Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Laudatio zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2011 in der Aula Carolina, Aachen

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde des Aachener Friedenspreises, und besonders: liebe Preisträgerinnen und Preisträger!

Heute ist Antikriegstag. Wie jedes Jahr werden wir an den Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert, der mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 begonnen hatte. Seit über fünf Jahrzehnten – genauer: seit der Wiederbewaffnung Westdeutschlands 1956 - gehört dieses Datum unter dem Motto "Nie wieder Krieg" zum festen Bestandteil des Friedenskalenders.

Es ist sinnvoll und gut, dass der Aachener Friedenspreis an diesem symbolträchtigen Tag verliehen wird. Und es ist überaus bedeutsam und zudem hochaktuell, dass dieses Jahr herausragende Rüstungsgegner und Friedensaktivisten diesen renommierten Friedenspreis erhalten. Gerade in einer Zeit, in der wir eine fortschreitende Militarisierung der Außen- und Innenpolitik zu beklagen haben, gerade in einer Zeit, in der der deutsche Waffenhandel umgebremst floriert, soll von dieser Verleihung hier in Aachen ein starkes Signal ausgehen: gegen Militarisierung, gegen Rüstungsexporte und Krieg - für Frieden, Menschenrechte und Demokratie.

Hier sind sie nun, unsere diesjährigen Aachener Friedenspreisträger, die in besonderem Maße für eine solche Haltung, für eine solche Politik stehen und sich dabei große Verdienste erworben haben:
  • Erstens: Jürgen Grässlin aus Freiburg und
  • zum zweiten: die Informationsstelle Militarisierung e.V. aus Tübingen mit ihren Vorstandsmitgliedern Michael Haid, Claudia Haydt, Christoph Marischka, Tobias Pflüger, Dr. Andreas Seifert und Jürgen Wagner.

I. Lassen Sie mich mit Jürgen Grässlin beginnen: Sein Coming out als Rüstungsgegner erlebte er ausgerechnet bei der Bundeswehr, als er während der Grundausbildung zwischen die Augen von Pappkameraden zielen sollte, die „aussahen wie Chinesen“, jedenfalls diesem Stereotyp und damaligen Feindbild entsprachen. Er verweigerte sich. Wir lernen daraus: Im Einzelfall kann selbst die Bundeswehr auf junge Menschen segensreich wirken. Jürgen Grässlin ist seit 1982 Realschullehrer im Freiburger Schuldienst und unterrichtet Deutsch, Geografie und Kunst. Er ist verheiratet mit Eva, seiner „besten Freundin“, wie er betont, die ihn in seinem friedenspolitischen Engagement stützt und bestärkt; und er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Seit den 1980er Jahren arbeitet er neben seinem vollen Deputat, so heißt es in der Verleihungsbegründung,

„mit beeindruckender Energie und Unermüdlichkeit für den Frieden, vor allem für Verbote von Rüstungsproduktion und -exporten“.

Tatsächlich wird er nicht müde, in seinen Publikationen und Reden über die verheerenden Folgen dieses todbringenden Wirtschaftszweiges aufzuklären und darüber hinaus für eine konsequente Konversion der Waffen- und Rüstungsproduktion sowie für die Aufnahme eines generellen Waffenexportverbots im Grundgesetz zu streiten.

Warum dies gerade hierzulande von höchster Bedeutung ist, zeigt das „Ranking“ auf dem internationalen Militärmarkt: Deutschland ist der größte Rüstungsexporteur Europas und der drittgrößte weltweit, hinter den USA und Russland und vor Großbritannien, Frankreich und China. Die deutschen Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern - also von U-Booten und Kriegsschiffen, Kampfjets und Militärhubschraubern, Panzern und Raketenwerfern, Bomben und (Streu-)Munition, Sturmgewehren und Maschinenpistolen - haben sich in den letzten Jahren sogar verdoppelt. Zu den Empfängern zählen auch Staaten in Konflikt- und Kriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens sowie menschenrechtsverletzende Regime etwa Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Die skandalösen Genehmigungen durch den Bundessicherheitsrat, die den eigenen menschen- und völkerrechtlichen Grundsätzen zuwiderlaufen, zeigen, wie überaus aktuell und brisant diese Problematik ist – aber auch wie verhängnisvoll und existentiell für potentiell Betroffene, für Oppositionelle, für Menschenrechts- und Demokratiebewegungen in den jeweiligen Zielländern.

„Rüstungsexporte sind wegen ihrer riesigen Opferzahlen der schlimmste Auswuchs deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik. Wir laden massiv Schuld auf uns. Das lässt sich in einer Gesellschaft mit unseren Werten nicht rechtfertigen“,

so mahnt Jürgen Grässlin, den die Wochenschrift „Die Zeit“ als „Deutschlands bekanntesten Rüstungsgegner“ bezeichnet. Andere sprechen vom „David der Pazifisten“ im Kampf gegen den „Goliath der Kapitalisten“. Jürgen Grässlin ist Autor zahlreicher Sachbücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik und hat sich dabei auch intensiv mit dem Daimler-Konzern beschäftigt und angelegt, der über seine Beteiligung an der multinationalen Waffenschmiede EADS auch an Rüstungsproduktion und –handel maßgeblich beteiligt ist.

Jürgen Grässlin sitzt aber nicht nur am heimischen Schreibtisch in Freiburg, schreibt Bücher oder referiert in geschützten Räumen über seine Erkenntnisse. Nein, er geht auch vor Ort in ferne Länder, dorthin, wo deutsche Waffen ungeheueres Unheil stiften, dorthin, wo Menschen zu Opfern deutscher Kleinwaffen werden, dorthin, wo Verletzte, Tote und ihre Hinterbliebenen zu finden sind - wie etwa in die Türkei nach Türkisch- Kurdistan, wo türkische Streitkräfte Waffen aus Deutschland gegen die kurdische Zivilbevölkerung einsetzen, oder nach Somalia, wo mit dem deutschen G3-Gewehr schlimmste Massaker angerichtet wurden. In Somalia besuchte Jürgen Grässlin Flüchtlingslager und Behinderten-Anstalten, dort ging er auch voller Entsetzen über Massengräber, aus denen Knochen und Schädel ragten. In Somalia ist er, wie er sagt, außer dem Hungertod auch dem Gewehrtod hautnah begegnet. Er hat beklemmende Interviews geführt mit mehr als 220 Überlebenden des Einsatzes von so genannten Kleinwaffen made in Germany – den „Massenvernichtungswaffen unserer Zeit“, wie Jürgen Grässlin Mörser, Maschinenpistolen und -Gewehre nennt. Denn:

„zwei von drei Opfern sterben in Kriegen und Bürgerkriegen durch den Einsatz von Gewehren“.

Fast alle Überlebenden, mit denen er sprach, seien schwer traumatisiert, viele verstümmelt und vertrieben, haben Mütter, Väter, Geschwister oder Kinder verloren. Aus diesen entsetzlichen Einblicken, die ihn selbst verändert haben, entstand sein Buch „Versteck Dich, wenn sie schießen“ (2003) - sein „Herzensbuch“, wie er sagt, das den namenlosen Opfern deutscher Waffenpräzision Gesicht und Stimme geben soll. Fast unwillkürlich fühlt man sich dabei an Paul Celans „Todesfuge“ erinnert:

„der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau“.

Und kehrt Jürgen Grässlin von solchen Erkundungsreisen zurück nach Deutschland, dann nennt er die Verantwortlichen für Waffenproduktion und Rüstungsexporte offen und zielgenau mit Namen und Adresse: so etwa die Heckler & Koch GmbH - „Deutschlands tödlichstes Unternehmen“, wie Jürgen Grässlin die Waffenschmiede im schwäbischen Oberndorf am Neckar bezeichnet, wo zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, also „weit ab vom Schuss“, ein Großteil jener rund zehn Millionen Waffen produziert wurde, die bis heute nach Grässlins Berechnungen mehr als anderthalb Millionen Menschen getötet und weit mehr noch verstümmelt haben.

„Wie die Pest im Mittelalter wütete der Heckler-Waffenvirus in den vergangenen Jahrzehnten und mordet bis heute auf den Schlachtfeldern in Afrika, Lateinamerika, dem Nahen Osten und Südostasien“, resümiert Jürgen Grässlin: „Anders als früher sind es weit überwiegend Zivilisten, die von den in Oberndorf entwickelten Maschinenpistolen und Gewehren durchsiebt und zerfetzt werden“ (Grässlin, Versteck dich, wenn sie schießen, München 2003, S. 355).

Diese Schreckensbilanz einer Wachstumsbranche ist mit dem wohlfeilen Arbeitsplatzargument keineswegs zu rechtfertigen – denn auf jeden Arbeitsplatz in diesem Unternehmen kommen über die Jahre viele Tote und weit mehr Verstümmelte – lauter „Weichziele“, wie die menschlichen Waffenopfer in der hauseigenen Werbung heißen.

Nicht allein die Produzenten und Händler des Todes, so Jürgen Grässlin, auch die Bundesregierung mit ihrer Rüstungsexport-Genehmigungspraxis trägt ungeheure Mitschuld an den verheerenden Folgen - daran, dass menschenrechtsverletzende Staaten etwa des Mittleren und Nahen Ostens, inklusive Israel, legal mit deutschen Waffen oder Lizenzen versorgt werden. Dazu zählt auch der regierungsamtlich abgesegnete Waffendeal mit dem absolutistisch regierten Saudi-Arabien, das mit 200 „Leopard“-Panzer beliefert werden soll – schlagkräftige Kampfmaschinen für den urbanen Einsatz gegen „asymmetrische Bedrohungen“, wie es in der Werbung heißt, also auch zur Aufstandsbekämpfung, zur Niederschlagung von Demonstrationen oder zum Abräumen von Barrikaden. Erst vor wenigen Monaten half das saudische Feudalregime dabei, mit Panzern die Demokratiebewegung in Bahrain blutig niederzuschlagen.

Saudi-Arabien, seit Jahren wichtiger Importeur deutscher Waffen, gilt indessen als geostrategischer Macht- und Ordnungsfaktor in der unsicheren Region und als starker Gegenspieler Irans. Grund genug für den regierungsamtlichen Bundessicherheitsrat unter Vorsitz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mal wieder „Stabilität und Sicherheit“ Vorrang vor Menschenrechten und Demokratie einzuräumen und am Parlament vorbei auch dieses Milliardengeschäft in geheimer Sitzung zu genehmigen – ungeachtet der Tatsache, dass das saudische Regime die eigene Bevölkerung brutal unterdrückt und die Menschenrechte, zumal die der Frauen, systematisch mit Füßen tritt.


„Die Länder des demokratischen Westens haben in den letzten 50 Jahren auf die autoritären und diktatorischen Regime im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrikas gesetzt“, kritisiert der UN-Korrespondent der „taz“, Andreas Zumach: „Weil sie uns verlässlich billiges Öl liefer(te)n oder unserer Wirtschaft wie im Falle des libyschen Gaddafi-Regimes millardenschwere Aufträge bescheren und die lästigen Flüchtlinge aus Afrika vom Hals hielten. Und weil diese Regimes uns als einzig verlässlicher Garant galten gegen die vermeintliche Gefahr einer islamistischen Machtübernahme in diesen Ländern.“

Zu den Lieferungen deutscher Kriegswaffen und anderer Rüstungsgüter kamen noch Folterinstrumente und Überwachungstechnologie, mit denen Polizei, Geheimdienste und innere Sicherheitsorgane die Opposition in den belieferten Ländern drangsalieren und unterdrücken. Laut Rüstungsexportbericht der Bundesregierung gehört Saudi-Arabien seit 2008 zu den wichtigsten Empfängerländern deutscher Waffen. So genehmigte Berlin u. a. den Bau einer Fabrik für Sturmgewehre sowie den Export von Teilen für Feuerleiteinrichtungen, Bodenüberwachungsradar, Teile für Kampf- und Tankflugzeuge, Raketen, Granaten oder Systeme für die elektronische Kampfführung und Grenzsicherung. Allein 2009 betrug der Genehmigungswert 167,9 Millionen Euro. Damit lag Saudi-Arabien auf Platz sechs der Bestimmungsländer (ND 6.07.2011). Und künftig sollen auch Algerien mit deutschen Waffen versorgt und das autoritär-korrupte Regime Angolas mit acht deutschen Patrouillenbooten zur Grenzsicherung bedacht werden - anstatt die so nötige Entwicklungshilfe zur Hunger- und Armutsbekämpfung aufzustocken.



Bei solchen geheimen Exekutiv-Entscheidungen über Leben und Tod Abertausender von Menschen geht es – neben Wettbewerbs- und Profitinteressen - ganz offensichtlich um massive geostrategische, wirtschafts- und militärpolitische Interessen, insbesondere um Interessen der Öl-Ressourcensicherung und auch der Flüchtlingsabwehr. Mit ihren keiner demokratischen Kontrolle unterliegenden Genehmigungen von Waffentransfers und Lizenzvergaben an Diktaturen, an korrupte Regime oder lupenreine Scheindemokraten schürten alle Bundesregierungen, gleich welcher Couleur, Gewalteskalationen in Bürgerkriegs- und Krisenregionen weltweit und nehmen Vertreibung, Elend und Tod billigend in Kauf. Im Klartext lautet die Anklage gegen die Bundesregierungen: mutmaßliche Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen, zu Massen- und Völkermord.

Hier findet die Frage „wo beginnt der Krieg?“ eine erste Antwort. Doch Jürgen Grässlin gibt sich mit Aufklärung und Anprangern längst nicht mehr zufrieden: Seit vielen Jahren setzt er sich zusammen mit anderen aktiv für konkrete Schritte zur Abrüstung ein – als Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), als Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler, als Vorsitzender des Rüstungsinformationsbüros und als Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes „Kleinwaffen stoppen“, das den Opfern in aller Welt Stimme und Gesicht geben will. Denn, so unser Preisträger:

„Wer Rüstungsexporte mit den Augen der Opfer sieht, wird sich für eine andere Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik einsetzen“ (a.a.O., S. 441).

Jürgen Grässlin möchte in der Waffenschmiede Deutschland etwas bewegen und verändern; dafür initiiert er auch phantasie- und wirkungsvolle Protestaktionen vor und in Rüstungsbetrieben, organisiert Hilfsprojekte für Waffenopfer, zuletzt die bundesweite Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ (2011; http://www.aufschreiwaffenhandel. de). Jürgen Grässlin ist also im besten Sinne auch Friedensaktivist. Als kritischer Aktionär der Daimler AG brandmarkt er mit anderen kritischen Aktionären in Redebeiträgen und Anträgen während der jährlichen Hauptversammlungen vor mehreren tausend Aktionären die Exporte ganzer Waffensysteme an menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten – zumeist mit beachtlichem Medienecho. Legendär seine Worte in der vollbesetzten Schleyerhalle in Stuttgart, die er an den ehemaligen Daimler-Vorstandsvorsitzenden richtete:

„Herr Schrempp, an Ihren Händen klebt das Blut unzähliger Toter“.

Doch dieses couragierte Engagement ist auch mit einem hohen Preis verbunden: Wer sich mit Waffenkonzernen anlegt, wird hierzulande zwar nicht erschossen, aber gehörig eingeschüchtert: So jedenfalls ist der nervenzehrende Versuch der Daimler AG und ihrer Vorsitzenden Zetsche und Schrempp zu werten, Grässlin mit juristischen Mitteln einen Maulkorb zu verpassen, ihn also mundtot zu machen und finanziell zu ruinieren. Dieser Versuch ist glücklicherweise auf ganzer Linie gescheitert, weil der Bundesgerichtshof 2009 der Meinungsfreiheit doch noch zum Sieg verhalf. Dieses Urteil ist jedenfalls wegweisend und ermutigend – insbesondere für Konzern-Kritiker, konzernkritische Journalisten und Autoren.

Jürgen Grässlin ist trotz solcher Risiken und Gefahren diesen beschwerlichen Weg gegangen. Wir wünschen ihm weiterhin viel Kraft und Energie und vor allem durchschlagenden Erfolg. Herzlichen Glückwunsch.


II. Ich komme zur Informationsstelle Militarisierung e.V., dem zweiten Aachener Friedenspreisträger 2011. Wenn ich im Folgenden nur noch von „IMI“ rede, dann meine ich diese Informationsstelle aus meiner Geburtsstadt Tübingen mit ihren Protagonisten, dem Politologen Michael Haid, der Religionswissenschaftlerin und Soziologin Claudia Haydt, Vorstandsmitglied Christoph Marischka, dem langjährigen Abgeordneten des Europäischen Parlaments Tobias Pflüger sowie Dr. Andreas Seifert und dem geschäftsführenden Vorstandsmitglied Jürgen Wagner.

IMI wurde 1996 von mehreren Personen der Friedensbewegung initiiert - ursprünglich als Reaktion auf die Aufstellung des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Calw, jener abgeschotteten Spezialeinheit der Bundeswehr, die nahezu keiner demokratischen Kontrolle unterliegt und symbolhaft für die Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer global agierenden Interventionsarmee steht.

IMI ist hat sich seit ihrer Gründung zu einer ehrenamtlich arbeitenden antimilitaristischen Denkfabrik entwickelt; sie verfolgt laut Satzung den Zweck,

„aktive Beiträge zur Verbreitung des Gedankens der Völkerverständigung zu leisten und friedliche Konfliktmöglichkeiten zu fördern“.

Die Mitglieder des unabhängigen und gemeinnützigen Vereins verstehen sich als eine Art Scharnier oder auch Mittler zwischen kritischer Friedensforschung und Friedensbewegung. IMI liefert fundierte Hintergrund-Informationen, wissenschaftliche Analysen und Einschätzungen, die für die Friedensbewegung wichtig und nutzbar sind und die man über das umfangreiche IMI-Internetangebot kostenlos abrufen kann (www.imionline. de). Zu dem breiten Themenspektrum ihrer Informations- und Bildungsarbeit sowie ihrer jährlichen Kongresse in Tübingen gehören: Friedens- und Konfliktforschung, Rüstung und Rüstungsexporte, Umstrukturierung der Bundeswehr, Militarisierung der Bundesrepublik und in Europa, NATO und Flüchtlingspolitik – oder besser: Flüchtlingsabwehrpolitik der „Festung Europa“, die jedes Jahr zahlreiche Tote fordert. Insgesamt nimmt IMI eine wohltuend klare, kritisch-ablehnende Haltung zur deutschen Beteiligung an Angriffskriegen, zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren und zum Abbau der Bürger- und Menschenrechte im Zuge des staatlichen Antiterrorkampfes ein.

Dieser „Kampf gegen den Terror“ hat längst rechtsstaatliche Grenzen verwischt – so die zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen Militär und Polizei, zwischen Verteidigung und Intervention. Sämtliche Prinzipien militärischer Beschränkung sind inzwischen aufgeweicht, die Unterordnung unter die Regeln des Verfassungs- und Völkerrechts ist aufgekündigt – ob in der NATO, der EU oder der Bundeswehr. Das bedeutet das Ende des Konzepts vom Verteidigungskrieg, wie es nach dem 2. Weltkrieg bis Ende des Kalten Krieges für Europa, die NATO und für Deutschland zumindest dem Grundsatz nach gegolten hat. IMI hat diese Entwicklung bestens dokumentiert und kritisch analysiert.


Seit Ende des Kalten Kriegs hat sich die NATO zum weltweiten Interventionsbündnis entwickelt, weil „neue Risiken“ an jedem Ort der Welt die eigene Sicherheit gefährden könnten, so eine der Begründungen. Neben Terrorismus werden in offiziellen Nato-Strategie-Papieren auch „regionale Krisen an der Peripherie des Bündnisses“ als Interventionsgründe genannt sowie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ in anderen Ländern.

Die EU entwickelt sich innerhalb der NATO, aber auch parallel dazu und in Abgrenzung zu den USA zu einem eigenen Militärbündnis und zu einer Militärgroßmacht – mit dem Trend zu weltweiten Kriseninterventions- und Out-of-area-Einsätzen, auch zur militärischen Sicherung europäischer (Wirtschafts-)Interessen. Mit dem europäischen Grundlagenvertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, werden die Mitgliedstaaten zur Aufrüstung ihrer Armeen verpflichtet – ein einzigartiger Vorgang in der europäischen Verfassungsgeschichte. Über die stetige Steigerung („schrittweise Verbesserung“) ihrer Militärkräfte („militärischen Fähigkeiten“) wacht die EU-„Verteidigungsagentur“, die auch Rüstungsforschung unterstützt und Rüstungsbeschaffung betreibt - also im Kern als Rüstungsagentur tätig ist.



Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien und das Weißbuch des Verteidigungsministeriums, hochinteressante Dokumente, die IMI detailliert ausgewertet hat, stellen die Landesverteidigung konsequent auf „Krisenbewältigung“ und „Terrorismusbekämpfung“ um – das heißt: Bundeswehr-Einsätze in aller Welt. Mit fast 7.000 Soldaten nimmt Deutschland gegenwärtig an elf Auslandseinsätzen teil. Nach dem „Weißbuch“, das sich streckenweise wie eine präventive Kriegserklärung liest, sollen die Aufgaben der Bundeswehr ausgedehnt werden auf geostrategische Einsätze zur Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung, freier Transportwege und ungehinderten Welthandels sowie zur Abwehr „unkontrollierter Migration“.

Deutschland hat der Devise „Nie wieder Krieg!“ längst schon abgeschworen und sich selbst an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen beteiligt – direkt, wie gegen Jugoslawien und Afghanistan, oder aber indirekt. Die Bundeswehr ist auf dem Weg zur internationalen Einsatztruppe – obwohl ein solches Mandat mit dem Verteidigungsbegriff des Artikels 87a Grundgesetz nicht vereinbar ist. Dort heißt es immer noch unmissverständlich:

„Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“.

Doch auch jene Bundesregierungen, die – mutmaßlich aus wahltaktischen Gründen - eine Beteiligung an einer „Koalition der Willigen“ ablehnten, sei es im Irak oder jüngst in Libyen, zeigen sich gegenüber der NATO und den USA dennoch willfährig: Mit Waffenlieferungen, Überflugrechten, Aufklärungsflügen, Logistikhilfe und Bomben-Zielauswahl leisten sie tatkräftig Unterstützung und Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Kriegen mit ihren verheerenden Folgen. Doch: Völkerrechtswidrig handelt auch derjenige Staat, der den militärischen Aggressor in seinem völkerrechtswidrigen Tun unterstützt.

Man kann es nicht kürzer und treffender ausdrücken: Krieg ist Terror. Auch Antiterrorkriege sind Terror - auch wenn sie zu „friedensstabilisierenden“ oder „humanitären Interventionen“ verklärt, im Namen der Sicherheit und Freiheit geführt, zur Rettung der Menschenrechte hochstilisiert werden. Sie produzieren letztlich das, was sie bekämpfen sollen, nämlich Krieg und weiteren Terror. Sie töten, verletzen und schänden unschuldige Zivilisten, stehen in krassem Widerspruch zu Menschenrechten und Gerechtigkeit, die sich genauso wenig herbeibomben lassen wie Freiheit und Demokratie.

„Der Krieg beginnt hier – also lasst ihn uns hier stoppen!“

Nach diesem Motto setzt sich unsere Friedenspreisträgerin IMI – über reine Aufklärung hinaus - zum Ziel, hier in Deutschland und Europa auch die zivilgesellschaftliche Gegenwehr, den Widerstand gegen die Militarisierung von Außen- und Innenpolitik, von Staat und Gesellschaft, mit Informationen und eigenen Analysen zu motivieren, zu unterfüttern und damit zu unterstützen.

„Den Kriegszuständen muss eine umfassende Opposition, ein intelligenter Widerstand entgegengesetzt werden“,

sagt Tobias Pflüger. Der Verein beteiligt sich folgerichtig an bundesweiten Bündnissen und Kampagnen – so gegen Indoktrinierungs- und Rekrutierungsversuche der Bundeswehr an Schulen und Universitäten, sowie gegen Militär- und Rüstungsforschung an Hochschulen, die oft genug unter Bruch der so genannten Zivil- oder Friedensklausel stattfindet, die militärische Forschung unterbinden soll; und der Verein beteiligt sich auch an gewaltfreien Protesten, so etwa gegen die jährliche NATO-Sicherheitskonferenz in München.


Ich möchte drei Themenbereiche aus der Fülle der IMI-Projekte konkretisieren:
  • IMI hat viele hochinteressante Studien veröffentlicht, in denen dokumentiert wird, wie die Bundeswehr einerseits mit Hilfe von Jugendoffizieren und eigenen Unterrichtsmaterialien an Schulen die Militär- und Kriegspolitik der Regierung zu legitimieren sucht und andererseits Jugendliche direkt an Schulen rekrutiert. Auch viele Universitäten bleiben davon nicht verschont, an denen darüber hinaus seit langem auch Militär- und Rüstungsforschung betrieben wird. Zu diesem Themenbereich arbeitet unsere Preisträgerin intensiv und sie fordert eine Rücknahme der zugrunde liegenden „Kooperationsabkommen” zwischen der Bundeswehr und den Schulministerien von bislang acht Bundesländern. Diese Abkommen ermöglichen Bundeswehroffizieren weitgehenden Zugang zu Schulklassen sowie zu Ausbildungs- und Fortbildungsseminaren für Lehrer und Referendare; damit werden der Bundeswehr starke militärische Einflussmöglichkeiten im Bildungsbereich gesichert - und gleichzeitig weitgehende Möglichkeiten zur Rekrutierung von Soldaten für künftige Kriege.
  • IMI beobachtet und kommentiert kontinuierlich die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Militärmissionen der EU, berichtet über Rüstungsprojekte, Sicherheitsforschung, Rekrutierungsprogramme und neue Formen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit sowohl im Inland als auch im Ausland. IMI dokumentiert auch die fortschreitende Militarisierung der Außenpolitik sowie der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inland steht, der längst schon begonnen hat und der nach vorliegenden Plänen noch ausgeweitet und verfassungsrechtlich abgesichert werden soll – obwohl Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind.
  • Zur Europäischen Grenzschutzagentur Frontex hat IMI eine hochinteressante Broschüre herausgebracht, in der es um den Ausbau der „Festung Europa“ durch verstärkte Sicherung der EU-Außengrenzen geht – mit dem Ziel, Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten, aus Diktaturen und wirtschaftlichem Elend abzuwehren. Mit verheerenden Folgen: Das Abschottungssystem Frontex ist letztlich mitverantwortlich für die Flüchtlingstragödie auf dem Mittelmeer, wo bereits Tausende Menschen bei der Flucht ums Leben kamen. Mit der IMIPublikation erhalten wir einen Überblick über problematische Einsätze der Agentur, ihre Rolle bei Abschiebungen und ihre Zusammenarbeit mit Geheimdiensten. In der Broschüre werden aber auch Ansatzpunkte für eine Kritik geliefert, die weit über juristische und menschenrechtliche Argumentationen hinausgeht, und IMI dokumentiert Aktionen, die gegen die EUGrenzschutzagentur stattgefunden haben oder geplant sind.



Dass diese gebrauchsorientierte Aufklärungsarbeit überaus notwendig ist und auch von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird, erfahren die IMI-Mitarbeiter fast täglich. Aber sie mussten auch erfahren, dass dies von anderer Seite offenbar nicht so gern gesehen und geduldet wird. Wiederholt kam es gegen IMI und einzelne ihrer Mitarbeiter zu mehr oder weniger offenen Repressionsmaßnahmen. So sah sich etwa IMIVorstandsmitglied Tobias Pflüger einem Strafprozess wegen Aufrufs zur Desertion ausgesetzt, weil er deutsche Soldaten dazu aufgefordert hatte, ihre Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu verweigern. Und das Finanzamt Tübingen drohte dem Verein, wegen Zweifeln an der Verfassungstreue die rückwirkende Aberkennung der Gemeinnützigkeit, was den Ruin des Vereins bedeutet hätte. Dank einer Flut von Solidaritätsadressen konnte diese existenzbedrohende Repressalie gegen unbequeme Staatskritiker und Kriegsgegner doch noch abgewendet werden.

Wer aber hat IMI die Zweifel an der Verfassungstreue eingebrockt? Es war unser skandalträchtiger Inlandsgeheimdienst, der auf den euphemistischen Tarnnamen „Verfassungsschutz“ hört - obwohl es sich genau genommen um einen Fremdkörper in der Demokratie handelt, der weder transparent noch wirklich kontrollierbar ist.

Die heutige Ehrung von IMI fällt just zusammen mit ihrem 15jährigen Gründungsjubiläum. Deshalb meine/unsere herzlichen Glückwünsche zu diesem Jubiläum und zur heutigen Verleihung des Aachener Friedenspreises, der

„schönsten Auszeichnung, die man sich als Kriegsgegner hierzulande wünschen kann“,

so Vorstandsmitglied Jürgen Wagner. – Ja, und natürlich eine Menge Erfolg bei der weiteren Aufklärungs- und Motivationsarbeit, die wir dringend nötig haben!

III. Ich komme zum Schluss und noch einmal zurück auf Jürgen Grässlin. Es ist, wenn ich richtig gezählt habe, der zweite Preis, der ihm persönlich zugesprochen wurde. Als erste Auszeichnung, es war im Jahr 2009, erhielt er den „Preis für Zivilcourage“ der Solbach-Freise-Stiftung. Hier kamen sich übrigens der damalige Preisträger und ich als sein heutiger Laudator schon einmal insofern recht nahe, als ich anwaltlicher Geburtshelfer jener Stiftung war, die jährlich diesen Preis für Zivilcourage verleiht. Lieber Jürgen Grässlin, was kann einem politisch-moralisch bewussten und aktiven Menschen Besseres widerfahren als eine Auszeichnung für zivilcouragiertes Handeln und heute ein renommierter Preis für ein Engagement, das zu Völkerverständigung und Frieden beiträgt? So, wie ich Dich neulich in Freiburg kennen gelernt habe, in einem Lokal mit dem friedlich klingenden Namen „Haus zur Lieben Hand“, wirst Du Dich nicht auf solchen wohlverdienten Lorbeeren ausruhen, sondern im Gegenteil: Dich angespornt fühlen, Dein Lebensthema und Dein Lebenswerk weiterzuverfolgen, um Deiner, um unserer Vision von einer friedlichen Welt ohne Militär, Waffen und Kriege näher zu kommen. Ich denke, wir alle sollten Dich – und ganz besonders auch IMI - damit nicht alleine lassen; es gibt viele Menschen in diesem Lande, die diese existentielle Vision unserer heutigen Preisträger nicht nur erträumen, sondern sich für ihre Erfüllung auch tatkräftig einsetzen wollen. Und Jürgen Grässlin, der unverbesserliche Optimist, ist jemand, der sie, der uns, der die Zivilgesellschaft sozusagen von unten motivieren kann. Auch dafür gebührt ihm der Aachener Friedenspreis. Wie sagte es der Preisträger selbst so schön:

„Lasst uns, statt Waffen zu exportieren, Sinnvolles produzieren“
Und: „Wir können viel mehr erreichen, als uns gemeinhin zugetraut wird.“

Also trauen wir uns. Auch wenn wir uns mit Jürgen Grässlin selbstkritisch eingestehen müssen, „dass wir (bislang) bestenfalls ein paar Sandkörnchen im Getriebe des militärisch- industriell-politischen Komplexes sind“, so möchte ich dennoch an die berühmten Worte von Günther Eich erinnern (die auch zu meinem Lebensmotto wurden):

„Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“

Es sind unsere heutigen Preisträger Jürgen Grässlin und die Informationsstelle Militarisierung, die im besten Sinne unbeirrt nach dieser Devise handeln. Dafür vielen Dank.


Zurück zur Friedenspreis-Seite

Zurück zur Homepage