Alexanders Lösung – Schwert oder Verstand?
Bundesnachrichtendienst betrieb in Berlin Afghanistan-Aufklärung und suchte Wege zur Konfliktlösung am Hindukusch
Von René Heilig *
Handys aus, keine Bild- und Tonaufzeichnungen, Interviews nur nach Anfrage an die Symposiumsleitung – der Bundesnachrichtendienst (BND) betrieb am Donnerstag (28. Okt.) in Berlin Aufklärung. Das ist sein Auftrag, mag man einwerfen, doch das vom BND organisierte Symposium war anderer Natur. Die Spitzen des deutschen Auslandsgeheimdienstes – und mit ihm Kollegen aus zahlreichen anderen Staaten – wollten von Experten wissen, wie man den Gordischen Knoten, der sich in der Region um Afghanistan und Pakistan gebildet hat, zerschlagen kann. Ein Überblick von René Heilig.
Vor gut 2300 Jahren, so erinnerte BND-Präsident Ernst Uhrlau zu Beginn des Symposiums, »ist
schon einmal eine europäische Interventionstruppe in Afghanistan unterwegs gewesen ... Auch
damals stießen die Europäer auf Widerstand.« Gemeint ist Alexander der Große, der 329 vor Christi
in Baktrien einfiel. »Das ist ungefähr da, wo heute die Bundeswehr operiert.« Um die Baktrier
gefügig zu machen, wählte Alexander eine besondere Form, die heutzutage nichts mehr bringen
würde: Er heiratete eine Fürstentochter.
Keine Lösung für Afghanistan. Diese Ansicht hat sich herumgesprochen. Nach zehn Jahren Krieg.
Der BND, der sich bemüht, den Entscheidungsträgern »frühzeitig belastbare Informationen
bereitzustellen« und dafür »erhebliche Kräfte mobilisiert und Ressourcen einsetzt«, wollte nun
seinerseits von den Entscheidungsträgern wissen, wie sie gedenken, den Gordischen Knoten zu
lösen. Sprüche wie »Übergabe in Verantwortung« mögen für Pressemitteilungen oder
Bundestagsreden genügen – der Dienst braucht inhaltliche Vorgaben. Zumal es inzwischen um die
Befriedung einer ganzen Region geht.
Fehlerhaftes Fundament
Es ging also am Donnerstag in Berlin »um eine ehrliche Bestandsaufnahme«. Die ließe sich mit
einer afghanischen Weisheit zusammenfassen: »Ein Gebäude stürzt früher oder später ein, wenn
der erste Stein falsch gesetzt ist.« Dem ersten folgten viele weitere falsch gesetzte Steine.
Entsprechend düster fiel das Fazit von BND-Chef Uhrlau aus, der in deutlichem Gegensatz zu
aktuellen Äußerungen der Bundesregierung von »ein bisschen Licht und sehr viel Schatten« sprach.
Wolfgang Ischinger war lange Jahre Botschafter in den USA und ist noch immer – nicht nur in seiner
Funktion als Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz – einer die wichtigsten Ratgeber der
Regierung. Die Aussage, man verteidige Deutschlands Sicherheit am Hindukusch, stimme nicht
mehr, betonte der Diplomat. Und auch die Solidarität mit dem Bündnispartner USA, die vielleicht vor
gut neun Jahren ein Motiv gewesen ist, um nach Afghanistan zu gehen, reicht nicht mehr. »Wir
müssen begründen, welche deutschen Interessen uns dort halten.« Und da wird es schwierig, denn
die Bundesrepublik, so Ischinger, sei frei von eigenen Interessen. Deutschland habe weder Rohstoffnoch
regionalpolitische Interessen in Afghanistan und Pakistan. Es sei fatal, wenn man bei
Afghanistan weiter in den Kategorien von Sieg oder Niederlage denke. So seien Frieden und
Stabilität nicht erreichbar. Um den Krieg zu beenden ist es zunächst einmal notwendig, die Taliban
»nicht länger zu dämonisieren«. Wer lasse sich schon zu Verhandlungen einladen, wenn er als
»Verbrecher« angeprangert werde?
Den USA sind solche Argumente offenbar (noch) nicht eingängig genug. Denn, so debattierte man
vor allem in den ertragreichen Kaffeepausen, die pausenlose CIA-Attacken gegen Taliban-Führer
führen unter anderem dazu, dass es bald keine Verhandlungspartner mehr gibt, die genügend
Autorität besitzen, um eine gemeinsame Lösung mit dem Westen zu erreichen.
Fraglich ist auch, wer verhandeln soll. Die Regierung Karsai, die jetzt diverse Fühler ausstrecke, um
mit verschiedenen Aufständischen ins Gespräch zu kommen? Auch die hat nicht genügend
Autorität, um mit verlässlicher Zunge zu sprechen. Nicht ohne Grund verlangen maßgebliche
Akteure des afghanischen Widerstandes, dass man die USA am Verhandlungstisch erwarte. Das
jedoch wird in Washington noch immer als inakzeptables Eingeständnis eigener Schwäche gesehen.
Zudem haben die Hardliner in CIA und Pentagon Aufwind. Wie immer, wenn Wahlen anstehen. Sie
stellen – wie deren Einflüsterer Bruce Riedel verdeutlichte – weiter das Ultimatum: Bringt uns
Osama bin Laden und wir glauben euch!
Direkte Verhandlungen, so sagte der Taliban-Kenner Ahmed Rashid, ließen den Nachbarn
Afghanistans kaum eine andere Wahl, als diese Friedensgespräche zu unterstützen. Pakistan, das
sehr eigene Interessen mit den Taliban pflegt, wäre ausmanövriert.
Mut zur minimalen Formel
Auf dem Gipfel Mitte November in Lissabon wird die NATO Afghanistan eine langfristige
Unterstützung auch militärischer Art zusagen. Was notwendig ist. Denn ab 2014 wird Kabul seine
Soldaten und Polizisten nicht mehr bezahlen können. Wie es dann um deren ohnehin nicht
ausgeprägte Loyalität steht, dürfte keine Frage sein. Sorgen sollte auch bereiten, dass derzeit ein
neuer Wettlauf um Entwicklungshilfe eingesetzt hat. Staaten wie Organisationen wollen bis zum
Abzugsjahr 2014 vorzeigbare Projekte unter Dach und Fach bringen. Wenn man realistisch davon
ausgeht, dass 20 Prozent der Projektkosten als »Genehmigungshilfe« bei Kabuler Ministeriellen
hängen bleibt, kann man den Boom erahnen, den die Korruption gerade erfährt. Korruption ist ein
Totengräber für die ohnehin schwache Autorität der Regierung Karsai.
Was das Verhandeln betrifft – es sei wichtig, dass sich der Westen mit einer »minimalen Formel«
vorbereitet. Zu oft habe man bereits die Afghanistan-Strategie wechseln müssen. Realistisch müsse
man sich auf eine »gemischte Herrschaft« einstellen. Weder das Modell Zentralregierung noch das
Modell Föderalismus seien anwendbar. Klartext: Die traditionellen afghanischen Strukturen erleben
eine Renaissance, Kabul besorgt die Außenwirkung, die inneren Zuständigkeiten werden regional
verteilt.
Ischinger ist ein Stratege. Ihn interessiert auch das Übermorgen und damit die Frage nach weiteren
deutschen Auslandseinsätzen. Er warnte vor einer »Bloß nie wieder«-Haltung. Denn die Welt wird
sich auch künftig nicht hin zu paradiesischen Verhältnissen entwickeln. Die wichtigste Frage vor dem
nächsten Einsatz müsse lauten: »Können wir das durchhalten?« Falls sie nicht klar mit einem Ja
beantwortet werden kann, gebe es nur eine Option: Finger weg!
Diese Ansicht wird im Kanzleramt nicht unbedingt geteilt. Dort tendiert man wohl eher zu
Einsatzszenarien, die unterhalb der aktuellen liegen. Und man hofft fest darauf, dass die Analyse
des BND stimmt: Einen neuen 11. September 2001, der Deutschland zu einer derart solidarischen
Haltung zwingt, sei kaum zu erwarten.
Den Schlusspunkt der vom BND organisierten Beratung setzte Botschafter Michael Steiner. Der
Diplomat und »Macher« in schwierigen Lagen ist Beauftragter der Bundesregierung für Afghanistan
und Pakistan und er koordiniert die Zusammenarbeit aller Sonderbeauftragten aus 43 Staaten. Er
hofft sehr, dass die gewählte Analogie zum Gordischen Knoten falsch gewählt wurde, denn: »Der
Punkt war doch, dass Alexander die Aufgabe am Ende nur dadurch lösen konnte, dass er den
Knoten zerschlagen hat.« Steiner tendiert eher zu einer zweiten Überlieferung in Sachen Gordischer
Knoten. Der zufolge hat Alexander das Problem nicht mit dem Schwert, sondern durch Klugheit
gelöst. Er habe »einfach den Pflock aus dem Knoten gezogen«.
Was bedeutet das für anstehende Friedensverhandlungen? Realistisch seien folgende Ziele: Von
Afghanistan dürfe keine Gefahr für den Rest der Welt ausgehen. Zweitens will man, dass
»essenzielle Menschenrechte« respektiert werden. »Das kann für uns nicht verhandelbar sein.
Mädchen müssen zur Schule gehen können.« So leicht lösen sich Träume von der Einführung einer
Demokratie nach westlichen Muster, ja sogar von einer »Schweizer Neutralität« am Hindukusch auf.
Wichtig sei auch, dass man radikalen Islamisten nicht erlauben kann, den Sieg über die Vereinten
Nationen zu erklären. Auch deshalb sucht Steiner nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller
regionalen Akteure. Der spricht sich simpel aus: »Niemand kann ernsthaft wollen, dass Afghanistan
in Chaos versinkt. Hier besteht trotz aller Divergenzen, trotz allen Misstrauens und Taktierens eine
objektive Interessenkonvergenz.«
Das gelte für Pakistan, aber auch für Iran, »der großen Einfluss in Afghanistan hat«. Teheran, wo
Steiner unlängst sondierte, hat echtes Interesse daran, dass die für das Land schweren
afghanischen Belastungen – Drogenschmuggel und Flüchtlingsbewegungen – enden. Beim Treffen
der internationalen Afghanistan-Kontaktgruppe in der vergangenen Woche in Rom habe Iran eine
»konstruktive Linie« vertreten. Was von allen anwesenden Staaten »sehr positiv« aufgenommen
worden sei. Steiner betonte »alle Staaten«, das schließt die USA ein. Das lässt manches hoffen.
Der richtige Moment
Der Botschafter geht davon aus, dass jetzt »der richtige Moment da ist«, um den Afghanistan-
Konflikt zu beenden. »Aber wir folgen, wenn wir das annehmen, natürlich unserer eigenen
Rationalität.« Kann man derartige Rationalität auch von einer Bewegung, »die jenseits des für uns
Vorstellbaren operiert, deren Anhänger zum Tod als Selbstmordattentäter bereit sind«, erwarten? Es
gebe nur einen Weg, das herauszufinden: »Wir werden den Prozess beginnen müssen.« Wenn er
schief geht, hätte dies unabsehbare Folgen – für Afghanistan und die ganze internationale
Gemeinschaft.
* Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2010
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