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Nobelpreisträger soll vom Kaßberg weichen

Chemnitzer Schule soll den Namen Pablo Nerudas verlieren / Stadtrat entscheidet morgen (25. April)

Von Hendrik Lasch, Chemnitz *

Eine Chemnitzer Schule soll, so wollen es ihre Gremien, nicht mehr nach dem Dichter Pablo Neruda heißen. Es gibt starken Protest. Ob der Stadtrat morgen zustimmt, ist völlig offen.

Fast klingt die Gedichtzeile wie ein Rätsel für Kinder: »Du machst uns weinen, ohne uns zu betrüben.« Es ist die Zwiebel, die Pablo Neruda in einer anrührenden Ode besang und als »rundliche Rose von Wasser auf dem Tisch der armen Leute« pries. Auch Katzen, Kartoffeln oder Fahrrädern widmete der chilenische Nobelpreisträger Oden – und selbst der Luft. »Gib acht!, dass sie dich nicht zu Tabletten verarbeiten«, wird diese gemahnt – sie würde sonst noch verkauft.

Schule behält ihren Namen

Letzte Meldung: Stadtrat lehnt Antrag auf Umbenennung mit großer Mehrheit

Die Pablo-Neruda-Schule in Chemnitz behält ihren Namen. Der Antrag auf Umbenennung ist am Mittwoch, 25. April, im Stadtrat mit einer deutlichen Mehrheit abgelehnt worden. 37 Räte stimmten gegen die Namensänderung in Grundschule Kaßberg. Lediglich neun Räte sprachen sich für die Umbenennung aus, sechs enthielten sich der Stimme.
(Quelle: Freie Presse, 26. April 2012)



Luft als Tablette, Zwiebeln im Rätsel – Nerudas Lyrik würde Kindern Spaß machen. In der Schule auf dem Kaßberg in Chemnitz, die den Namen des Dichters trägt, kennt man die Oden indes wohl nicht. So kam die Schulkonferenz im November zum Schluss, Nerudas Texte »mit meist politischem Inhalt« wendeten sich hauptsächlich an Erwachsene. Das Gremium beantragte deshalb, den Namen durch »Grundschule Kaßberg« ersetzen zu dürfen. Morgen soll der Stadtrat entscheiden.

Die Absicht ist nicht neu: Schon 2002 und 2003 gab es Vorstöße. Im Stadtrat galt die Ablehnung damals aber als sicher. Derzeit wird die Schule, die 1973 eingeweiht wurde, renoviert. Sie soll im Sommer 2012 wieder bezogen werden – mit neuem Namen. Zwar hat sich die Schule selbst das Motto »Einander begegnen – einander verstehen« gegeben und setzt ihre Akzente im sprachlichen und musischen Bereich. Vom Namen Nerudas indes will man sich trennen. Eine Nachfrage des »nd« zu Gründen blieb unbeantwortet.

Die schriftlich mit dem Beschluss der Schulkonferenz gelieferte Begründung strotzt freilich von Unwissenheit und Fehlern. So wird behauptet, Neruda sei »in der damaligen DDR bekannt gemacht« worden »durch sein Engagement als Schriftsteller gegen die Militärdiktatur in Chile«. Der Verein »Amistad«, in dem Lateinamerikaner und Deutsche in Chemnitz mitarbeiten, merkt aber an, Neruda habe den Nobelpreis zwei Jahre vor dem Putsch vom September 1973 erhalten – und sei zwölf Tage nach diesem an Krebs gestorben. Für »bedauerlich« hält der Verein die Behauptung, die Schüler hätten »keinen altersmäßigen Bezug« zu Neruda, der Sohn einer Volksschullehrerin und Student an einem pädagogischen Institut war.

Der Verein »Amistad« ist nicht der einzige, der zu einer Revision der Entscheidung mahnt. In einem offenen Brief an die Stadträte betonen namhafte Chemnitzer Kulturschaffende, eine Schule mit Nerudas Namen sei »eine Bereicherung für unsere kulturell vielfältige Stadt«; und die Entdeckung seiner Werke sei »eine unerwartet spannende Reise«, auf die auch Kinder gehen könnten. Den im Internet veröffentlichten Brief haben mittlerweile 346 Unterstützer aus der Bundesrepublik und dem Ausland unterschrieben. Mitinitiatorin Sabine Kühnrich betont, der Stadt sei »Provinzialität fremd«. Man müsse, fügt die Sängerin hinzu, daher einen »kulturellen Tiefschlag« verhindern, der mit der Tilgung des Namens eines Nobelpreisträgers verbunden wäre.

Wie der Stadtrat auf diese Forderungen reagiert, gilt als offen. Der Schulausschuss, der vergangene Woche bereits über den Antrag beriet, lehnte diesen mit der Mehrheit von LINKE, Grünen und SPD ab. Allerdings sind die Mehrheitsverhältnisse im Rat nicht eindeutig. Die LINKE will morgen darauf drängen, über die Angelegenheit überhaupt nicht abzustimmen und den Antrag von der Tagesordnung zu nehmen. Sollte der Stadtrat freilich zustimmen, hätte das Kultusministerium in Dresden das allerletzte Wort.

Bleibt der Schule indes der Name erhalten, müsste sie doch nach Möglichkeiten suchen, den Dichter ihren Schülern nahe zu bringen. Helfen könnte ein Spiel mit dem Titel »Encuentro con Neruda«, das im Internet zu bestellen ist. Es listet auf dreisprachigen Kärtchen 100 der phantasievoll-naiven Fragen des Dichters auf, die Nerudas Witwe in einem »Buch der Fragen« zusammengetragen hat – und zu denen Schüler in Chile schon viele Antworten sammelten. Geeignet ist es auch für Erwachsene. »Der Mensch, der nicht spielt«, schrieb Pablo Neruda schließlich, »hat für immer das Kind verloren, das in ihm lebte und das ihm sehr fehlen wird.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. April 2012

Dokumentiert:

Offener Brief (Chemnitz, 16. April 2012)

Pablo-Neruda-Grundschule: Antrag auf Änderung des Schulnamens

Sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte,

für reichlich Irritation und Verwunderung hat bei den Brief-Unterzeichnern der Beschluss der Schulkonferenz der Pablo-Neruda-Grundschule gesorgt, einen Antrag auf Namensänderung an das Schulverwaltungsamt zu stellen, um den Namen des Literaturnobelpreisträgers abzustreifen und fortan "Grundschule Kaßberg" heißen zu dürfen.

Wahrscheinlich werden Sie, sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte, schon in einer der nächsten Ratssitzungen über diesen Antrag zu entscheiden haben. Deshalb möchten wir, als Vertreter der Chemnitzer Kunst- und Kulturlandschaft, Ihnen auf diesem Wege einige Argumente überbringen, die für die Beibehaltung des Schulnamens "Pablo Neruda" sprechen.

Pablo Neruda, Sohn einer Volksschullehrerin und eines Lokomotivführers, geboren 1904, gestorben 1973, erlangte Weltruhm für seine Verse, die er in spanischer Sprache schrieb. 1971 verlieh man ihm den Nobelpreis für Literatur, "für eine Poesie, die mit der Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht“.

Was hat das nun alles mit Chemnitzer Grundschülern zu tun. Die Benennung einer Schule nach einem der bedeutendsten Dichter dieser Erde, ist nicht nur eine Würdigung des Künstlers, sondern sendet auch einen Reiz aus an die, welche täglich in die Schule hinein oder an ihr vorbei gehen.

Wer war Pablo Neruda? Wer diese Frage stellt und versucht, sie sich zu beantworten, wird eine unerwartet spannende Reise unternehmen, in ein Land mit außergewöhnlichen Formen, geprägt von den Bergketten der Anden und Kordilleren, mit Pflanzen und Tieren, die wir in Europa nur aus Bilderbüchern kennen – oder eben aus den poetischen Werken von Pablo Neruda. Wäre es nicht spannend für 6-9 Jährige, mit Hilfe von Landkarten, Globen, Bildern und Geschichten, diese Reise zu unternehmen? Ist das wirklich eine unzumutbare Herausforderung für Eltern und Lehrer?

Wer die Natur, die Geschichte und die Kultur Chiles und des lateinamerikanischen Kontinents verstehen lernt, lernt auch Neruda zu verstehen. Gewiss, er ist kein Kinderbuchautor und viele seiner Texte sind so metaphernreich, dass es auch Erwachsenen manchmal schwer fällt, alles bis ins kleinste Detail zu begreifen. Doch das ist auch bei anderen berühmten Dichtern der Fall. Pablo Neruda ist der Nationaldichter Chiles, also das was Goethe und Schiller für die deutsche Literatur, Puschkin für die russische oder Shakespeares für die englische darstellen.

Wer oder was stellt Kindern eigentlich einen altersgemäßen Bezug zu den Dingen und Namen her, die sie umgeben? Zuallererst sie selbst, in dem sie sich auf gedankliche und praktische Exkursionen begeben, die Dinge untersuchen und Fragen stellen. Diese Fragen können die Großen ab und zu eiskalt erwischen, nämlich dann, wenn sie auch keine Antworten darauf haben. Aber sollten wir den Kindern nicht wenigstens die Wege zeigen, die zu Antworten führen? Könnten wir ihnen diese Wege vielleicht vereinfachen, z.B. in dem zu der am Schuleingang befindlichen Bronzetafel mit dem Portrait von Neruda auch eine Beschreibung seines Lebensweges aufgestellt wird? Vielleicht kommen sie dann, die altersgemäßen Fragen: Was ist ein Schriftsteller, ein Konsul, ein Poem? Wo liegt Chile? Warum gab es in Spanien einen Krieg der Bürger? Was hat das mit Faschismus zu tun – der war doch in Deutschland?

Und eben: Wer war Pablo Neruda? Aus einem anderen Blickwinkel lautet die Antwort: Einer, der Zeit seines Lebens gegen Faschismus und Unterdrückung kämpfte – literarisch und politisch. Er half Etlichen, die vor den Faschisten aus Europa fliehen mussten. Wo wären wir heute, hätte es damals nicht weltweit klare menschliche und politische Bekenntnisse gegen Menschenverachtung und Krieg gegeben? Und heute stellen wir bestürzt fest, dass es immer noch Anhänger des faschistischen Weltbildes gibt, das diese öffentlich zur Schau tragen, sogar vor Mord nicht zurückschrecken. Die Bedeutung und die Hilfe einer weltweiten antifaschistischen Bewegung – das ist Kindern nicht vermittelbar? Die Aufklärung über die heutigen Nazis und ihre Symbolik – nicht altersgemäß? Die Bilder der von Chemnitzer Schülern gestalteten Galerie am 5. März auf dem Neumarkt teilten uns etwas anderes mit: Aus einer globalen Perspektive wagten sie den Blick auf eine bunte, solidarische Welt in klarer Abgrenzung zu Krieg und braunem Gedankengut.

Eine Schule namens "Pablo Neruda" ist eine Bereicherung für unsere, kulturell vielfältige Stadt. Der Name - eine Herausforderung an die, die in ihr lehren und lernen und an uns, die wir die Sinnbilder für Weltoffenheit in unserer Stadt erhalten wollen und ihnen hoffentlich noch viele hinzufügen werden.

In diesem Sinne laden wir Sie sowie die Lehrer und Schüler der Pablo-Neruda-Grundschule ein, gemeinsam mit uns aufzuspüren, was Chemnitz mit dem Dichter Neruda verbindet.

Der Leitgedanke der Pablo-Neruda-Grundschule: "Wir tolerieren und akzeptieren andere Kulturen unserer Mitschüler und lernen andere Kulturen kennen" wird uns dabei helfen.

Mit freundlichen Grüßen

Die Unterzeichner:
Hartwig Albiro (ehem. Schauspieldirektor)
Michael Backhaus (Fotograf)
Prof. Karl Clauss Dietel (Formgestalter)
Peer Ehmke (stellv. Leiter des Schloßbergmuseums)
Sabine Kühnrich (Sängerin u. darstellende Künstlerin; KleinKunstTheater FATA MORGANA/ QUIJOTE)
Natacha Matzen Bravo (Chilenin; war mit Neruda bekannt; Lehrerin für Spanisch in Chemnitz)
Dr. Karl-Hans Möller (Chefdramaturg und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit Landesbühnen Sachsen)
Pedro Montero Pérez (Vorsitzender des Ausländerbeirates; Musiker)
Franzpeter Müller-Sybel (ehem. Leiter der Singakademie Karl-Marx-Stadt/ Chemnitz)
Ulrike Richter (bildende Künstlerin und Kulturbeirätin in Chemnitz)
Günter Saalmann (Schriftsteller und Musiker)
Hartmut Schill (erster Konzertmeister der Robert-Schumann-Philharmonie)
Ludwig Streng (Musiker und Kabarettist; KleinKunstTheater FATA MORGANA/ QUIJOTE)
Steffen Volmer (Grafiker)

[Es folgen hunderte von Unterzeichner/innen aus dem ganzen Land; hier können Sie die vollständige Liste einsehen: http://bv-fuer-chemnitz.org




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