Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf bestem Weg zum totalitären Polizeistaat

NSA-Whistleblower William Binney über die Folgen der massenhaften Ausspähung durch den US-Geheimdienst *


William Binney arbeitete mehr als 30 Jahre lang bei der National Security Agency (NSA – Agentur für Nationale Sicherheit). Dem US-Verteidigungsministerium unterstellt, ist die NSA heute der größte Geheimdienst der USA.

In den 90er Jahren baute Binney zusammen mit NSA-Forschungsdirektor Dr. John Taggart eine Einheit für automatisierte Informationsgewinnung auf und wurde Technischer Direktor. Nach seinem Ausscheiden aus der NSA am 31. Oktober 2001 forderte Binney zusammen mit anderen Kollegen den Kongress und das Verteidigungsministerium auf, den Geheimdienst wegen Verletzung der Verfassung und Verschwendung von Steuergeldern zu untersuchen. Nach der Veröffentlichung eines kritischen Berichts über die NSA in der »New York Times« ermittelte das FBI gegen Binney und andere Whistleblower wegen angeblicher Verschwörung und Preisgabe von Staatsgeheimnissen. Die Betroffenen wurden aber von allen Anschuldigungen freigesprochen.

Nach jahrelangen Bemühungen, eine Untersuchung der NSA durch die US-Behörden zu veranlassen, ging Binney am 20. April 2012 mit einem Interview in der Fernsehsendung »Democracy Now« erstmals an die Öffentlichkeit. Durch die Enthüllungen Edward Snowdens im vergangenen Jahr sehen sich Binney und die anderen früheren NSA-Whistleblower in ihren Forderungen bestätigt. Im Februar war Binney in Berlin, um seine Erfahrungen und Ansichten der deutschen Öffentlichkeit bekannt zu machen. Elsa Rassbach nutzte die Gelegenheit für ein Gespräch.



Wann und warum sind Sie in den Dienst der National Security Agency (NSA) getreten?

Ich war 1965 in den Sicherheitsdienst der US-Armee eingetreten, während des Vietnamkrieges. Nach der Armee nahm ich 1970 als Zivilist den Dienst bei der NSA auf, weil ich gerne mit Codes, Verschlüsselungen und Datenbanksystemen ge-arbeitet habe.

Welche Befugnisse hatte die NSA damals, Leute auszuspionieren?

Nach der Watergate-Affäre und dem dadurch erzwungenen Rücktritt Präsident Nixons 1974 setzte Senator Church im US-Kongress Anhörungen durch, um die Spionageprogramme der Nixon-Regierung gegen Amerikaner aufzudecken, die den Vietnamkrieg oder andere Aspekte der Regierungspolitik bekämpft hatten. 1978 verabschiedete der Kongress das Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA – Gesetz zur geheimdienstlichen Überwachung ausländischer Ziele), um die Überwachung von US-Bürgern einzuschränken. Man durfte nur solche US-Bürger ins Visier nehmen, die bekannte Ziele waren oder mit bekannten ausländischen Zielen in Verbindung standen – zum Beispiel jemand in Chicago, der mit jemandem in Palästina korrespondierte, oder jemand in New York, der mit jemandem in der DDR korrespondierte. Aber selbst in diesen Fällen brauchte die NSA eine Genehmigung eines – geheimen – FISA-Gerichts.

Natürlich hat und hatte der Präsident der USA immer die uneingeschränkte Befugnis, Auslandsaufklärung betreiben zu lassen. Nicht nur gegen die Bundeskanzler Merkel und Schröder, sondern gegen alle deutschen Staatsoberhäupter seit Ende des Zweiten Weltkriegs und auch davor, wie überhaupt gegen Staatschefs und Bürger auf der ganzen Welt. Darin sind die USA nicht einzigartig, das tun viele Länder.

Als das Digitalzeitalter in den späten 80er und frühen 90er Jahren begann, nahm die Kommunikation unter den Menschen überall auf der Welt explosionsartig zu, Regierungen und offizielle Medien konnten die Informationsströme nicht mehr kontrollieren. Also beantragte und erhielt die NSA Milliarden Dollar vom Kongress, um Informationen aus dieser neuen digitalen Welt abschöpfen zu können. Ich habe daran gearbeitet, wie man diese Daten analysieren kann, wenn man sie hat. Ich war inzwischen leitender Kryptomathematiker und Technischer Direktor der World Geopolitical and Military Analysis Reporting Group (Berichterstattergruppe für weltweite geopolitische und militärische Analysen), die sich mit technischen Problemen überall auf der Welt beschäftigte.

Vor 2001 mangelte es an der Fähigkeit, Daten massenhaft zu erfassen. Die Technologie dazu wurde erst Ende 2000 verfügbar. Ich war an einem gezielten Herangehen interessiert, einem diziplinierten Ansatz, einer intelligenten Auswahl von Informationen aus dem gewaltigen Datenfluss, und das hätte dem US-Recht entsprochen. Informationen über US-Bürger wären zwecks Datenschutz verschlüsselt worden, es sei denn, das FISA-Gericht hätte eine Untersuchung der betreffenden Person genehmigt.

2001, also 30 Jahre nach Ihrem Eintritt in die NSA, haben Sie den Dienst quittiert. Warum?

Weil sie auf »die dunkle Seite« gewechselt ist, wie der ehemalige Vizepräsident Cheney einmal sagte. In der zweiten Oktoberwoche 2001 entdeckte ich, dass man gleich nach dem 11. September beschlossen hatte, Informationen über jeden zu sammeln. Es begann mit US-Bürgern – allen US-Bürgern – und wurde dann auf den Rest der Welt ausgedehnt. Ich habe sofort gesehen, dass es sich um totalitäre Prozesse handelt, eine Wende von der Demokratie in Richtung Totalitarismus oder Polizeistaat. Das Sammeln von Informationen über alle Bürger eines Staates oder der ganzen Welt ist ein totalitärer Vorgang. Ich hatte zuvor Daten aus der Sowjetunion und dem Warschauer Vertrag analysiert, die haben es genauso gemacht.

In den Vereinigten Staaten verstößt das gegen die Verfassung. Wir, das Volk, haben diese Regierung gewählt. Wir, das Volk, sollten wissen, was die Regierung tut. Aber die Regierung sollte nicht wissen, was wir tun. Die Sammlung von Informationen über unsere sozialen Netze ist ein Verstoß gegen das Recht auf freie Vereinigung, das im Ersten Zusatz zur US-Verfassung garantiert wird. Überdies ist das eine Verletzung des Vierten Verfassungszusatzes, der das Recht auf Privatsphäre in allen persönlichen Unterlagen und Angelegenheiten garantiert, und des Fünften Verfassungszusatzes, wonach jeder das Recht hat, nicht gegen sich selbst aussagen zu müssen. Indem man dieses ganze Material ohne Gerichtsbeschluss einkassiert, benutzt man faktisch die Aussagen des Betroffenen gegen ihn selbst.

Haben Sie Ihrer Kündigung damals ein Erklärungsschreiben beigefügt?

Nein. Die Mühe habe ich mir nicht gemacht, denn das kam ja offensichtlich von ganz oben. Die Entscheidung, derart gegen US-Bürger vorzugehen, wurde von vier Leuten im Weißen Haus getroffen: Präsident Bush, Vizepräsident Cheney, CIA-Chef Tenet und NSA-Chef Hayden.

Ich hatte die Hoffnung, dass Obama als Verfassungsjurist das alles öffentlich machen und in Ordnung bringen würde. Stattdessen ist er noch weiter auf »die dunkle Seite« gegangen. 2011 unterzeichnete er sogar Absatz 1021 des Defense Authorization Act, der den Präsidenten ermächtigt, US-Bürger zur terroristischen Bedrohung zu erklären, sie durch das Militär ergreifen und ohne jedes Recht auf ein Gerichtsverfahren unbefristet einsperren zu lassen. Das ähnelt sehr der Notverordnung, die in Deutschland nach dem Reichstagsbrand 1933 erlassen wurde und die es erlaubte, Kommunisten und andere Gegner des Naziregimes von der Straße weg zu verhaften. Soweit ich weiß, wurde noch niemand in den USA nach diesem Paragrafen verhaftet, aber der Punkt ist, dass alle Prozeduren für einen Polizeistaat eingerichtet sind. Es bedürfte nur schlechter Menschen in den Machtpositionen, um sie in Gang zu setzen.

Sie können heute alle Menschen auf der Welt ausspionieren, die Zahl ist unbegrenzt. Egal wie viele Billionen Telefonanrufe aus der ganzen Welt man hat, man kann sie auf vielleicht einige Dutzend Milliarden Beziehungen herunterbrechen und das gesamte Beziehungsnetz einer einzelnen Person aufrufen. Jede digitale Spur, die Sie in Ihrem Leben hinterlassen, ob durch Benutzung einer Kreditkarte, durch E-Mails, Dateiübertragung, SMS, Telefonanrufe, Reisen, GPS auf dem Handy, Finanzdaten, alles, was eine digitale Spur hinterlässt, kann abgefangen, automatisch kombiniert und mit Software bearbeitet werden, um Ihr Leben darzustellen. Alles, was Sie tun, wird irgendwo gespeichert, von Regierungen oder Firmen oder beiden.

In welchem Zusammenhang steht das mit dem zunehmenden Einsatz von Drohnen?

Um jemanden mit einer Rakete von einer Drohne beschießen zu können, muss man ihn aufspüren und ins Visier nehmen. Hat er GPS auf dem Handy kann man seinen Standort auf etwa einen Meter genau ermitteln, und das reicht für einen Drohnenschlag: Die NSA spürt ihn auf, die CIA knallt ihn ab.

Kürzlich haben Sie gesagt, dass die USA sich nicht nur in Richtung Polizeistaat bewegen, sondern schon ein Polizeistaat ist. Was haben Sie damit gemeint?

Diese Datensammlung dient nicht in erster Linie der Terrorismusbekämpfung, wie behauptet wird. Sie wird hauptsächlich zur Strafverfolgung benutzt, auf der ganzen Welt. Drogenbehörden, Einwanderungsbehörden, Heimatschutzministerium, FBI, das US-amerikanische Finanzamt, die CIA und andere Geheimdienste verhaften Leute aufgrund dieser NSA-Informationen. Aber wenn sie jemanden aufgrund eines Tipps der NSA verhaften, soll das geheim bleiben, sie dürfen die NSA-Information vor Gericht nicht verwenden. Also muss die Polizei nachträglich – nach der Verhaftung – Beweismittel beibringen, damit man jemandem den Prozess machen kann. Das wurde neulich in einem Bericht der Agentur Reuters enthüllt. Laut unserer Verfassung haben Angeklagte vor Gericht das Recht, die Daten anzufechten, die die Polizei als Verhaftungsgrund benutzt hat. Wenn aber die ursprünglichen NSA-Daten, die Grundlage der Verhaftung waren, gegen andere Beweismittel ausgetauscht werden, kommt das vor Gericht einem Meineid gleich.

Man wollte Einsicht in die Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten. Man hat sich ein genaues Bild gemacht von oppositionellen Gruppen wie den Gewerkschaften, der Tea Party, der Occupy-Bewegung und allen religiösen Gruppen, die politische Erklärungen abzugeben versuchen. Es kommt auch zu ungleicher Anwendung des Gesetzes, denn natürlich besitzt man auch Informationen über Kriminalität in den oberen Etagen, durch Banker und andere Reiche, die für Wahlkampagnen spenden. Die werden vielleicht mit einer Geldstrafe belegt, aber verhaftet werden sie nicht. Mit dieser massenhaften Informationssammlung kann man auch jemanden erpressen, selbst Politiker in den USA oder anderswo. Man muss nicht einmal etwas über die betreffende Person wissen, nur über jemanden, der demjenigen wichtig ist. Das ist der gleiche Ansatz wie beim KGB.

Weil diese Daten benutzt werden, handelt es sich offensichtlich um einen Polizeistaat. Es ist noch kein totalitärer Polizeistaat, aber es geht in diese Richtung. Das Heimatschutzministerium kauft Milliarden Schuss Munition und gepanzerte Fahrzeuge und solches Zeug. Das sieht sehr danach aus, als bereiteten sie sich auf innere Unruhen im Lande vor, im Grunde auf einen sehr umfassenden Polizeistaat.

Hegen Sie irgendeine Hoffnung, dass diese Politik innerhalb der USA umgekehrt werden könnte?

Es gibt mehrere Initiativen im US-Kongress, die in Richtung einer Lösung dieses Problems gehen. Im vorigen Sommer wurde im Kongress ein Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem versucht wurde, der NSA das Geld zu entziehen, das sie für die Massenerfassung von Daten der US-Bürger benutzt. Es fehlten nur zwölf Stimmen, um das durchzusetzen. Beim nächsten Versuch werden infolge der neuerlichen Enthüllungen durch Snowden vielleicht genügend Stimmen zusammenkommen.

Ich möchte hinzufügen, dass wir – die vier NSA-Whistleblower Tom Drake, Edward Loomis, J. Kirk Wiebe und ich – gemeinsam mit Ray McGovern, Daniel Ellsberg und anderen »Veteran Intelligence Professionals for Sanity« (Geheimdienstveteranen für die Vernunft) einen Offenen Brief an Präsident Obama verfasst haben, in dem wir ihn dringend auffordern, die NSA in Ordnung zu bringen. Wir haben ihm 21 Empfehlungen gegeben, wie das zu machen wäre, zum Beispiel durch gezielte statt massenhafte Datensammlung. Der Rechtsberater des Weißen Hauses hat relativ positiv reagiert, also haben wir noch Hoffnung. Wir haben diese Empfehlungen auch an den US-Kongress und alle Mitglieder des Europäischen Parlaments weitergeleitet.

Was können die Europäer tun?

Die Strafverfolgungsbehörden der USA haben Partner in anderen Ländern, die ebenfalls Tipps aus diesen NSA-Daten erhalten, um Verhaftungen vorzunehmen. Es ist also nicht nur unser Justizsystem, das korrumpiert wird, sondern es sind auch diejenigen in anderen Ländern. Der US-Kongress hat noch gar nicht über die Benutzung dieses Materials zur Strafverfolgung zu diskutieren begonnen. Europäische Regierungen könnten dieses Problem aufwerfen und fragen: Warum sagen Sie uns nicht, woher das Material kommt? Aber sie müssten zuerst zugeben, dass sie solche Informationen erhalten. In einer Demokratie macht man solche Sachen nicht im Geheimen.

Es ist eine Bedrohung der Demokratie überall auf der Welt. X-Keyscore ermöglicht es, diese Datensammlung abzufragen. Ich weiß immer noch nicht, wie viele Länder daran beteiligt sind. Das heißt, dass totalitäre Verfahren überallhin verbreitet werden, in Demokratien wie in Länder, die nicht ganz so demokratisch sind. Was es an Demokratie gibt, wird durch dieses Vorgehen unterhöhlt.

Die Verbreitung von Drohnen ist Teil der parallelen Ausbreitung dieser totalitären Verfahren. Wir werden allmählich alle von diesen einheitlichen Verfahren erfasst, und darum sage ich, dass Demokratien auf der ganzen Welt bedroht sind. Und wenn wir nicht alle unsere Stimmen erheben und anfangen, uns dagegen zu wehren, werden wir unsere Demokratie verlieren.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 20. Februar 2014


Die dunkle Seite der Macht

William Binney arbeitete über 30 Jahre für die NSA. Heute gehört er zu den Mahnern

Rund neun Monate nach den ersten Enthüllungen des US-Whistleblowers Edward Snowden bleibt eigentlich nur noch eine Frage offen: Gibt es noch irgendeinen Menschen, der nicht von der allumfassenden Schnüffelei des US-Geheimdienstes NSA (National Security Agency) betroffen ist? Ob kompletter Internetverkehr oder die Kommunikation von Staatspräsidenten: Im »Kampf gegen den Terror« ist der NSA und ihren Partnerdiensten, unter ihnen der britische Geheimdienst GCHQ, keine Information unwichtig genug, um sie nicht abzufangen und zu speichern – weltweit. In Deutschland hat sich die Politik für diesen Grundrechtsverstoß erst zuständig gefühlt, als bekannt wurde, dass auch das Handy der Kanzlerin abgehört wurde. Nach ein paar, für Merkels Verhältnisse, deutlichen Worten an US-Präsident Barack Obama war das Thema für die Regierung jedoch vom Tisch. Das Sammeln von Informationen aber ist ein »totalitärer Vorgang« und bedroht Demokratien in der ganzen Welt, sagt William Binney im nd-Interview. Der NSA-Whistleblower hat mehr als 30 Jahre bei der NSA gearbeitet. Seinen Dienst quittiert habe Binney, nachdem die NSA auf die »dunkle Seite« gewechselt sei. Als die NSA nach den Anschlägen vom 11. September auf Veranlassung des Weißen Hauses begann, Informationen über Privatpersonen, oppositionelle Gruppen beziehungsweise über alle zu sammeln, kam nach Ansicht Binneys ein totalitärer Prozess in Gang, eine Wende hin zum Polizeistaat. Für ihn als Whistleblower ein ernstes Problem. Erst kürzlich wurde bekannt, dass GCHQ und NSA auch Nutzer der Enthüllungsplattform WikiLeaks zumindest zeitweise überwacht haben sollen.

Aber Binney betont auch, dass die USA nicht allein dastehen. Spionage und massenhafte Datensammelei gibt es in vielen Staaten der Welt. Er selbst hatte bei der NSA Daten aus der »Sowjetunion und dem Warschauer Vertrag« analysiert. »Die haben es genauso gemacht. (nd)




Zurück zur Geheimdienst-Seite (Beiträge ab 2014)

Zur Geheimdienst-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage