die Website www.wikileaks.de abschalten wollte. Reppe würde über die Seite Kinderpornographie verbreiten, lautete der absurde Vorwurf. Doch Reppe hatte weder etwas mit Pädophilie zu tun, noch war er bei dem weltberühmten Whistleblowerportal tätig. Seine Internetseite leitete lediglich zum echten WikiLeaks weiter. »Der Staat hat mir zwei Jahre lang meinen Computer weggenommen!«, ärgert er sich noch heute. Doch auch wenn der Vorfall wohl eher der IT-Inkompetenz des Thüringer Landeskriminalamts als geheimdienstlicher Repressionsmacht zuzuschreiben ist, zeigt er, wie nervös Behörden beim Thema WikiLeaks werden.

Dafür haben sie allerdings auch gute Gründe. Zu einer Zeit, da Edward Snowden als CIA-Wachmann allenfalls die Zugriffscodes fürs Garagentor kannte, rief US-Vizepräsident Joseph Biden zur Jagd auf die »High-Tech-Terroristen« von WikiLeaks; verlangten US-Gouverneure die gezielte Tötung von dessen Chef Julian Assange. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, wollte man all jene Enthüllungen seit dem Jahr 2006 auflisten, die der Whistleblowerplattform den Status als meist gefürchtete Organisation der Welt einbrachte. 80 000 geheime Dokumente über die katastrophale Sicherheitslage in Afghanistan. Hunderttausende Geheimakten der US-Besatzer in Irak, die unter anderem von systematischer Folter und Tötung von Gefangenen zeugen. Eine Viertelmillion Botschaftsdepeschen, die den sonst streng geheimen Alltag der US-Diplomatie zur täglichen Daily Soap machten. Von Korruption in Nigeria über das Unterdrückungssystem Scientologys bis hin zu den Planungsdokumenten der Duisburger Loveparade-Katastrophe 2010: Jahrelang schienen die Mächtigen der Welt einer Website mit großer blauer Sanduhr schutzlos ausgeliefert.

»Ich würde mich freuen, wenn sie einfach wieder das machen würden, was sie am Anfang gemacht haben: Dokumente veröffentlichen«, sagt Theodor Reppe. Der Kinderpornovorwurf hätte nicht konstruierter sein können: WikiLeaks hatte eine Liste mit tausenden gesperrten Internetadressen veröffentlicht, um die Zensurpraxis australischer Behörden zu belegen. Darunter einige Adressen von Kinderpornoseiten, die der Filter eigentlich blockieren sollte. 2011 sprach das Dresdner Amtsgericht Reppe frei. Der Absturz von WikiLeaks hatte da längst begonnen.

Die Liste der Fehlschläge ist lang, das Chaos dahinter manchmal kaum zu glauben: Versehentlich veröffentlichte Dokumente. Intrigen innerhalb des Netzwerkes. Gestohlene Dateien. Der Einbruch der Finanzen, nachdem Finanzdienstleister wie PayPal und VISA auf Druck der US-Regierung die Weiterleitung von Spenden einstellten. »Eine Führungsperson, die sich zu wichtig nimmt«, fügt Piraten-Mitglied Reppe hinzu.

Was bleibt, sind oft nur die Daten aus besseren Tagen: Ab und zu stoßen Medien auf neue Geschichten in den alten WikiLeaks-Akten. Diese Woche liest man, der der neue ukrainische Präsident Poroschenko sei lange ein Informant der Amerikaner gewesen. In Peru sei die US-Botschaft vor Jahren in eine Schießerei mit Dutzenden Toten involviert gewesen. Im April letzen Jahres standen auf den WikiLeaks-Servern 1,7 Millionen neue Geheimakten von US-Behörden zum Download bereit. Sie stammen aus den 70ern. Im November 2013 veröffentlichte das Portal ein paar Entwurfskapitel des pazifischen Handelsabkommens TPP. Der letzte große Coup, die Veröffentlichungen von fünf Millionen E-Mails des Privat-Geheimdienstes Stratfor, stammt vom April 2012.

Allenfalls einmal pro Jahr schreiben Reppe und Assange sich noch: »Wie es so geht und so.« Treffen gehe ja schlecht. Seit zwei Jahren scheint WikiLeaks geschrumpft auf ein Zimmer im Londoner Nobelviertel Knightsbridge, dass wohl kaum größer ist als Reppes. Hier in der ecuadorianischen Botschaft lebt das personifizierte WikiLeaks, Julian Assange. Auf der Flucht vor der Auslieferung nach Schweden, wo ihm eine Anklage wegen sexueller Nötigung droht, sagen die einen. Im Asyl vor staatlicher Repression, die Assange sonst längst in amerikanische Isolationshaft geführt hätte, sagen die anderen. Ein Schreibtisch. Ein Schrank. Eine Tageslichtlampe seiner Mutter. 17 Stunden soll er täglich arbeiten. Gelegentlich lässt er sich per Video zuschalten, wie vergangene Woche, als seine WikiLeaks-Kollegin Sarah Harrison über ein neues Programm zum Schutz von Whistleblowern wie Edward Snowden referierte.

Niemand weiß, ob es die NSA- Leaks ohne das Vorbild WikiLeaks gegeben hätte. Wahrscheinlich ist: Edward Snowden säße ohne WikiLeaks längst in irgendeiner Zelle eines US-Hochsicherheitsgefängnisses. Denn jene Sarah Harrison war es, die den Ex-Spion vorbei am mächtigsten Geheimdienst der Welt nach Moskau brachte, ihm Asyl und Anonymität organisierte. »Niemand sonst auf der Welt kann Quellen schützen, wie WikiLeaks es tut«, sagte Snowden einmal im Interview. Im Schatten des NSA-Hypes hat sich WikiLeaks vom Whistleblower-Portal zum Dienstleister für Whistleblower entwickelt. »Transparenz soll sich proportional zur Macht verhalten«, formulierte Assange ein Jahr vor Snowdens Enhüllungen das Ziel dieses Dienstes. Nicht der Bürger, der Staat müsse gläsern sein. Nicht Geheimdienste, sondern freie Menschen bräuchten Geheimnisse. In seinem Buch »Cypherpunks« macht er WikiLeaks zum Wegbereiter aus der Totalüberwachung.

Er hatte »irgendwo von WikiLeaks gelesen, da wollte ich das Projekt unterstützen«, erklärt Reppe seine Motivation für den Start von wikileaks.de. Vielleicht ist WikiLeaks das Ideal einer Anti-NSA, die von Jena bis London in jedes 15-Quadratmeter-Zimmer passt.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


Apostel der Wahrheit oder Egomane?

Die Meinungen über Assange gehen auseinander

Von Ian King, London **


»Die Situation in der Botschaft ist schwierig«, schrieb Julian Assange am Dienstag in einem Live-Chat mit Lesern der schwedischen Zeitung »Aftonbladet«. »Aber sie ist nicht so schwierig wie die einer meiner angeblichen Quellen.« Er meint die amerikanische Soldatin Chelsea Manning, vormals Bradley Manning, die von einem Gericht in den USA zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde. Manning soll WikiLeaks geheime Dokumente und Videos zugespielt haben. In dem Chat schreibt Assange, dass sein Augenlicht immer schlechter werde, kaum Sonnenlicht in sein Erdgeschosszimmer falle und er nicht viele Möglichkeiten habe, sich körperlich zu betätigen.

Rechte britische Zeitungen wie die »Daily Mail« bemäkeln die durch den Einsatz zusätzlicher Polizisten vor der Botschaft Ecuadors anfallenden hohen Kosten. Die Sicherheitskräfte sollen den Australier bei einem eventuellen Ausreißversuch verhaften. Doch wenn man die Bewachungssummen mit den Kosten an Blut und Geld vergleicht, die Britanniens bedingungslose Treue gegenüber den USA verursacht – nicht nur in Irak und Afghanistan –, sind sie in der Tat ein Klacks. Gerade die nachhaltige Diskreditierung der Bush-Krieger in Washington macht Assange für viele Linke zum makellosen Helden.

Aber es gibt auch andere kritische Stimmen, die nicht nur rechts angesiedelt sind. Viele ehemalige Bewunderer Assanges, darunter sein selbst ausgesuchter Biograf Andrew O’Hagan, sehen den WikiLeaks-Gründer laut einem Bericht des linksliberalen britischen »Guardian« im Februar als »mutig und leidenschaftlich, aber auch als egoistisch, faul und unzuverlässig«. Die geplante Biografie, die die Anwaltskosten einspielen sollte, scheiterte laut Ghostwriter O’Hagan an Assanges fehlender Bereitschaft, eigene Geheimnisse preiszugeben – angesichts seiner Veröffentlichung US-amerikanischer Vertraulichkeiten ein Paradoxon. Der Verfolgte verdächtigt nicht nur erwiesene Gegner, sondern auch Freunde und Helfer wie »Guardian«-Journalisten, beweist gegenüber dem ebenfalls verdienstvollen Whistleblower Edward Snowden nach anfänglicher Hilfsbereitschaft angeblich weniger Kameradschaftlichkeit als naive Eifersucht. Kein Säulenheiliger also, sondern ein Mensch mit Widersprüchen. Assange hat jedoch noch mindestens einen treuen Bewunderer. Kubas einstiger Präsident Fidel Castro sagt, WikiLeaks sei die einzige Webseite, die er lese.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


Assange kann in Ecuadors Botschaft bleiben

Präsident Correa und der Chef der diplomatischen Vertretung in London bekräftigen Hilfe für WikiLeaks-Mitbegründer

Von Harald Neuber ***


Julian Assange unterstreicht immer wieder seine Dankbarkeit für die Unterstützung Ecuadors, das ihm in der Londoner Botschaft Schutz gewährt. Ecuadors Regierung wird sie aufrecht erhalten.

Sein Heimatland Australien ist zwar bei der Weltmeisterschaft in Brasilien auch dabei, aber Julian Assange hat deutlich gemacht, wem er hauptsächlich die Daumen drückt: der »La Tri«, wie die in drei Nationalfarben gewandete Auswahlmannschaft Ecuadors in der Koseform genannt wird. In just einem solchen Trikot präsentierte sich Assange in den sozialen Medien vor dem WM-Auftakt.

Zwei Jahre nach seiner Flucht in die Botschaft Ecuadors in London hat der Mitbegründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks, Julian Assange, die Politik des südamerikanischen Landes zur Abwehr der politischen Verfolgung durch die USA gewürdigt. »Das Vorgehen der ecuadorianischen Regierung hat mögliche schlimmere Entwicklungen abgewendet, die dieser Fall hätte nehmen können«, schätzte Assange in einer Mitteilung an die staatliche ecuadorianische Presseagentur ANDES ein. Der 42-jährige Internetaktivist räumte ein, dass er sich in einer »schwierigen« Situation befinde. Dies gelte für ihn ebenso wie für seine Kinder. Dank der »Regierung und dem Volk Ecuadors« könne er seine Arbeit aber fortführen, wenn auch unter schwierigen Bedingungen.

Vor dem zweiten Jahrestag seiner Aufnahme in den Räumen der ecuadorianischen Botschaft in London hat der Botschafter des südamerikanischen Landes, Juan Falconí Puig, die Schutzmaßnahmen für Assange bekräftigt. Der Australier könne »für lange Zeit« in der Botschaft bleiben, auch wenn er unter seinem faktischen Arrest leide, sagte er gegenüber der britischen Tageszeitung »The Times«. Zugleich legte der Botschafter in dem Interview Wert darauf, dass es sich bei Assange nicht um einen Justizflüchtling handele. Ecuadors Präsident Rafael Correa habe dem WikiLeaks-Aktivisten aus humanitären Gründen Zuflucht gewährt. In den USA drohten Assange Folter oder gar der Tod.

Für die britische Regierung könnten die zunehmenden Kosten für die 24-stündige Polizeibewachung der Botschaft in London indes zur politischen Belastung werden. Nach Schätzungen von Medien haben die Maßnahmen bislang bereits sechs Millionen Pfund (gut 7,5 Millionen Euro) gekostet. Dies sei aber ein Problem der britischen Seite, sagte der Botschafter im Interview – offenbar in der Absicht, den innenpolitischen Druck für eine Lösung des Streits um Assange zu erhöhen.

Präsident Rafael Correa bekräftigte derweil seine bekannte Position. Die Lösung des Falls liege in den Händen der Europäischen Union, der britischen und schwedischen Regierungen sowie juristischer Instanzen. Ähnlich hatte sich der Staatschef bereits im vergangenen Jahr im Interview mit »nd« geäußert: Es mute seltsam an, dass Assange als Verteidiger der Informations- und Pressefreiheit ein Land als Zufluchtsort wähle, das einigen Medien zufolge die freie Meinung einschränkt, kommentierte Correa ironisch. »Julian Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechts gewährt haben. Die Lösung dieses Falls liegt in den Händen Europas«, fügte Correa damals hinzu. Diese Haltung hat er seither beibehalten. Der Ball liegt in Europa, während er in Brasilien rollt.

*** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


Ruf nach Freilassung von Julian Assange

59 Organisationen fordern Hilfe von UNO / WikiLeaks-Gründer erhebt Vorwürfe gegen deutsche Behörden

Von Uwe Sievers ****


Für Julian Assange ist nach zwei Jahren in der ecuadorianischen Botschaft in London keine Lösung in Sicht. Der WikiLeaks-Gründer erhebt auch Vorwürfe gegen deutsche Ermittler.

Seit genau zwei Jahren sitzt der mit internationalem Haftbefehl gesuchte Whistleblower und Mitbegründer der Enthüllungsplattform »WikiLeaks« Julian Assange in der Londoner Botschaft Ecuadors fest. Die Briten lassen ihn nicht ausreisen, die USA fordern seine Auslieferung. 59 internationale Organisationen, darunter Menschenrechtsgruppen, fordern von der UN-Menschenrechtskommission, sich für den »politischen Gefangenen« einzusetzen. Eine entsprechende Petition soll in Genf übermittelt werden.

Laut britischen Medien kostete allein die Bewachung der Botschaft die Steuerzahler bisher über sechs Millionen britische Pfund. Doch vor allem werfen die Unterzeichner der Petition den schwedischen Behörden Ermittlungsfehler und eine fortgesetzte Vorverurteilung ohne Prozess vor. Die schwedische Justiz erhebt schwere Vorwürfe gegen Assange: sexuelle Belästigung beziehungsweise Vergewaltigung. Jedoch gibt es begründete Zweifel an diesen Vorwürfen. Nichtsdestotrotz muss Assange mit einer Auslieferung an die USA rechnen, wo er die Todesstrafe befürchtet. WikiLeaks hatte mehrfach militärische und andere geheime Dokumente der US-Armee und anderer Behörden veröffentlicht. Assange war nach Schweden geflüchtet, nachdem die USA ihn ganz oben auf die Liste der meistgesuchten Personen gesetzt hatten.

Mittlerweile verdrängte ihn zwar Edward Snowden von diesem Platz; auch ihm wird Geheimnisverrat vorgeworfen. US-Politiker forderten sogar die Tötung Assanges. Dabei habe er den USA vor der Veröffentlichung von Dokumenten die Möglichkeit gegeben, Namen und personenbezogene Informationen zu schwärzen, um Geheimdienstmitarbeiter zu schützen, berichtete die US-Journalistin Alexa O’Brien, die durch ihre Arbeit zu WikiLeaks bekannt wurde. Davon hätten die US-Behörden jedoch keinen Gebrauch gemacht.

Inzwischen erhebt Assange auch gegen deutsche Ermittlungsbehörden Vorwürfe. In einer eidesstattlichen Erklärung behauptet er, dass er während eines mehrtägigen Aufenthalts in Berlin für seinen Vortrag beim Kongress des Chaos-Computer-Clubs von US-Geheimdiensten ausspioniert worden sei. Hinzu kommt ein weiterer Vorfall: Bei einem Flug von Schweden nach Berlin sei sein Gepäck beschlagnahmt worden, behauptet Assange. Er habe in Schweden einen Koffer aufgegeben, der Laptops mit verschlüsselten WikiLeaks-Geheimdokumenten enthielt. Bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Tegel sei dieser auf dem Gepäckband nicht aufgetaucht. Später sei im Prozess gegen Chelsea (Bradley) Manning Material aus diesen Dokumenten verwendet worden.

Er gehe seit Längerem davon aus, dass er überwacht werde, berichtet Assange. Daher habe man ihm geraten, Flüge nicht im Voraus zu buchen und so Geheimdiensten die Überwachung zu erschweren.

**** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. Juni 2014


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