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80 Horchposten weltweit

US-Geheimdienste überwachen Merkel seit 2002. Dabei stützen sie sich auf geltende Verträge und die Hilfe von BND und "Verfassungsschutz"

Von André Scheer *

Offenbar schon seit 2002 haben US-Geheimdienste die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel (CDU) und den seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) abgehört. Das berichteten am Wochenende Bild am Sonntag und Spiegel. Anlaß für die Bespitzelung der treuen Freunde sei die Kritik Schröders am Irak-Kriegskurs von George W. Bush gewesen. Das Credo des damaligen US-Präsidenten nach den Anschlägen vom 11. September 2001, »wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, war also offensichtlich nicht nur eine Parole. An mehr als 80 Standorten der Welt, davon 19 in Europa, habe es 2010 gemeinsame Spionagezentren der NSA und der CIA gegeben, berichtete Spiegel online am Samstag abend unter Berufung auf eine Geheimdatei, die dem Nachrichtenmagazin vorliege. In Deutschland seien zwei solcher Horchposten aktiv, einer in der US-Botschaft am Pariser Platz in Berlin, in Wanzenwurfweite zum Regierungsviertel, und ein zweiter in Frankfurt am Main. Der besonderen Aufmerksamkeit Washingtons erfreuen sich demnach unter anderem auch Madrid, Paris, Rom und Genf.

In Berlin wird nun hektische Betriebsamkeit simuliert. Einem dpa-Bericht zufolge soll »eine hochrangige Abordnung« nach Washington reisen, um sich dort mit Vertretern des Weißen Hauses und der NSA zu treffen. Zu der Reisegruppe gehören sollen der Geheimdienstkoordinator aus dem Kanzleramt, Günter Heiß, sowie die Präsidenten von Bundesnachrichtendienst (BND), Gerhard Schindler, und des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen.

Damit werden die Böcke zum Gärtner gemacht. Am 30. September hatte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage des grünen Bundestagsabgeordneten Konstantin von Notz eingeräumt, daß »die deutschen Nachrichtendienste eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit verschiedenen US-amerikanischen Diensten« pflegen. Zugleich bestätigte das Kabinett die Existenz einer von deutschen Diensten und der CIA gemeinsam betriebenen Einheit »Projekt 6«, über die der Spiegel Anfang September berichtet hatte. Von insgesamt 47 Einzelfragen dazu wollte das Innenministerium jedoch lediglich drei beantworten, Aussagen zu allen anderen Punkten seien als »VS-Geheim« eingestuft und könnten in der Geheimschutzstelle des Bundestages eingesehen werden.

Erst nach dem Ende des Wahlkampfs und während die SPD als Koalitionspartner im Wartestand ruhiggestellt ist, räumte die Bundesregierung in der vergangenen Woche ein, daß »amerikanische Nachrichtendienste möglicherweise das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin überwachen«, und sieht »Vertrauen erschüttert«. Tatsache aber ist nicht nur, daß die USA in Deutschland spitzeln, sondern auch, daß sie das durchaus dürfen. Darauf wies der Historiker Josef Foschepoth am Sonnabend gegenüber der Deutschen Welle noch einmal hin. Zunächst hatten sich demnach die USA als Besatzungsmacht die Überwachung der Kommunikation genehmigt, dann wurden ab 1955 mit der »souveränen« BRD Geheimverträge abgeschlossen, die ­Washingtons Diensten das Ausforschen von Telefonaten und Briefverkehr erlauben – »und diese Vereinbarungen sind bis heute gültig und bindend für jede Bundesregierung«. Es sei ein »großer deutsch-alliierter nachrichtendienstlicher Komplex« entstanden. Für den Grünen-Parlamentarier von Notz geht es längst um die »Erosion unseres Rechtsstaates«.

* Aus: junge Welt, Montag, 28. Oktober 2013


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