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"Amerika kann nicht alles allein machen"

Susan Sontag erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und kritisiert ihre Regierung

Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag erhielt am 12. Oktober 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Der Berliner Schriftsteller und Theatermann Ivan Nagel hielt die Laudatio auf die Preisträgerin.

In der Begründung des Stiftungsrats für die Wahl Susan Sontags zur diesjährigen Friedenspreisträgerin heißt es: "Mit Susan Sontag ehrt der Buchhandel eine Schriftstellerin, deren erzählendes und essayistisches Werk den Begriff und den Wert der westlichen Kultur untersucht und verteidigt. … Durch ihre Arbeit, die nie das europäische Erbe aus dem Blick verlor, ist sie zu der prominentesten intellektuellen Botschafterin zwischen den beiden Kontinenten geworden. In einer Welt der gefälschten Bilder und der verstümmelten Wahrheiten ist sie für die Würde des freien Denkens eingetreten." Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ist mit 15.000 Euro dotiert.

Überreicht wurde der Friedenspreis vom Vorsteher des Börsenvereins, Dieter Schormann. Vor rund 700 Gästen in der Paulskirche würdigte Schormann die 70-jährige Autorin als eine "Friedensstifterin mit ausgeprägten Sensoren für Moral und Unmoral".

Der Berliner Literaturkritiker und Theaterregisseur Ivan Nagel nannte Susan Sontag in der Laudatio "ein Vorbild für Denkende, Intellektuelle". Nagel sprach sich in seiner Rede gegen eine deutsche Beteiligung am Wiederaufbau Iraks aus. "Wir sollten uns weigern, durch nachträgliche 'bündnispartnerliche' oder auch 'humanitäre' Beihilfe jetzt schon den nächsten Krieg mitzuerfinden", sagte er. Unter grossem Beifall des Publikums erklärte er: "Susan Sontag fürchtet, und wir mit ihr, dass der noch demokratische Westen militarisiert wird unter dem Walten derer, die den Krieg nur aus Parademärschen, Budgetgefeilsch und Computersimulationen kennen, aber ihre Herrschafts- und Wirtschaftsinteressen bis zu der Massentötung, die sich Krieg nennt, durchzusetzen gewillt sind."

In ihrer Dankesrede rügte die erbitterte Gegnerin der derzeitigen US-Außenpolitik das Vormachtstreben der USA unter Präsident George W. Bush. Bereits auf der Frankfurter Buchmesse hatte Sontag erklärt, Bush habe mit dem seit dem Zweiten Weltkrieg geltenden Grundsatz einer multilateralen US-Außenpolitik gebrochen. Angesichts der derzeitigen Entfremdung warb die 70-Jährige New Yorkerin bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche für mehr Verständis zwischen den USA und Europa. Sie wandte sich gegen die "Klischees vom Getrennt- und Verschiedensein", die die Kluft zwischen Europa und den USA vergrößerten. Verständigung könne sich nur ergeben, wenn "wir gründlicher über den ehrwürdigen Gegensatz zwischen 'Altem' und 'Neuem' nachdenken", sagte Sontag. Sie erinnerte daran, dass es seit Gründung der Vereinigten Staaten als "neo-europäischem Land" stets einen unterschwelligen Gegensatz zum "alten" Europa gegeben habe. Applaus erntete Susan Sontag für ihre Kritik an der Tatsache, dass der Botschafter der Vereinigten Staaten, Daniel Coats, der Preisverleihung fernblieb. Damit habe er "eine normale Diplomatenpflicht" versäumt.

Christoph Schröder schrieb am 13. Oktober im Feuilleton der Frankfurter Rundschau leicht enttäuscht, Susan Sontags Rede sei nicht sehr politisch gewesen. Die Preisverleihung sei ein "ganz gewöhnlicher Sontagvormittag" geworden: "... prinzipiell bewegte Sontag sich in einer anderen Sphäre, nicht einer primär politischen (die ergab sich automatisch), sondern in der der Literatur."

Dennoch: Das wenige, das an Zitierfähigem über die Agenturen gemeldet wurde, lässt sich durchaus lesen - als eine Anklage gegen das imeriale Gehabe der USA. Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus ihrer Rede:

Susan Sontag (Auszüge aus ihrer Preisrede)

(...) Es ist kein Zufall, dass der energische amerikanische Verteidigungsminister einen Keil zwischen die Länder Europas zu treiben versuchte, indem er auf unvergessliche Art zwischen dem "alten" (schlechten) und dem "neuen" (guten) Europa unterschied. Wie konnte es geschehen, dass Deutschland, Frankreich und Belgien dem "alten" Europa zugerechnet wurde, während sich Spanien, Italien, Polen, die Ukraine, die Niederlande, Ungarn, Tschechien und Bulgarien im "neuen" Europa wiederfanden? Die Antwort lautet: Wer die Vereinigten Staaten bei ihren gegenwärtigen Bemühungen um eine Ausdehnung ihrer politischen und militärischen Macht unterstützt, gehört damit per se in die bevorzugte Kategorie des "Neuen". Wer mit uns ist, ist "neu".
(...)
Manchmal muss ich mich kneifen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume: Der Vorwurf, den viele Menschen in Amerika Deutschland heute machen, diesem Deutschland, das fast ein Jahrhundert lang solche Schrecken über die Welt gebracht hat, man könnte auch sagen: Das neue "deutsche Problem" besteht nun offenbar darin, dass sich die Deutschen vom krieg abgestoßen fühlen, dass ein großer Teil der öffentlichen Meinung im heutigen Deutschland praktisch pazifistisch ist!
(...)
Die Bürger der reichsten und mächtigsten Nation in der Geschichte müssen sich klar machen, dass Amerika geliebt und beneidet, aber auch mit Groll betrachtet wird. Nicht wenige von ihnen erfahren bei Reisen ins Ausland, dass Amerikaner in den Augen vieler Europäer für raubeinig, ungehobelt, unkultiviert gelten.
(...)
Die Vorherrschaft Amerikas ist eine Tatsache. Aber Amerika, wie inzwischen auch seine derzeitige Regierung einzusehen beginnt, kann nicht alles allein machen. Die Zukunft unserer Welt - unserer gemeinsamen Welt - ist synkretistisch, unrein. Wir könne uns nicht voneinander abkapseln. Wir fließen immer mehr ineinander.
Am Ende wird sich alle Verständigung - alle Aussöhnung -, zu der wir gelangen können, daraus ergeben, dass wir gründlicher über den ehrwürdigen Gegensatz zwischen "Altem" und "Neuem" nachdenken. (...)

Quellen: Homepage des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (www.borsenverein.de), Frankfurter Rundschau vom 13. Oktober 2003; ap- und dpa-Meldungen vom 12. Oktober.


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