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Mehr Rechtsstaat in Kolumbien?

Hollman Morris Rincón über die Lage kritischer Journalisten *


Der 42-jährige kolumbianische Journalist wird am Sonntag (25. Sept.) den Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg in Empfang nehmen.


ND: Sie leben aufgrund von Morddrohungen derzeit mit ihrer Familie in Washington. Welche Bedeutung hat der Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg für Sie und Ihr Land?

Rincón: Das ist eine Botschaft an die Journalisten in Kolumbien, in ihrer Arbeit auch auf die Opfer der Gewalt zu achten. Mit dem Preis will man aus meiner Sicht diejenigen Journalisten unterstützen, die in allen Winkeln der Erde unterwegs sind, um auf humanitäre Dramen aufmerksam zu machen und die Opfer zu Wort kommen zu lassen. Zugleich ist der Preis aber auch ein Appell, die Erinnerungsarbeit und die solide Recherche zu fördern – um beides ist es in Kolumbien nicht zum Besten gestellt.

Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Situation in Kolumbien nach einem Jahr unter Juan Manuel Santos?

Der erhielt international viel Beifall. Ich denke, dass die neue Regierung mit dem Landgesetz und dem Gesetz der Opfer die Initiative ergriffen und Hoffnung gesät hat. Noch wichtiger ist vielleicht der neue Umgangston, der weniger aggressiv und militant ist. Die politische Opposition wird nun mit Respekt behandelt, gleiches gilt für die Menschenrechtsverteidiger. Allerdings fehlen die konkreten Taten und damit meine ich die Wiederherstellung des guten Leumunds der Menschenrechtsorganisationen, der Journalisten und Anwälte, die unter Álvaro Uribe Vélez als Feinde der Demokratie beschimpft wurden. Sie wurden systematisch stigmatisiert und delegitimiert und das ist in Kolumbien gleichbedeutend mit einer Todesdrohung. Auch die Medienkommission der Organisation Amerikanischer Staaten hat an die kolumbianische Regierung appelliert, den guten Ruf dieser Organisationen und Journalisten wieder herzustellen. Das ist bisher nicht geschehen. Für die Glaubwürdigkeit dieser Organisationen ist das aber durchaus wichtig.

Gibt es denn Signale, dass eine derartige offizielle Entschuldigung aus dem Präsidentenpalast kommen könnte?

Es hat in den ersten Monaten der Regierung derartige Signale gegeben, derzeit aber nicht. Grundsätzlich denke ich, dass der Präsident der Demokratie in Kolumbien einen Dienst erweisen könnte, wenn er sich dazu durchringen würde.

Glauben Sie, dass diese Regierung den Willen aufbringt, um die politischen Strukturen der letzten acht Jahre zu ändern?

Was ich registriere sind erhebliche Widersprüche im politischen Diskurs der Regierung. So hat Präsident Santos beim Regierungsantritt angekündigt, dass er die Justiz in Kolumbien respektieren werde. Im Mai hat er jedoch ein Urteil der Gerichte gegen den General Jesús Armando Arias Cabrales wegen Menschenrechtsverbrechen im Kontext der Erstürmung des Justizpalastes 1985 kritisiert.

Wie steht es um die Qualität der Presse in Kolumbien. Ist guter Journalismus dort noch möglich?

Mir gefällt, was die investigative Abteilung der Wochenzeitung »Semana« recherchiert, ich bin auch froh, dass die Tageszeitung »El Espectador« die Wikileaks-Depeschen erhalten hat und sie auswertet und publiziert. Es gibt nach wie vor gute Medien in Kolumbien, aber es müsste mehr und vor allem vielfältigere Medien geben. Kolumbien ist das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit, aber es gibt mit »El Tiempo« nur eine einzige überregionale Tageszeitung, zwei große Fernsehkanäle und zwei Radionetze. Das ist nicht sonderlich gesund für eine Demokratie. Aus meiner Sicht ist Kolumbien ein krankes Land, welches dringend medizinischer Hilfe bedarf.

Fragen: Knut Henkel

* Aus: Neues Deutschland, 24. September 2011

Die Begründung der Jury:

Die Jury möchte mit ihrer Entscheidung, den Kolumbianer Hollman Morris als Preisträger des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises 2011 auszuwählen, die Aufmerksamkeit auf die immer noch herrschende Gewalt und die Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien lenken. In Lateinamerika ist Kolumbien leider immer noch wie eine offene Wunde: Die große alltägliche Gewalt, die dort herrscht, fordert jedes Jahr Hunderte von Opfern, darunter auch viele Journalisten. Alle Konfliktparteien - die Sicherheitskräfte, paramilitärische und Guerillagruppen – sind für weit verbreitete und systematische Menschenrechtsverstöße sowie Verletzungen des humanitären Völkerrechts verantwortlich. Zudem sind immer noch Hunderte von Menschen weiterhin Gefangene der FARC, der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, und der ELN, der Nationalen Befreiungsarmee.

Der Journalist Hollman Morris macht mit bewundernswertem Mut und unter hohem persönlichem Risiko die Opfer des schrecklichen bewaffneten Konflikts in seinem Heimatland Kolumbien sichtbar und gibt ihnen in seinen Fernsehsendungen eine Stimme. Zudem tragen seine journalistischen Recherchen dazu bei, dass schreckliche Menschenrechtsverletzungen nicht straflos bleiben. Ermittler, Richter und Staatsanwälte benutzen seine Arbeiten als Beweismaterial. Für seine Beharrlichkeit bei der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen zahlt er einen hohen Preis. In den letzten zehn Jahren sind nicht nur Morris, sondern auch seine Familie immer wieder bedroht worden und waren mehrmals gezwungen, Kolumbien zu verlassen. Dies hält ihn aber nicht davon ab, weiterzuarbeiten und immer wieder auf Sendung zu gehen, um mit seinem Fernsehprogramm „Contravía“ (gegen den Strom) über Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Die Jury ehrt mit der Auszeichnung für Morris auch den unabhängigen und investigativen Journalismus, der als wachsamer Beschützer die Sache der Menschenrechte unterstützt. Zudem ist die Auszeichnung von Hollman Morris als eine Ermutigung an Journalisten auf der ganzen Welt zu verstehen, weiterhin über Menschenrechtsverletzungen zu berichten und so ihren Beitrag zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte zu leisten.
Nürnberg, 26. September 2010


Zur Person: Hollman Morris

Hollman Morris (geboren am 17. August 1968) machte seinen Abschluss in Sozialkommunikation und Journalismus an der Javeriana Pontifical Universität in Bogotá, Kolumbien. Seit über 15 Jahren arbeitet er als Journalist. Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn hat er sein Wissen über Konfliktlösung, bewaffnete Konflikte und Menschenrechte ständig erweitert.

Er begann seine Laufbahn beim Rundfunk als Reporter bei Radio Santa Fé und Todelar und ging dann zum Fernsehen, wo er als Reporter für verschiedene Nachrichtenmagazine tätig war und über die Themen Frieden und Menschenrechte berichtete. Er hat auch für die BBC, für Channel 4 und für Radio France Inter gearbeitet.

Im Jahr 2000 richtete Morris eine neue Abteilung zum Thema Frieden und Menschenrechte bei der überregionalen Zeitung "El Spectador" ein. Hier konzentrierte er sich auf Berichte über den bewaffneten Konflikt in Kolumbien aus der Perspektive der Menschenrechte. Im Zuge dieser Arbeiten schrieb er auch über Menschenrechtsverletzungen und sah sich schließlich, nachdem er Morddrohungen erhalten hatte, gezwungen, das Land zu verlassen. Diese Entscheidung wurde von Amnesty International unterstützt, das ihm und seiner Familie ein in Spanien angesiedeltes Programm für Menschenrechtsaktivisten anbot.

Nachdem er 2003 nach Kolumbien zurückgekehrt war, begann er sofort im Fernsehen das Wochenmagazin "Contravía" (Gegen den Strom) zu leiten. Das Programm wurde vom Andenprogramm der EU für Menschenrechte und Demokratie unterstützt. Dies ermöglichte ihm, eine Art von Journalismus zu entwickeln, der unabhängig war und sich darauf konzentrierte, den Vergessenen zu helfen und sich mit dem zu beschäftigen, was Morris "die andere Seite von Kolumbien" nennt.

Einer der wichtigsten Beiträge von Hollman Morris zu den Menschenrechten ist, dass er die Opfer des schrecklichen bewaffneten Konflikts in Kolumbien sichtbar gemacht hat und ihnen durch seine journalistische Arbeit eine Stimme gibt.Während der vergangenen sieben Jahre haben sich seine beinahe 300 Fernsehprogramme mit der Erinnerung an die Tragödie und an die Hoffnung im kolumbianischen Krieg beschäftigt. Viele führende Menschenrechtsaktivisten in Kolumbien halten sein Videoarchiv für eine wichtige Informationsquelle, die zum Verständnis der jüngsten Geschichte des Landes beiträgt.

Einige journalistische Recherchen von Morris haben dazu beigetragen, dass schreckliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen nicht mehr straflos geblieben sind. Einige seiner Arbeiten werden von Ermittlern, Richtern und Staatsanwälten als Beweismaterial benutzt. Der größte Beitrag, den seine Arbeiten geleistet haben, liegt jedoch darin, dass sie Teil der Geschichtsschreibung über die jüngste Vergangenheit Kolumbiens geworden sind und die Erinnerung an die Opfer und an die Menschenrechtsverletzungen im Land wach gehalten haben.

Diese ständige Anklagearbeit, die Suche nach der inoffiziellen Lesart hat dazu geführt, dass Morris und seine Familie in den letzten zehn Jahren immer wieder bedroht wurden. Außerdem hat der kolumbianische Präsident Uribe Morris bei verschiedenen Gelegenheiten beschuldigt, mit den Rebellen der FARC, der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, zusammenzuarbeiten. Morris sagt, dass er sich häufig mit der FARC getroffen hat, und zwar im Zusammenhang mit seiner Arbeit, der Berichterstattung über den Konflikt. Er gehörte auch zu der Gruppe von Journalisten, Richter und Oppositionspolitiker, deren Telefone illegal von der kolumbianischen Staatssicherheit DAS abgehört wurden. Beinahe zwei Dutzend frühere Mitarbeiter des DAS wurden wegen krimineller Verschwörung bei diesem Skandal verhaftet und warten auf ihr Gerichtsverfahren.

Im Mai 2010 wurde Morris als einer von 12 ausländischen Reportern ausgewählt, die an der Harvard University in das Nieman-Programm für das akademische Jahr 2010-2011 aufgenommen wurden. Das Programm der Nieman-Stiftung soll ausländischen Journalisten, eine sichere, wenn auch nur zeitweilige Zuflucht bieten, die zur Zielscheibe geworden sind, weil sie Diktatoren und privilegierte Oligarchen herausgefordert und in Frage gestellt haben. Ihm wurde jedoch gemäß dem Abschnitt "terroristische Aktivitäten" der amerikanischen Patriot Act das Visum für die USA verweigert. Diese Entscheidung wurde von Einzelpersonen und Gruppen weithin verurteilt, unter anderem vom Komitee zum Schutz von Journalisten und von Human Rights Watch. Ende Juli 2010 widerrief das amerikanische Innenministerium die Entscheidung, ihm das Visum zu verweigern, und Hollman Morris konnte mit seiner Familie in die USA einreisen, wo er im Augenblick lebt.

Auszeichnungen
  • 2010: Chavikin Preis für Journalismus, Nacla, New York
  • 2007: Menschenrechtsverteidiger, Human Rights Watch, New York
  • 2007: Nuevo Periodismo Iberoamericano, García Márquez Foundation, Monterrey
  • 2007: Circulo de Periodistas de Bogota, Bogotá
Quelle: Website der Stadt Nürnberg; www.nuernberg.de




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