Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das Werkzeug des Großen Bruders

Neue Fakten über die Fähigkeiten der Spionagesoftware XKeyscore

Von René Heilig *

Der militärische US-Geheimdienst NSA hat Berichte über einen weitreichenden Zugriff auf Internetdaten mit Hilfe des Programms »XKeyscore« teilweise zurückgewiesen. Die NSA bestritt, dass man praktisch uneingeschränkten Zugang auf fremde Informationen hat.

Alles begann an einem Freitagabend. Es war der letzte im Mai. Ewen MacAskill, der für den britischen »Guardian« in New York arbeitet, wurde zu seiner Chefin Janine Gibson gerufen. Am nächsten Tag saß er mit der Kollegin Laura Poitras in einer Maschine nach Hongkong. Die beiden trafen dort einen jungen Mann, der behauptete, geheime Dokumente zu besitzen. »Der Auftrag war herauszufinden, ob dieser Kerl die Wahrheit sagt oder ob er ein Fantast ist«, erinnert sich MacAskill.

Der »Kerl« heißt Edward Snowden. Er hatte schon seit Monaten verschlüsselte Nachrichten an die Redaktion geschickt. Die Journalisten befragten ihn in einem Hotel, checkten gegen, was sich kontrollieren ließ, und waren sich schon bald sicher, dass es sich bei dem 29-jährigen US-Geheimdienstmitarbeiter um einen Idealisten handelt. Einen, der an die Freiheit der Persönlichkeit glaubt und sie auch ins Internet übertragen möchte.

Die ersten Enthüllungen über Prism und das britische Tempora-Programm führten weltweit zu Erstaunen und Entsetzen. Doch der »Guardian« hatte angekündigt, der einstige NSA-Geheimdienstler und Whistleblower sei bereit nachzulegen.

Was nun hochkam, übertrifft alles bisher Veröffentlichte. Es geht um XKeyscore. Das ist ein Fast-Alleskönner-Spionageprogramm. Es ermöglicht die Abfrage nach Namen, Mailadressen, Telefonnummern und Schlagworten. XKeyscore erlaubt die Echtzeitkontrolle, die NSA ist also – wenn gewünscht – bei allem dabei, was ein Internetnutzer online tut. Die Agenten müssen nur die E-Mail-Adresse eines Menschen oder einer Behörde eingeben, schon liegt die gesamte Kommunikation offen und kann gespeichert werden.

2012 seien in einem Zeitraum von 30 Tagen 41 Milliarden Einträge in der XKeyscore-Datenbank enthalten gewesen, sagt der »Guardian«. Da die Datenmengen so umfangreich sind, dass selbst modernste Systeme rasch »überlaufen«, setzt nach drei Tagen oder einer Woche der Löschungsvorgang ein. Freilich kann man zuvor alles, was wichtig erscheint, herausfiltern und separat speichern. Auf jeden Fall bleiben die Verbindungsdaten noch bis zu fünf Jahren erhalten.

Es gibt für die Spione anwenderfreundliche Masken, in die man Begehrlichkeiten einpasst – und schon werden sie bedient. In der Präsentation, deren Folien Snowden »mitgehen ließ«, sind Beispiele für Abfragen erkennbar: »Zeige mir alle verschlüsselten Word-Dokumente in Iran«, heißt es da. Man kann die Suche einschränken: »Zeige mir die gesamte PGP-Nutzung in Iran.« PGP ist ein System zur Verschlüsselung von E-Mails und anderen Dokumenten. Ein anderer Eingabebefehl lautet: »Zeige mir alle Microsoft-Excel-Tabellen, mit MAC-Adressen aus Irak, so dass ich Netzwerke kartieren kann.«

Von welcher IP-Adresse beliebige Websites aufgerufen werden – kein Problem für die NSA. Auch Google-Suchanfragen sind zugänglich. Verschlüsselung? Ja und? XKeyscore findet jeden Aufbau einer sogenannten VPN-Verbindung. So weiß man zumindest: Aha, da könnte was Interessantes gesendet oder empfangen werden.

Dem System bleiben auch keine Freundeslisten aus sozialen Netzwerken verborgen. NSA-Mitarbeiter können die Inhalte von privater Facebook-Kommunikation sogar nachträglich einsehen. Sie müssten dazu lediglich den Nutzernamen eines Mitglieds eingeben und auswählen, aus welchem Zeitraum sie die Privatgespräche lesen wollen.

Offenbar macht das XKeyscore-System auch Vorschläge, wer verdächtig ist und überwacht werden sollte. Man müsse im Datenstrom nur nach »abweichenden Ereignissen« suchen – also beispielsweise jemanden, dessen Sprache ungewöhnlich ist an dem Ort, an dem er sich aufhält.

Die Daten, die von den NSA-Speicherorten weltweit erfasst werden, lassen sich offenbar zentral durchsuchen. Man kombiniert sie mit anderen Informationen. Auf einer der von Snowden vorgelegten Folien ist aufgeführt, auf welche Datenquellen das System zugreifen kann: »F6-Hauptquartiere« und »F6-Standorte«. F6 steht für den Special Collection Service. Das ist offenbar eine gemeinsame Einheit von NSA und CIA, die unter anderem Botschaften verwanzt. Hinzu kommt abgefangene Satellitenkommunikation.

Auch der deutsche Auslandsgeheimdienst BND und das im Inland operierende Bundesamt für Verfassungsschutz setzen XKeyscore ein. Selbstverständlich nur in Übereinstimmung mit den Gesetzen. Wer's glauben mag ...

Edward Snowden hat viel erreicht – und sich doch gründlich verkalkuliert. Als er nach Hongkong ging, hoffte er, dass sich die Chinesen vor ihn stellen. Das war ein Fehler. Auch Russland mag den »Verräter« nicht wirklich. Obwohl er gerade Dostojewskis »Schuld und Sühne« gelesen hat.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 2. August 2013


Insistieren und absorbieren

Die Opposition fragt – keiner antwortet

Von Markus Drescher **


Nach den neuen Enthüllungen im Geheimdienstskandal setzt die Opposition ihre Angriffe auf die Bundesregierung fort.

Jan Korte, Bundestagsabgeordneter der LINKEN, fragt schriftlich das Bundesinnenministerium: »Auf welche Fakten stützt Bundesinnenminister Friedrich seinen Glauben in die von ihm nach seiner USA-Reise dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages übermittelte Zusage der USA, keine deutschen Gesetze verletzt zu haben oder zu verletzen (…).« Das Ministerium antwortet: »Der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Hans-Peter Friedrich, hat eine Mitteilung wiedergegeben, die er hochrangig von der amerikanischen Regierung während seiner Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika am 11./12. Juli 2013 erhalten hat.«

Diesen Dialog kann man exemplarisch für das Duell ansehen, das sich Opposition und Bundesregierung zur Zeit rund um den Ausspähskandal der Geheimdienste liefern. Auf der einen Seite Fragen über Fragen und Insistieren auf Handeln und Aufklärung, die auf der anderen Seite auf eine Art schwarzes Loch treffen, das alles absorbiert und nichts rausrückt. Mit den neuen Enthüllungen – und jeder weiteren – setzt sich dieses Spiel fort.

Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele kündigte am Donnerstag umgehend an, er werde »den Einsatz von XKeyScore und bisherige Fehl-Auskünfte dazu auch zum Thema machen in der baldigen nächsten Sondersitzung des parlamentarischen Geheimdienst-Kontrollgremiums«. Zudem hat er Anfragen dazu an die Bundesregierung gerichtet.

»Die neuen Veröffentlichungen sind umfangreicher als alles, was das Kanzleramt nach mittlerweile acht Wochen zugegeben hat«, stellt Thomas Oppermann, Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, fest und fordert: »Ich erwarte, dass die Bundesregierung dafür sorgt, dass die Totalüberwachung von Deutschland eingestellt wird und die Amerikaner zusichern, sich in Deutschland an die Deutschen Gesetze zu halten.«

Um den geforderten Schutz der Bürger in Deutschland zu gewährleisten, müssten natürlich auch die deutschen Geheimdienste ihre Beteiligung an der Totalüberwachung einstellen, denn die ganze Angelegenheit ist keineswegs ein US-amerikanischer Skandal, sondern ein geheimdienstlicher abseits von Ländergrenzen.

Petra Pau (LINKE), Mitglied im Innenausschuss, kritisiert ebenfalls die schwarz-gelbe Untätigkeit: »Wenn Banken wanken, jagt eine Krisensitzung die andere. Wenn das Grundgesetz zerschossen wird, geht die Bundesregierung in Urlaub.« Es sei höchste Zeit für einen »kompetenten Demokratie-Gipfel mit einer schonungslosen Analyse und mit internationalen Konsequenzen«, so Pau.

Für die Piratenpartei sind die bisher bekannt gewordenen Spitzelmöglichkeiten erst der Anfang. »Denn was wir jetzt sehen, nutzt letztendlich nur eine Datenquelle: das Internet«, so Bernd Schreiner, Bundestagskandidat der Thüringer Piraten. In den Startlöchern stünden bereits »weitere große Projekte, mit denen Datensammlungen und damit eine annähernde Komplettüberwachung unseres Lebens und aller Handlungen« ermöglicht würden. »Sowohl der elektronische Zahlungsverkehr wie auch die Videoüberwachung, die kommende, E-Call genannte Funkbox für Autos, ja sogar die Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn. All diese Datensammlungen sind oder werden zukünftig für die Geheimdienste nutzbar.«

** Aus: neues deutschland, Freitag, 2. August 2013


Großer Bruder

Totalüberwachung dank »XKeyscore« Von Rüdiger Göbel ***

Die Bundesregierung erlaubt seit zehn Jahren, »privaten« US-amerikanischen Unternehmen, im Auftrag Washingtons auf deutschem Boden geheimdienstlich tätig zu sein. Wie das ZDF-Magazin »Frontal« am Dienstag abend enthüllt hat, wurden mehr als 200 entsprechende Genehmigungen aufgrund einer Vereinbarung, die das Auswärtige Amt abgeschlossen hat, erteilt. Von Washingtons Spitzeleien, sorry: »sicherheitsrelevanten analytischen Untersuchungen«, wissen Politiker aus Union und FDP genauso wie von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Joseph Fischer, Frank-Walter Steinmeier, Guido Westerwelle und Ronald Pofalla saßen bzw. sitzen in der Dekade als Außenminister bzw. Geheimdienstkoordinatoren an den verantwortlichen Stellen. Überrascht kann da keiner sein oder tun. Es wundert also nicht, daß der große Aufschrei über das allumfassend mögliche Horch und Guck so leise ausfällt und Kanzlerin Angela Merkel in aller Ruhe spazierengehen kann.

E-Mails, Suchanfragen, Verbindungsdaten – die NSA kann auf »fast alles, das ein typischer Nutzer im Internet tut« zugreifen. Und das in Echtzeit. Internetgiganten wie Facebook, Google, Microsoft etc. machen offensichtlich mit. In Deutschland haben BND und Verfassungsschutz die Spitzelsoftware bekommen. Halten auch Telekom und 1&1 ein Hintertürchen offen?

Wie lächerlich sind angesichts der dank Edward Snowden publik gewordenen Überwachungspraxis die einst berüchtigten Geruchsproben in Einmachgläsern? Für die Skandalisierung von DDR-Überwachungsmaßnahmen verfügt eine eigens eingerichtete Behörde über einen Millionenetat, ihr Chef mag sich Hoffnung machen, dereinst Schloß Bellevue zu beziehen. Dort tut heute schon ein »Bürgerrechtler« als Bundespräsident sein Bestes dafür, daß sich die Aufregung über die Feinde der Freiheit in Grenzen hält und für den großen Bruder in Übersee weiter »Freundschaft« gerufen wird.

300 Terroristen seien dank »XKeyscore« festgenommen worden, behauptet die NSA. Was Obamas Geheimdienst in der »Erfolgsbilanz« unterschlägt: Zehnmal mehr Menschen wurden auf Befehl des US-Präsidenten allein in Pakistan per Drohnen ermordet, weil sie von »Analysten« als »Terroristen« eingestuft worden sind.

Indes, der Unmut hierzulande über die totalen Überwachungsmöglichkeiten Washingtons hält sich in Grenzen. Wie soll es auch anders sein, wenn selbst Die Linke zur Sedierung beiträgt. »Es ist höchste Zeit für einen kompetenten Demokratie-Gipfel mit einer schonungslosen Analyse und mit internationalen Konsequenzen«, barmte Petra Pau namens der Bundestagsfraktion am Donnerstag. Deren netzpolitische Sprecherin hat offensichtlich auf Ferienmodus geschaltet.

Einer aktuellen Erhebung zufolge sind drei Viertel der Befragten der Meinung, die Bundesregierung tue nicht genug für Datensicherheit und Schutz der Persönlichkeitsrechte im Internet. Es gilt, das Mißtrauen zu vergrößern, nicht zu schmälern.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 2. August 2013


Schweigen im Walde

NSA-Software ermöglicht fast allumfassende Überwachung. US-Präsident Obama und Geheimdienst verteidigen Spähprogramm »XKeyscore«. Bundesregierung läßt Datenklau zu

Von Rüdiger Göbel ****


Verschlüsselte E-Mails, geschlossene Chats, private Facebook-Einträge – nichts im Internet ist sicher vor den US-Geheimdiensten. Laut einem Bericht des Guardian (Donnerstagausgabe) haben diese noch viel umfassenderen Zugriff auf die weltweite Kommunikation als bisher vermutet. Durch das Spitzelprogramm »XKeyscore« hat die NSA (National Security Agency) Einsicht in »praktisch alles, was ein gewöhnlicher Nutzer im Internet tut«. Und das auch in Echtzeit. Das enthüllt die britische Zeitung unter Berufung auf Material, das sie vom früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden bekommen hat. Das Weiße Haus und seine Spitzelbehörde bestätigen die Angaben indirekt, weisen nur den Vorwurf zurück, die Schüffelei erfolge unkontrolliert. Die Bundesregierung kollaboriert mit Washington. Wie das ZDF in dieser Woche berichtet hat, sind US-Unternehmen seit 2003 mehr als 200 Ausnahmegenehmigungen zum Datenklau in Deutschland erteilt worden.

Die Kontrolle im Netz scheint total. Der Guardian schildert detailliert, wie Nutzer mittels »XKeyscore« über ihre E-Mailadressen ausgespäht werden können. Sie sind auch über zahlreiche weitere Kriterien zu finden. So können etwa alle aus Pakistan verschickten deutschsprachigen Mails herausgefiltert werden, oder alle im Iran verschlüsselten etc. Die Zeitung hat auf ihrer Internetseite als »Top Secret« eingestuftes Schulungsmaterial der NSA aus dem Jahr 2008 veröffentlicht, in dem dies als Beispiel aufgeführt wird. Die Datenauswertung wird den Angaben zufolge stetig verbessert. Schon damals waren über 700 Server an etwa 150 Orten in aller Welt einbezogen. Inhalte der Kommunikation werden drei bis fünf Tage lang gespeichert, Verbindungsdaten bis zu 30 Tage.

Der US-Geheimdienstexperte und Publizist David Brown bestätigte die Guardian-Berichte über die enorme Datenerfassung und -auswertung. Problem sei derzeit die Informations­menge. Die NSA sammle mehr als gegenwärtig verarbeitet werden könne, sagte Brown dem US-Sender NBC. US-Präsident Barack Obama ließ über einen Sprecher verlauten, »XKey­score« sei nur ausgewählten Personen zugänglich und unterliege strengsten Kontrollen gegen Mißbrauch. NSA-Chef General Keith Alexander rief auf einer Hacker-Konferenz in Las Vegas die Anwesenden auf, dem Geheimdienst zu helfen …

In Berlin wird allmählich Kritik laut am transatlantischen Datenabschöpfen. »Sollten die Verantwortlichen der letzten Jahre behaupten, sie hätten keine Vorstellung von dem, was sie da genehmigt haben, ist das nicht naiv, sondern gelogen«, erklärte der Parlamentarier Steffen Bockhahn, der für Die Linke im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages sitzt, am Donnerstag. Mehr als 200 Unternehmen dürften »sicherheitsrelevante analytische Untersuchungen« für die US-Army durchführen. Eine Erlaubnis dafür hätten sie jeweils individuell von der Bundesregierung bekommen. Die wolle nach eigenen Angaben jetzt prüfen, was da eigentlich gemacht wird. »Das ist absurd«, so Bockhahn. »Die Bundesregierung selbst hat offenkundig das Ausspähen von Daten auf deutschem Boden erlaubt. Das ist nichts anderes als eine Einladung zum Rechtsbruch.«

Die Bundesregierung äußerte sich gestern zu den Vorwürfen nicht. Kanzlerin Merkel ist wandern.

* Aus: junge Welt, Freitag, 2. August 2013


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