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Afghanistans weiblicher Rushdie

Die Menschenrechtlerin Sima Samar ist bei den Kriegsherren verhasst, der Preis ist auch ein Schutz für ihr Leben

Von Thomas Ruttig, Kabul *

Die afghanische Menschen- und Frauenrechtsaktivistin Sima Samar leitet die Afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC). Während die 55-jährige Ärztin aus Jaghori in der Provinz Ghazni in Stockholm den alternativen Nobelpreis erhält, kämpft die AIHRC um ihr Überleben.

Sie ist die unabhängige Stimme der zahlreichen Opfer von Kriegsverbrechen in Afghanistan: Die Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) – seit fast 40 Jahren. Wie lange noch, ist offen. Präsident Hamed Karzai, der die neun AIHRC-Kommissare ernennt, hatte bereits Ende vorigen Jahres die drei mutigsten von ihnen entlassen, ohne ihre Positionen neu zu besetzen. Zwei weitere Sitze sind vakant, einer davon, weil die Inhaberin Hamida Barmaki Anfang 2011 bei einem Bombenanschlag der Taliban ums Leben kam.

Die Leiterin der AIHRC, Sima Samar, hat bisher versucht, ein Mitspracherecht bei den Neubesetzungen in ihrer Kommission durchzusetzen. Aber es scheint, dass sie den Kürzeren zieht und womöglich gar ihr Amt niederlegt. Die in Kabul kursierenden Namen der fünf möglichen Neuen machen tatsächlich wenig Mut: Zwei Kandidaten haben keinerlei menschenrechtlichen Hintergrund, eine Kandidatin gehört einer Warlord- Fraktion an, Kandidat Nummer vier hatte Samar wegen rufschädigenden Verhaltens sogar schon einmal aus der Kommission werfen müssen und über den Hintergrund des Fünften gibt es widerstreitende Informationen.

Die Fragezeichen hinter dem Fortleben der Samar-Kommission symbolisiert die ganze Ambivalenz der Entwicklung, die ihr Heimatland in den Jahren seit dem Sturz des Taliban-Regimes durchgemacht hat: Während sie im Ausland und in der afghanischen Menschenrechtsszene hoch angesehen ist, schlägt ihr aus Teilen der Regierung in Kabul blanker Hass entgegen – und zwar von Anfang ihrer politischen Karriere an.

Die begann für sie völlig überraschend. Bei der Bonner Konferenz Ende 2001, die den politischen Fahrplan für das Nach-Taliban- Afghanistan festlegte, setzte eine der vier afghanischen Fraktionen Samars Namen auf die Liste von zehn Kandidaten, die der UNVermittler Lakhdar Brahimi angefordert hatte und aus der er eigenhändig das künftige Übergangskabinett zusammenstellte. Niemand hatte sie zuvor gefragt, und es war die BBC, die ihr die Neuigkeit überbrachte, dass sie nun nicht nur das neu geschaffene Amt einer Ministerin für Frauenangelegenheiten bekleiden, sondern auch einer von vier Vizeregierungschefs sein solle.

Zuvor hatte sich Samar mit der von ihr 1989 gegründeten Hilfsorganisation Shuhada (»Die Opfer«) einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Von der pakistanischen Stadt Quetta aus richtete sie Schulen und Hospitäler vor allem im Gebiet der Hazara-Bevölkerung ein, zu der Samar selbst gehört. Als Schiiten auch religiös eine Minderheit, hatten die Hazara immer auf der untersten Stufe der sozialen Pyramide Afghanistans gestanden. Unter den Königen, die bis 1973 herrschten, blieben ihnen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – hohe Ämter in Militär und Staatsdienst versperrt. Als eine 1978 durch einen Putsch an die Macht gekommene Linksregierung dies änderte, setzte unter den Hazara ein regelrechter Bildungsboom ein, der bis heute anhält. Samar und Shuhada haben dafür mit den Grundstein gelegt.

Kaum war sie im Ministeramt, schossen sich die afghanischen Warlords auf Samar ein. Als Hazara, Frauenrechtlerin und maoistischer Sympathien verdächtig – ihr Mann, von der Regierung verschleppt und seither verschwunden, hatte dieser politischen Richtung angehört –- war sie ihnen zutiefst suspekt. Schon 2002 wurde sie öffentlich als »afghanischer Rushdie« geschmäht und damit für einen Mordanschlag freigegeben. Samar nahm sich Leibwächter und machte weiter. Bei einer Kabinettsumbildung wurde sie nicht mehr berücksichtigt und wechselte an die Spitze der AIHRC. Samar und die Kommission setzten Meilensteine. In ihrem Bericht »Ein Ruf nach Gerechtigkeit« wiesen sie nach, dass drei Viertel der Afghanen die Verbrechen der Vergangenheit nicht einfach vergessen, die größten Missetäter vor Gericht, aber nicht in politischen Ämtern sehen wollten. Sie legten sich auch mit der NATO an, dokumentierten Fälle, in denen bei Militäroperationen Zivilisten zu Schaden kamen, und zwangen die Militärallianz zu mehr Transparenz und einer ganzen Reihe von Veränderungen in ihrem operativen Vorgehen.

Bedauern an ihrer Auszeichnung kann man nur, dass sie nicht schon früher gekommen ist und Samar heute nicht den »richtigen« Nobelpreis erhält. Das hätte noch stärkeres Licht auf die bedrohliche Lage in Afghanistan geworfen – was wohl ganz in ihrem Sinne gewesen wäre.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 07. Dezember 2012


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