Danke, Wikileaks!
Von Johan Galtung *
Die Welle von veröffentlichten Enthüllungen durch Wikileaks ist eine einzige Anklage nicht nur gegen die Diplomatie der USA, sondern gegen die gesamte etablierte Diplomatie. Was ist das für eine lächerliche Sprache, die in diesen geheimen Dokumenten und Depeschen zu lesen ist? Stets zentriert auf Einzelpersonen als Akteure – meistens Angehörige der Eliten aus elitären Ländern. So ganz eine Sprache, die aus Boulevard-Medien stammen könnte. Das alles gehört eigentlich in die Kategorie »unausgegorener Tratsch und Klatsch«, als eine Sorte von Macht-»Analysen« aus ritualisierten Halbstarken-Milieus.
Wo bleibt da die Analyse der Kultur und der Strukturen, etwas viel Wichtigeres als die einzelner Personen, die da kommen und gehen? In keinem der Dokumente sieht man etwas davon. Offenbar sind diese Diplomaten unfähig zu etwas anderem. Wo sind die zukunftsweisenden Ideen? Wo sind die Ideen, wie man die Herausforderungen des Klimawandels in Kooperation zum gemeinsamen Nutzen umsetzen könnte? Wo sind z. B. Ansätze zur Trinkwassergewinnung über Solarenergie an den Grenzen zwischen Israel, Libanon und Palästina? Oder Vorschläge für eine konstruktive Kooperation zwischen den USA und Iran zum Ausbau alternativer Energiequellen in der Region?
Um in einer anarchistischen Welt die Interessen zwischen einzelnen Nationen auszugleichen, haben Staaten ein System geschaffen, das offenbar versagt hat. Es zeigt sich an den zahlreichen Kriegen, die es hervorgebracht hat. Das System zerfällt augenscheinlich immer mehr – genauso wie zuvor der Kolonialismus geschwächt und zerbrochen ist und eigentlich nur noch im US-Imperialismus überlebt hat, der nun ebenfalls immer schwächer wird – so wie es Wikileaks sehr deutlich veranschaulicht hat.
Im Gegensatz dazu haben nun die nationalistischen Tendenzen Aufwind. Eine Nation ist eine Gruppe von Personen mit einer gemeinsamen Sprache und einer Kultur (einschließlich Religion), dazu gehört auch eine Geschichte, eine Vision für eine gemeinsame Zukunft und ein Bekenntnis zur »Heimat«. Es gibt auf der Welt ungefähr 2000 Nationen und nur 200 Staaten. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der Staaten viele Nationen beherbergt, normalerweise angeführt von einer Leitnation. Der nun stark zunehmende Nationalismus bietet ganz sicher auch keine guten Lösungen für die Weltprobleme.
Wir brauchen und verdienen etwas Besseres, nichts Perfektes, aber Besseres. Wir können nicht weiter Globalisierung auf der Grundlage der gegenwärtig vorherrschenden Absurditäten und Irrationalitäten betreiben. Trotzdem ist irgendeine Art Globalisierung unbedingt notwendig, schon alleine wegen der neuen Transport- und Kommunikationsweisen.
Der verstorbene Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat den Begriff »Welt-Innenpolitik« geprägt – er hatte die Vision einer globalen Kultur und eines Weltstaates. Zu seiner eigenen Nachhaltigkeit würde ein solches System nämlich notwendigerweise eine lebensfähige natürliche Umwelt schützen und vier menschliche Grundbedürfnisse zu befriedigen trachten: Überleben, Wohlstand, Identität und Freiheit.
Da Gewalt eine Folge von ungelösten Konflikten ist, liegt der Schlüssel zum Überleben in der Lösung dieser Konflikte.
Um den Wohlstand der Menschen zu garantieren, müssen die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt werden – Ernährung, Wohnen, Bekleidung, Gesundheit und Bildung. Menschen brauchen ein Einkommen zum Leben. Die Ressourcen dazu stehen zur Verfügung, das einzige Problem ist, dass sie gegenwärtig extrem ungleich verteilt sind.
Eine globale Identität verlangt nach Einheit in der Vielfalt. Sie steht für Offenheit und Respekt gegenüber der reichen Vielfalt kultureller Ausdrucksweisen. Gleichzeitig impliziert sie die Anerkennung eines gemeinsamen Zieles: des Menschen Glück. Das bedeutet ebenfalls, dass alle Weltsichten respektiert werden, die umgekehrt auch die anderen respektieren. Es wäre einfach falsch, die Kultur einer Nation allen anderen aufzudrängen. Das wäre auch nicht nachhaltig, sondern würde ständig Widerstand hervorrufen.
Freiheit bedeutet, die Wahl zu haben, das eigene Glück in den vorhandenen Kulturen und Strukturen zu finden. Freiheit fördert und regt die unbegrenzte Kreativität der Gattung Mensch an und zwar über die Reflexion gelebter kultureller Vielfalt.
Der Artikel 28 der Universellen Erklärung der Menschenrechte garantiert das Recht auf Leben in heimischen und weltweiten Strukturen, welche die Verwirklichung der Menschenrechte ermöglichen. Das heißt, dass Konfliktlösung sowohl Menschenrecht als auch Menschenpflicht ist. Das gilt auch für die Wirtschaft, die die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse garantieren soll. Gegenwärtig verschlingt die Rettung der bankrotten Banken etwa 90 Prozent der Mittel, die Regierungen aus Steuermitteln zur Verfügung stellen. Nur 10 Prozent gehen in die Wirtschaftsförderung zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Dieses Missverhältnis gehört dringend umgekehrt.
Eine weitere Schlussfolgerung, die sich aus dem Artikel 28 ergibt, ist die Entfaltung von gegenseitigem Respekt, Neugierde und Lernen in Dialogforen der Zivilisationen. Das impliziert die Schaffung eines Weltbundes. Denn eine Art Weltstaat würde einfach versuchen, eine Leitzivilisation über alle zu stülpen. Das ist aber schlicht unakzeptabel. Eine lockere Welt-Konföderation würde keine Einheit schaffen. Daher erscheint als beste Lösung ein Weltbund.
Mit welchen Personen könnte man nun eine Kultur auf der Basis menschlicher Grundbedürfnisse in einem Weltbund umsetzen? Dank Wikileaks dürfte eines ganz klar geworden sein: Es könnte wohl kaum mit denen gelingen, die gegenwärtig die Diplomatenklasse repräsentieren. Die Diplomatie Washingtons ist enthüllt worden, obwohl die meisten Ausrichtungen bereits schon bekannt und vorhersehbar waren. Sie sind Bestandteil der imperialen Politik, die von diesem Land sogar in den sogenannten alliierten und befreundeten Ländern vorangetrieben wird – im Selbstverständnis, die »unentbehrliche Nation« zu sein. Enthüllt wurde auch die vorherrschende Paranoia, überall Verschwörungen, Widerspenstigkeit und fehlende Kooperation bei der Durchsetzung der eigenen »nationalen Interessen« zu sehen, und zwar auf Kosten anderer Länder oder einer eigenen Innenpolitik mit globaler Ausrichtung.
Diese Diplomaten gehören zur Ära eines Staatensystems, das wir überwinden müssen. Wir müssen also einige wiederaufbereiten und aussortieren und viele Tausende neue Beamte ausbilden, die in der Lage sind, einer globalen Innenpolitik zu dienen und sich von der Lächerlichkeit einer Welt zu distanzieren, die aus Geheimnissen und Vertraulichkeiten besteht und die mit uns, mit den Menschen und der Natur herumspielt. Die Diplomaten haben kein Recht, ihre Inkompetenz hinter dem Schleier von Staatsgeheimnissen zu verstecken. Demokratie bedeutet Transparenz und keine feudalen Spiele.
Danke, Wikileaks! Hoffentlich setzen sich die Enthüllungen als »Weekly« Leaks fort. Wir brauchen sie.
* Der Norweger Johan Galtung (80) ist Professor für Friedensforschung und u.a. Autor der Schrift »A Theory of Conflict«. Er gilt als einer der Gründungsväter der Friedens- und Konfliktforschung und steht gegenwärtig dem internationalen TRANSCEND-Netzwerk für Frieden, Entwicklung und Umwelt vor.
Aus: Neues Deutschland, 16. Dezember 2010
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