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Unser Star für Oslo

Nächstes Jahr die NATO


Krieg heißt Frieden – die Europäische Union läßt sich heute in Oslo mit dem entsprechenden Preis auszeichnen. Auch Kanzlerin Angela Merkel reist an, bevor sie Bundeswehrsoldaten und Raketen zur »Friedenssicherung« an die syrische Grenze kommandiert ... In keinem der aktuellen militärischen Konflikte hat die EU einen deeskalierenden Beitrag geleistet. Im Gegenteil. Dafür bekommt sie heute den Friedensnobelpreis.

Von Gregor Schirmer *

Von dem römischen Dichter Juvenal aus der Zeit der Kaiser Trajan und Hadrian ist ein berühmtes Wort überliefert: »Dificile est satiram non scribere« – »Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben«. Das kommt mir in den Kopf, wenn ich anfange, über den Friedensnobelpreis für die Europäische Union zu räsonieren, der heute in Oslo in Anwesenheit des norwegischen Königs mit großem Brimborium an die EU-Oberen übergeben wird. Es ist wirklich ein perverser Witz, daß eine Staatenorganisation den Preis erhält, die in der gegenwärtigen Krise mit ihrer gnadenlosen Austeritätspolitik einen Krieg gegen die kleinen Leute zugunsten der großen Banken führt und dabei die Souveränität von Mitgliedstaaten mit Füßen tritt. Und noch ein delikater Witz: Das Nobelpreiskomitee Norwegens wirft den Preis einer Organisation hinterher, der das Königreich nicht beitritt, weil die Norweger in Volksabstimmungen Nein gesagt haben und wohl weiter Nein sagen werden.

In seinem Testament hat Alfred Nobel verfügt, daß der Preis »an diejenigen ausgeteilt werden« soll, »die im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht haben«. Das vergangene Jahr war das Jahr 2011. Welchen konkreten Nutzen für den Frieden hat da die EU der Menschheit erbracht? In keinem der aktuellen militärischen oder gewaltträchtigen Konflikte – Irak, Afghanistan, Iran, Israel–Palästina, Libyen – hat die EU 2011 einen deeskalierenden und friedensfördernden Beitrag geleistet. Den Krieg in Libyen hat die EU gutgeheißen. Die meisten EU-Mitglieder haben sich aktiv daran beteiligt. Der EU-Rat hatte mit Zustimmung Deutschlands den Beschluß gefaßt, an der Seite der NATO militärisch einzugreifen – zur »Unterstützung der humanitären Hilfe« versteht sich, wenn die UNO darum ersucht. Es kam nicht dazu, weil mit der Tötung Muammar Al-Ghaddafis die Angelegenheit als siegreich erledigt schien. Ins Jahr 2011 fallen die schlimmen Flüchtlingsdramen im Mittelmeer, an denen die restriktive Einwanderungspolitik der EU ein großes Stück Mitschuld trägt. Vor Lampedusa sank ein Flüchtlingsboot mit 300 Insassen. 250 von ihnen ertranken. Auf dieser kleinen Insel waren 2600 Flüchtlinge unter unwürdigen Umständen eingequetscht, weil die EU-Staaten sie nicht aufnehmen wollten. In die im März 2011 begonnenen innersyrischen Auseinandersetzungen hat die EU mit Sanktionen gegen Präsident Baschar Al-Assad einseitig Partei ergriffen.

Nach dem Testament Nobels soll der Preis an denjenigen gehen, »der am meisten oder am besten auf die Verbrüderung der Völker und die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere und das Abhalten von Friedenskongressen hingewirkt hat«. Die EU hat auf das Gegenteil »hingewirkt«. Im vergangenen Jahr dauerten Militäreinsätze der EU in Bosnien-Herzegowina und vor der Küste Somalias an, ebenso wie eine Polizeimission in Afghanistan und eine gemischte Polizei-Justiz-Mission in Kosovo in enger Zusammenarbeit mit der NATO. Statt »Verminderung stehender Heere« Ausbau der EU-Battle-groups. Im Lissabonner Vertrag ist die Aufrüstung zur Grundpflicht ihrer Mitglieder gemacht worden, und diese sind ihrer Pflicht im Jahr 2011 mit Militärausgaben in der Höhe von 281 Milliarden Dollar getreulich nachgekommen. Die Krise hat zwar zu einer Senkung von acht Milliarden seit 2008 gezwungen. Aber der Mißbrauch von Steuergeldern fürs Menschenmorden und Güterzerstören ist immer noch erschreckend hoch. Das gebeutelte Griechenland hat im vergangenen Jahr 4,9 Milliarden Dollar fürs Militär hinausgeschmissen. Es war bislang nicht zu hören, daß Europäischer Rat, EU-Kommission und Europäische Zentralbank gedrängt hätten, am griechischen Militärhaushalt zu sparen. Im Jahr 2011, das für die diesjährige Preisverleihung maßgebend sein soll, hat die EU weiß Gott keinen Beweis für ihre Preiswürdigkeit geliefert.

Ständiger Friedenskongreß

Aber die norwegischen Preisverleiher nehmen es mit dem Testament nicht so genau. Sie vergeben den Preis nicht für im Vorjahr Vollbrachtes, sondern weil die EU und ihre Vorgänger »über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen« haben. »Seit 1945 ist diese Versöhnung Wirklichkeit geworden.« Sie sehen die Arbeit der EU als eine Art ständigen Friedenskongreß im Sinne Nobels. »Das norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens.« Lenken wir also unseren Blick ins Grundsätzliche.

Erstens. Ich betrachte es als eine zivilisatorische Errungenschaft des kapitalistischen Staatenverbunds EU und seiner Völker, die hoch gewertet werden muß, daß Kriege und militärische Auseinandersetzungen zwischen seinen Mitgliedstaaten als ausgeschlossen gelten können, jedenfalls gegenwärtig und in absehbarer Zukunft. Der Frieden als Abwesenheit von Anwendung und Androhung militärischer Gewalt im Verhältnis der ansonsten zerstrittenen EU-Staaten erscheint als ein großer historischer Fortschritt, wenn man bedenkt, daß das, was wir heute Europa nennen, über zwei Jahrtausende Schauplatz verheerender gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Staaten und Völkern war, im letzten Jahrhundert mit 72 Millionen Toten Soldaten und Zivilisten in zwei Weltkriegen. Ob das immer so bleibt, ist fraglich.

Zweitens. Ganz so friedlich und gewaltlos ging es in den über sechs Jahrzehnten in der EU und ihren Mitgliedstaaten durchaus nicht zu. In der Gegenwart schmoren gewaltträchtige Gegensätze um Sezessionsbestrebungen von Landesteilen in Belgien, Großbritannien und Spanien, der Streit Ungarns mit Rumänien und der Slowakei um Minderheitenschutz und der Konflikt auf Zypern zwischen Süd und Nord.

Drittens. Das Nobelkomitee lobt die Erweiterung der EU seit den 80er Jahren und sieht nicht, daß die Begeisterung für die Aufnahme neuer Mitglieder erloschen ist. Die schon beschlossene Mitgliedschaft Kroatiens ist nicht mehr sicher. Die Beitrittsverhandlungen mit den ausgewählten Kandidaten Island, Mazedonien, Montenegro, Serbien und der Türkei schleppen sich hin. Vor der Tür stehen Albanien, Bosnien-Herzegowina und das rechtswidrig von Serbien abgespaltene Kosovo – alle mit wenig Aussicht auf Einlaß. Ein Beitrag der EU zur »Aussöhnung auf dem Balkan« ist schwer auszumachen, eher schon der Beitrag zum Zerfall Jugoslawiens und zu den Balkankriegen.

Viertens. Europa ist keineswegs durch wohltuendes Wirken der EU zu einem »Kontinent des Friedens« geworden. Im »Rest« Europas gibt es virulente oder akute Konflikte, an denen die EU und viele ihrer Mitgliedstaaten mehr oder weniger aktiv beteiligt sind: Die baltischen Staaten gegen Rußland, Griechenland gegen die Türkei, Mazedonien und Albanien; einseitige Parteinahme der EU gegen Rußland in den Konflikten im Kaukasus und in dem immer wieder aufflammenden Erdölstreit mit der Ukraine.

Fünftens. Die begrüßenswerte Reise-, Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit im Innern der EU, vor allem im Schengen-Raum, ist mit einer menschenverachtenden Abschottung gegen unwillkommene Zuwanderer verkoppelt. Die Außengrenzen der EU sind mit schwer überwindbaren Sperren versehen. Die EU-Agentur FRONTEX hilft mit allen Mitteln, daß die Sperren halten. Die Zahl der beim Versuch, in die EU zu kommen getöteten Menschen geht in die Zehntausende. Nach »Fortress Europe« sind an und vor den Grenzen der EU zwischen 1988 und 2008 mindestens 14714 Menschen getötet worden.

Aggressiv nach außen

Sechstens. Der relative Frieden innerhalb der Union steht im groben Kontrast mit einer imperialistischen militärischen und »zivilen« Aggressivität nach außen. Die EU hat bisher 25 militärische und Polizei-»Missionen« durchgeführt und bereitet gegenwärtig eine neue in Mali vor. Angeblich waren und sind das »friedenerhaltende oder friedenschaffende« und völkerrechtlich zulässige Aktionen, in Wirklichkeit völkerrechtswidrige, zumindest rechtlich bedenkliche und interventionistische Gewaltakte. Nein, ein »Friedensverfechter«, wie ihn Nobel für seinen Preis haben wollte, ist die EU nicht.

Siebentens. Nun überschreite ich die Grenze zur Satire: Den Friedensnobelpreis verdient ebenso sehr die NATO. Schade, daß der Preis nicht postum verliehen wird, sonst wäre auch der Warschauer Pakt dran. Das atomar und konventionell bewaffnete Patt der beiden spinnefeindlichen Militärorganisationen hat nämlich bewirkt, daß es in Europa zwischen Ost und West 40 Jahre lang einigermaßen friedlich-koexistentiell zuging.

* Gregor Schirmer ist Professor für Völkerrecht. Er war Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen der DDR und Stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der SED. Im Verlag Edition Ost ist von ihm »Der Aufstieg der EU zur Militärmacht: Eine politisch-juristische Streitschrift« erschienen (256 Seiten, 12,95 Euro).

Aus: junge Welt, Montag, 10. Dezember 2012

Lesen Sie auch das Essay:

Friedensnobelpreis 2012: Obama noch getoppt
Von Peter Strutynski (19. Oktober 2012)




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