"Wes Brot ich ess, des Lied ich sing"
Anmerkungen zu einer Sonderveröffentlichung des Bundesnachrichtendienstes *
Von Erich Schmidt-Eenboom *
Die Forschungs- und Arbeitsgruppe »Geschichte des BND« hat mit der Sonderausgabe vom 22. Dezember 2011 zu »Kassationen von Personalakten im Bestand des BND-Archivs« auf die alarmierende Nachricht reagiert, dass 1996 acht und 2007 245 Personalakten vernichtet wurden. Die wären aber für die in Auftrag gegebene Aufarbeitung der braunen Wurzeln des Dienstes von beträchtlicher Bedeutung gewesen. Anmerkungen von Erich Schmidt-Eenboom.
Der Bundestagsabgeordnete der Linksfraktion Jan Korte hatte, um das Ausmaß des Substanzverlustes der BND-Aktenvernichtung abschätzen zu können, in einer Kleinen Anfrage vom 8. Dezember 2011 gebeten, die Liste der Personen offen zu legen, deren Personalunterlagen kassiert wurden. In seiner Antwort wich das Kanzleramt dieser Frage aus. Stattdessen legte die interne Forschungs- und Arbeitsgruppe eine anonymisierte Liste vor, die sich mit Ausnahme von zehn Fällen auf die Preisgabe der Initialen, des Geburtsjahrgangs und der Dienstzeit beschränkt. Die Ausnahmen bilden nur Angehörige der Organisation Gehlen (Org) und des ihr folgenden BND, zu denen in der National Archives and Record Administration (NARA) in Washington D.C. CIA-Personalakten in der Record Group 263 vorliegen.
Zwar anonym, doch auffindbar
Für elf Ex-BND-Mitarbeiter, die wegen ihrer NS-Belastung in den frühen 1960er Jahren überprüft worden waren, werden Kurzbiografien geboten. Selbst davon sind fünf anonymisiert, darunter die von Arthur Moritz - bis 1939 in der Gestapo, anschließend in der Geheimen Feldpolizei - , obwohl auch über ihn eine NARA-Akte existiert. Dem in der Holocaustforschung bewanderten Leser fällt gleich ins Auge, dass hier auch die Daten von Bruno Kauschen - ein zunächst für »Schutzhaftangelegenheiten« zuständiger Gestapobeamter, der dann im Zweiten Weltkrieg zum Führungspersonal der »Operation Zeppelin« (Sabotageakte gegen die Sowjetunion) zählte - ebenso geschützt werden wie die des SS-Hauptsturmführers Wilhelm Hahn. Der gehörte 1941/42 einem Einsatzkommando im Elsass an und war deshalb nach Kriegsende von einem französischen Kriegsgericht zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Auch im Fall von Hahn hat der BND schlicht übersehen, dass es in der Box 45 der RG 263 eine Akte über ihn gibt.
»Exemplarisch« wird die Kassation der Akten von vier NS-Belasteten anhand von Kurzviten vorgeführt, von denen nur Otto Kuckuck namhaft gemacht wird. Zu Otto Kuckuck, dessen Personalakte der Dienst am 27. August 2007 vernichtet hat, hält der BND fest, er sei Angehöriger der SS und Oberwachtmeister der Sassnitzer Polizei gewesen. Laut Fußnote sind diese Angaben seiner NARA-Akte entnommen. Aus der geht jedoch hervor, dass Kuckuck ab März 1933 in Berlin bei der Gestapo tätig war und es bis zum Kriminalsekretär brachte. Im Bundesarchiv ist weiterhin nachvollziehbar, dass er im Juni 1935 im Außendienst der Hauptabteilung III des Geheimen Staatspolizeiamtes diente.
Anonym bleibt in diesem Quartett »J. K.«. Darin zeigt sich eine unverständliche Ignoranz gegenüber der Forschungslage, denn in der weitgehend vollbrachten Geschichtsaufarbeitung des Bundeskriminalamts taucht J. K. als Joachim Kaintzik auf. Dabei hat der BND dessen BKA-Karriere fast richtig rapportiert, ihn fälschlicherweise nur dem Referat »Kapitalverbrechen und Diebstahl« der Sicherungsgruppe Bonn zugeordnet. Der BND verschweigt allerdings seinen Rang eines SS-Sturmbannführers und erklärt, er sei »zu einem nicht bekannten Zeitpunkt« in die Org eingetreten.
Laut USAINSCOM File DE-369698 trat Kaintzik 1946 als Sicherheitsoffizier in Pullacher Dienste, was Paul B. Brown bereits im April 1998 im oberbayerischen Tutzing publiziert hat.
Man muss die augenscheinlich mit den Anfragen aus der Bundestags-Linksfraktion herausgeforderte Broschüre des BND trotz zahlreicher sachlicher Fehler und Unzulänglichkeiten nicht auf die Goldwaage legen, da sie die Vorläufigkeit der Sachverhaltsbewertung zum Teil eingesteht. Bemerkenswert ist jedoch der Einblick in die methodischen Abgründe.
Im Kanon der Aufarbeitung der NS-Wurzeln von Bundeskriminalamt, Verfassungsschutz, Justiz- und Finanzministerium trägt die BND-Variante das fragwürdige Alleinstellungsmerkmal einer weitgehenden Anonymisierung von Täteridentitäten. Ihr Instrument besteht in der Konstruktion von drei Kriterien für die Überlieferungswürdigkeit von Personalakten. Neben herausragenden Einzelschicksalen werden solche Dokumente erst ab der Besoldungsstufe A 13 relevant.
Ist ein Kriegsverbrecher erst nennenswert, wenn er im BND zum Regierungsrat aufsteigen konnte? Laut BND war der SS-Hauptsturmführer »G. G.« mutmaßlich Angehöriger eines Einsatzkommandos in Mühlhausen. Die Identität von »G. G.« erschließt sich bereits aus den Dienstalterslisten der SS und es bleibt ein Rätsel, weshalb die BND-Historiker so grundsätzliche Findmittel nicht als jedermann zugängliche Quelle in Rechnung stellen.
Leicht zu ergründen ist auch, welche Funktion Georg Grimm, der bis zum Erreichen der Altersgrenze im September 1964 im BND diente, ab April 1951 in der Org hatte: Wie die meisten SS-Offiziere war er bei der Generalvertretung L in Karlsruhe angesiedelt, war zunächst in Konstanz zur Aufklärung sowjetischer Nachrichtenlinien aus der Schweiz eingesetzt und fungierte ab 1953 als Filialleiter der GV L in Mainz vornehmlich gegen die KPD in Hessen.
Als drittes Kriterium für die Archivwürdigkeit gilt eine stichprobenartige Auswahl von Geburtsjahrgängen: Die Jahrgänge vor 1851 (also von Gehlen-Mitarbeitern, die mit 95 Lebensjahren oder älter in dessen Organisation eingetreten waren), 1873 mit einem Eintrittsalter von mindestens 73 Jahren, 1880 mit 66 Jahren, 1895 mit 51, 1915 mit 31 und 1927 mit 19 Jahren.
Lockspitzel gegen die »Rote Kapelle«
Eine dramatische Überalterung des Personalbestandes beklagte BND-Präsident Gerhard Wessel erst 1968. In den Gründerjahren lag das Durchschnittsalter der Dienstangehörigen nach ersten Schätzungen bei Mitte Dreißig. Die gewählte Stichprobe ist damit - vom Standpunkt der empirischen Sozialforschung betrachtet - von vorn herein eine Fehlkonstruktion, da sie weder den Durchschnitt noch den Median erfasst.
Durch die Fokussierung auf das Leitungspersonal wird überdies ein wichtiges Element der Kontinuitätsfrage ausgeblendet, die Frage nämlich, in welchem Umfang über Gehlens Sekretärin Annelore Kunze hinaus auch im Unterbau des Dienstes nachrichtendienstliches Funktionspersonal der NS-Dienste mit einschlägiger Belastung Einzug in Pullach hielt. Ein schon der Einzelbetrachtung werter Fall ist die Sekretärin im BND Gertrud Breiter, zuvor Kanzleiangestellte der Gestapo, Vernehmerin von Libertas Schulze-Boysen und Lockspitzel bei Fahndungsmaßnahmen gegen weitere Mitglieder der »Roten Kapelle« sowie 1943 dann Stenotypistin beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Minsk.
Die BND-Sonderveröffentlichung ist ein oberflächlicher Schnellschuss, der aufgrund von Aktendeckeln anstelle von Akteninhalten urteilt. Das wird auch da deutlich, wo die Hoffnung aufflammt, in zwölf Fällen ließe sich der Inhalt vernichteter Personalakten aus den CIA-Akten rekonstruieren. Doch gerade die CIA-Dossiers von Otto Bury über Herbert Hösselbarth bis zu Werner Rehder - bei der Sicherheitsüberprüfung im April 1957 Sekretär im Bremer Büro der SS-Hilfsorganisation HIAG und BND-Mitarbeiter bis 1971 - zählen zu den wenig ergiebigen Quellen im NARA. Wenigstens eine stichprobenartige Sichtung der CIA-Akten hätte zu einem abgewogeneren Urteil führen müssen.
Archivklau mit dem Auswärtigen Amt?
Ganz und gar befremdlich ist in der Gesamtliste die Dominanz der dienstinternen Denkungsart über akademische Grundregeln. Die V-Nr. (Verwaltungsnummer) dient der Verschleierung des Klarnamens in dienstinternen Verwaltungsvorgängen. Nun wird sie zum scheinakademischen Maßstab erhoben. Diese »deformation professionell« droht die akademische Wahrheitsfindung zu überlagern.
Auch die Tatsache, dass der Leiter der BND-Arbeitsgruppe im Dezember 2011 in Berlin mit Hilfe einer Umweganbahnung über das Auswärtige Amt inkognito versuchte, dem Dienst ein in Privatbesitz befindliches Archiv mit Dokumenten zur von Österreich aus erfolgten Spionage der Organisation Gehlen zu sichern, zeigt, dass der BND die Aufarbeitung seiner Geschichte mit konspirativen Mitteln betreibt.
Besorgniserregend eng ist auch der Fokus auf die braune Vergangenheit. Bisher ist nicht absehbar, dass über die SS hinaus das gesamte Spektrum der Indienstnahme von Angehörigen der NS-Elite ins Auge gefasst wird. Die Debatte um die Kriegsverbrechen der Wehrmacht hat die BND-Historiker offenbar noch nicht erreicht. Ihr Oberbefehlshaber, Feldmarschall Wilhelm Keitel, war in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen abgeurteilt und hingerichtet worden. Sein Adjutant, Oberstleutnant Ernst John von Freyend, wusste den Alliierten in Nürnberg weis zu machen, er sei nur eine Art Kammerdiener des Hauptkriegsverbrechers gewesen und nicht in militärische Entscheidungsprozesse eingebunden. Anfang der 1950er Jahre heuerte er dann bei Gehlen an.
Dass die eigenen und die unter Vertrag genommenen Wissenschaftler des BND trotz eines massiven Personalaufgebots nach Jahr und Tag noch vielfach im Dunkeln tappen, mag dem desolaten Zustand des BND-Archivs und der massiven Vernichtung von Akten geschuldet sein. Die Anzeichen mehren sich jedoch, dass es überdies in einflussreichen Fraktionen im BND an der Bereitschaft mangelt, Licht in dieses Dunkel zu bringen.
Sollte sich diese wissenschaftsfremde Verschleierung von Identitäten bis in den Abschlussbericht der Historikerkommission fortsetzen, wären die vollmundigen Versprechen größtmöglicher Transparenz ad absurdum geführt. Vollends zum Gespött unabhängiger Wissenschaftler wird diese Praxis, wenn jedes Erstsemester unter den Studierenden vom BND verborgene Klarnamen ohne großen Aufwand über Google findet. Ein Beispiel: Die Sonderveröffentlichung des BND stellt ein SS-Mitglied in Erkelenz, geboren am 23. Februar 1899 in Elmpt, das während der Reichspogromnacht führend an der Zerstörung der örtlichen Synagoge beteiligt gewesen sein soll, als »M. P.« vor. Mit diesen Angaben weist jede Suchmaschine den Weg zum Heimatverein der Erkelenzer Lande, der sich intensiv mit dem Ablauf der sogenannten Reichspogromnacht vor Ort beschäftigt hat. Der Heimatforscher Hubert Rütten weiß aus dem Kopf, dass es sich bei dem fraglichen SS-Oberscharführer und für die Polizei zuständigen Kommunalbeamten um Michael Peters handelt, der nur aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden war.
Viele Gründe zum Handtuchwerfen
Der Historiker Michael Wildt hat im Januar im »Spiegel« zu Recht die ganze Konstruktion von »sicherheitsüberprüften Kommissionen mit streng begrenztem Aktenzugang« infrage gestellt und die Forderung nach allgemeinem freien Aktenzugang nach dem Vorbild der Stasi-Unterlagen-Behörde erhoben. Wie begründet die Skepsis des angesehenen Holocaust-Forschers ist, wird zunehmend klarer. Die BND-Kommission soll auch darin gegenüber anderen Wissenschaftlern privilegiert sein, dass sie aufgrund rechtlicher Vorgaben noch nicht deklassifizierte Akten einsehen darf. Externe Nachprüfbarkeit - ein Axiom für Wissenschaftlichkeit - sieht anders aus.
Angesichts der Leitungsvorgaben der BND-Spitze beginnt das Etikett der »Unabhängigen Historikerkommission« ohnehin abzublättern. Schon auf mittlere Sicht steht die Frage, wie lange sich vier renommierte Wissenschaftler eine solche Bevormundung bieten lassen, ohne das Handtuch zu werfen oder ihr wenigstens die Stirn zu bieten.
»Wes Brot ich ess, des Lied ich sing«, mag für die forschenden BND-Beamten zur Dienstpflicht erhoben worden sein. Schlimm wäre es, würden sich die als »unabhängig« firmierenden Köpfe der externen Historikerkommission dabei auch noch die Butter vom Brot nehmen lassen.
* Erich Schmidt-Eenboom ist Leiter des Forschungsinstituts für Friedenspolitik in Weilheim, ausgewiesener Geheimdienstexperte und Autor verschiedener Bücher.
Aus: neues deutschland, 31. Januar 2012
Die zweite Schuld und die letzte Chance der Demokratie **
Als »zweite Schuld« bezeichnete der Publizist Ralph Giordano die Verweigerung und den Unwillen großer Teile der deutschen Bevölkerung, sich der Aufarbeitung von Naziverbrechen und der Rehabilitierung ihrer Opfer zu stellen. Die Ursachen dafür sind vielfältig - zumal es zwei Deutschlands gab, die sich, von höchster Stelle gewollt, höchst unterschiedlich mit Faschismus und Krieg auseinandersetzten.
Sicher ist, dass sich die Bundesrepublik schon sehr früh von der Täterverfolgung verabschiedete und statt dessen wieder deren Opfer an den gesellschaftlichen Pranger stellte. Widerstandskämpfer wurden zu Moskaus Handlangern gestempelt, Deserteure als Verräter gebrandmarkt. General galt als Synonym für Ritterlichkeit, Juristen hatten sich nur an »Recht und Gesetz« gehalten, KZ-Mörder schützte der Befehlsnotstand.
Hitlers Reich ging unter - es lebe die neue Demokratie. Fast nahtlos geschah der Übergang. In staatlichen Behörden, nicht nur der Organisation Gehlen, wurden mit Unterstützung der Westalliierten Fachleute (wieder)eingestellt und bestimmten weithin die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland.
In den vergangenen zehn Jahren wurde die Forderung nach Erforschung dieser Kontinuität so laut, dass kaum ein Ministerium, kaum eine Behörde es noch wagen kann, sich ihr zu entziehen. Das allerdings sagt noch nichts über den Grad der Ehrlichkeit aus, mit dem Politiker, Beamte und Historiker sich dieser Verpflichtung stellen. Doch es ist höchste Zeit - und vermutlich die letzte Chance der Demokratie.
hei
** Aus: neues deutschland, 31. Januar 2012 (Kommentar)
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