Laudatio zur Verleihung des Aachener Friedenspreises am 1. September 2011 in der Aula Carolina, Aachen
Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt/Publizist, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde des Aachener Friedenspreises,
und besonders: liebe Preisträgerinnen und Preisträger!
Heute ist Antikriegstag. Wie jedes Jahr werden wir an den Beginn des Zweiten Weltkriegs
erinnert, der mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September
1939 begonnen hatte. Seit über fünf Jahrzehnten – genauer: seit der Wiederbewaffnung
Westdeutschlands 1956 - gehört dieses Datum unter dem Motto "Nie wieder Krieg" zum
festen Bestandteil des Friedenskalenders.
Es ist sinnvoll und gut, dass der Aachener Friedenspreis an diesem symbolträchtigen
Tag verliehen wird. Und es ist überaus bedeutsam und zudem hochaktuell, dass dieses
Jahr herausragende Rüstungsgegner und Friedensaktivisten diesen renommierten
Friedenspreis erhalten. Gerade in einer Zeit, in der wir eine fortschreitende Militarisierung
der Außen- und Innenpolitik zu beklagen haben, gerade in einer Zeit, in der der
deutsche Waffenhandel umgebremst floriert, soll von dieser Verleihung hier in Aachen
ein starkes Signal ausgehen: gegen Militarisierung, gegen Rüstungsexporte und Krieg -
für Frieden, Menschenrechte und Demokratie.
Hier sind sie nun, unsere diesjährigen Aachener Friedenspreisträger, die in besonderem
Maße für eine solche Haltung, für eine solche Politik stehen und sich dabei große
Verdienste erworben haben:
-
Erstens: Jürgen Grässlin aus Freiburg und
- zum zweiten: die Informationsstelle Militarisierung e.V. aus Tübingen mit ihren Vorstandsmitgliedern Michael Haid, Claudia Haydt, Christoph Marischka, Tobias Pflüger, Dr. Andreas Seifert und Jürgen Wagner.
I. Lassen Sie mich mit
Jürgen Grässlin beginnen: Sein Coming out als Rüstungsgegner
erlebte er ausgerechnet bei der Bundeswehr, als er während der Grundausbildung
zwischen die Augen von Pappkameraden zielen sollte, die „aussahen wie Chinesen“,
jedenfalls diesem Stereotyp und damaligen Feindbild entsprachen. Er verweigerte sich.
Wir lernen daraus: Im Einzelfall kann selbst die Bundeswehr auf junge Menschen segensreich
wirken. Jürgen Grässlin ist seit 1982 Realschullehrer im Freiburger Schuldienst
und unterrichtet Deutsch, Geografie und Kunst. Er ist verheiratet mit Eva, seiner
„besten Freundin“, wie er betont, die ihn in seinem friedenspolitischen Engagement
stützt und bestärkt; und er ist Vater zweier erwachsener Kinder. Seit den 1980er Jahren
arbeitet er neben seinem vollen Deputat, so heißt es in der Verleihungsbegründung,
„mit beeindruckender Energie und Unermüdlichkeit für den Frieden, vor allem für
Verbote von Rüstungsproduktion und -exporten“.
Tatsächlich wird er nicht müde, in seinen Publikationen und Reden über die verheerenden
Folgen dieses todbringenden Wirtschaftszweiges aufzuklären und darüber hinaus
für eine konsequente Konversion der Waffen- und Rüstungsproduktion sowie für die
Aufnahme eines generellen Waffenexportverbots im Grundgesetz zu streiten.
Warum dies gerade hierzulande von höchster Bedeutung ist, zeigt das „Ranking“ auf
dem internationalen Militärmarkt: Deutschland ist der größte Rüstungsexporteur Europas
und der drittgrößte weltweit, hinter den USA und Russland und vor Großbritannien,
Frankreich und China. Die deutschen Exporte von Kriegswaffen und Rüstungsgütern -
also von U-Booten und Kriegsschiffen, Kampfjets und Militärhubschraubern, Panzern
und Raketenwerfern, Bomben und (Streu-)Munition, Sturmgewehren und Maschinenpistolen
- haben sich in den letzten Jahren sogar verdoppelt. Zu den Empfängern zählen
auch Staaten in Konflikt- und Kriegsregionen des Nahen und Mittleren Ostens sowie
menschenrechtsverletzende Regime etwa Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas. Die
skandalösen Genehmigungen durch den Bundessicherheitsrat, die den eigenen menschen-
und völkerrechtlichen Grundsätzen zuwiderlaufen, zeigen, wie überaus aktuell
und brisant diese Problematik ist – aber auch wie verhängnisvoll und existentiell für potentiell
Betroffene, für Oppositionelle, für Menschenrechts- und Demokratiebewegungen
in den jeweiligen Zielländern.
„Rüstungsexporte sind wegen ihrer riesigen Opferzahlen der schlimmste Auswuchs
deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik. Wir laden massiv Schuld auf uns. Das lässt
sich in einer Gesellschaft mit unseren Werten nicht rechtfertigen“,
so mahnt Jürgen Grässlin, den die Wochenschrift „Die Zeit“ als „Deutschlands bekanntesten
Rüstungsgegner“ bezeichnet. Andere sprechen vom „David der Pazifisten“ im
Kampf gegen den „Goliath der Kapitalisten“. Jürgen Grässlin ist Autor zahlreicher Sachbücher
über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik und hat sich dabei auch intensiv
mit dem Daimler-Konzern beschäftigt und angelegt, der über seine Beteiligung an der
multinationalen Waffenschmiede EADS auch an Rüstungsproduktion und –handel
maßgeblich beteiligt ist.
Jürgen Grässlin sitzt aber nicht nur am heimischen Schreibtisch in Freiburg, schreibt
Bücher oder referiert in geschützten Räumen über seine Erkenntnisse. Nein, er geht
auch vor Ort in ferne Länder, dorthin, wo deutsche Waffen ungeheueres Unheil stiften,
dorthin, wo Menschen zu Opfern deutscher Kleinwaffen werden, dorthin, wo Verletzte,
Tote und ihre Hinterbliebenen zu finden sind - wie etwa in die Türkei nach Türkisch-
Kurdistan, wo türkische Streitkräfte Waffen aus Deutschland gegen die kurdische Zivilbevölkerung
einsetzen, oder nach Somalia, wo mit dem deutschen G3-Gewehr
schlimmste Massaker angerichtet wurden. In Somalia besuchte Jürgen Grässlin Flüchtlingslager
und Behinderten-Anstalten, dort ging er auch voller Entsetzen über Massengräber,
aus denen Knochen und Schädel ragten. In Somalia ist er, wie er sagt, außer
dem Hungertod auch dem Gewehrtod hautnah begegnet. Er hat beklemmende Interviews
geführt mit mehr als 220 Überlebenden des Einsatzes von so genannten Kleinwaffen
made in Germany – den „Massenvernichtungswaffen unserer Zeit“, wie Jürgen
Grässlin Mörser, Maschinenpistolen und -Gewehre nennt. Denn:
„zwei von drei Opfern sterben in Kriegen und Bürgerkriegen durch den Einsatz von
Gewehren“.
Fast alle Überlebenden, mit denen er sprach, seien schwer traumatisiert, viele verstümmelt
und vertrieben, haben Mütter, Väter, Geschwister oder Kinder verloren. Aus
diesen entsetzlichen Einblicken, die ihn selbst verändert haben, entstand sein Buch
„Versteck Dich, wenn sie schießen“ (2003) - sein „Herzensbuch“, wie er sagt, das den
namenlosen Opfern deutscher Waffenpräzision Gesicht und Stimme geben soll. Fast
unwillkürlich fühlt man sich dabei an Paul Celans „Todesfuge“ erinnert:
„der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel, er trifft dich genau“.
Und kehrt Jürgen Grässlin von solchen Erkundungsreisen zurück nach Deutschland,
dann nennt er die Verantwortlichen für Waffenproduktion und Rüstungsexporte offen
und zielgenau mit Namen und Adresse: so etwa die Heckler & Koch GmbH - „Deutschlands
tödlichstes Unternehmen“, wie Jürgen Grässlin die Waffenschmiede im schwäbischen
Oberndorf am Neckar bezeichnet, wo zwischen Schwarzwald und Schwäbischer
Alb, also „weit ab vom Schuss“, ein Großteil jener rund zehn Millionen Waffen produziert
wurde, die bis heute nach Grässlins Berechnungen mehr als anderthalb Millionen
Menschen getötet und weit mehr noch verstümmelt haben.
„Wie die Pest im Mittelalter wütete der Heckler-Waffenvirus in den vergangenen
Jahrzehnten und mordet bis heute auf den Schlachtfeldern in Afrika, Lateinamerika,
dem Nahen Osten und Südostasien“, resümiert Jürgen Grässlin:
„Anders als früher
sind es weit überwiegend Zivilisten, die von den in Oberndorf entwickelten Maschinenpistolen
und Gewehren durchsiebt und zerfetzt werden“ (Grässlin, Versteck dich,
wenn sie schießen, München 2003, S. 355).
Diese Schreckensbilanz einer Wachstumsbranche ist mit dem wohlfeilen Arbeitsplatzargument
keineswegs zu rechtfertigen – denn auf jeden Arbeitsplatz in diesem Unternehmen
kommen über die Jahre viele Tote und weit mehr Verstümmelte – lauter
„Weichziele“, wie die menschlichen Waffenopfer in der hauseigenen Werbung heißen.
Nicht allein die Produzenten und Händler des Todes, so Jürgen Grässlin, auch die Bundesregierung
mit ihrer Rüstungsexport-Genehmigungspraxis trägt ungeheure Mitschuld
an den verheerenden Folgen - daran, dass menschenrechtsverletzende Staaten etwa
des Mittleren und Nahen Ostens, inklusive Israel, legal mit deutschen Waffen oder Lizenzen
versorgt werden. Dazu zählt auch der regierungsamtlich abgesegnete Waffendeal
mit dem absolutistisch regierten Saudi-Arabien, das mit 200 „Leopard“-Panzer beliefert
werden soll – schlagkräftige Kampfmaschinen für den urbanen Einsatz gegen
„asymmetrische Bedrohungen“, wie es in der Werbung heißt, also auch zur Aufstandsbekämpfung,
zur Niederschlagung von Demonstrationen oder zum Abräumen von Barrikaden. Erst vor wenigen Monaten half das saudische Feudalregime dabei, mit Panzern
die Demokratiebewegung in Bahrain blutig niederzuschlagen.
Saudi-Arabien, seit Jahren wichtiger Importeur deutscher Waffen, gilt indessen als geostrategischer
Macht- und Ordnungsfaktor in der unsicheren Region und als starker Gegenspieler
Irans. Grund genug für den regierungsamtlichen Bundessicherheitsrat unter
Vorsitz von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mal wieder „Stabilität und Sicherheit“ Vorrang
vor Menschenrechten und Demokratie einzuräumen und am Parlament vorbei
auch dieses Milliardengeschäft in geheimer Sitzung zu genehmigen – ungeachtet der
Tatsache, dass das saudische Regime die eigene Bevölkerung brutal unterdrückt und
die Menschenrechte, zumal die der Frauen, systematisch mit Füßen tritt.
„Die Länder des demokratischen Westens haben in den letzten 50 Jahren auf die autoritären und
diktatorischen Regime im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrikas gesetzt“, kritisiert der
UN-Korrespondent der „taz“, Andreas Zumach: „Weil sie uns verlässlich billiges Öl liefer(te)n
oder unserer Wirtschaft wie im Falle des libyschen Gaddafi-Regimes millardenschwere Aufträge
bescheren und die lästigen Flüchtlinge aus Afrika vom Hals hielten. Und weil diese Regimes uns
als einzig verlässlicher Garant galten gegen die vermeintliche Gefahr einer islamistischen
Machtübernahme in diesen Ländern.“
Zu den Lieferungen deutscher Kriegswaffen und anderer Rüstungsgüter kamen noch Folterinstrumente
und Überwachungstechnologie, mit denen Polizei, Geheimdienste und innere Sicherheitsorgane
die Opposition in den belieferten Ländern drangsalieren und unterdrücken.
Laut Rüstungsexportbericht der Bundesregierung gehört Saudi-Arabien seit 2008 zu den wichtigsten
Empfängerländern deutscher Waffen. So genehmigte Berlin u. a. den Bau einer Fabrik für
Sturmgewehre sowie den Export von Teilen für Feuerleiteinrichtungen, Bodenüberwachungsradar,
Teile für Kampf- und Tankflugzeuge, Raketen, Granaten oder Systeme für die elektronische
Kampfführung und Grenzsicherung. Allein 2009 betrug der Genehmigungswert 167,9 Millionen
Euro. Damit lag Saudi-Arabien auf Platz sechs der Bestimmungsländer (ND 6.07.2011). Und
künftig sollen auch Algerien mit deutschen Waffen versorgt und das autoritär-korrupte Regime
Angolas mit acht deutschen Patrouillenbooten zur Grenzsicherung bedacht werden - anstatt die
so nötige Entwicklungshilfe zur Hunger- und Armutsbekämpfung aufzustocken.
Bei solchen geheimen Exekutiv-Entscheidungen über Leben und Tod Abertausender
von Menschen geht es – neben Wettbewerbs- und Profitinteressen - ganz offensichtlich
um massive geostrategische, wirtschafts- und militärpolitische Interessen, insbesondere
um Interessen der Öl-Ressourcensicherung und auch der Flüchtlingsabwehr. Mit ihren
keiner demokratischen Kontrolle unterliegenden Genehmigungen von Waffentransfers
und Lizenzvergaben an Diktaturen, an korrupte Regime oder lupenreine Scheindemokraten
schürten alle Bundesregierungen, gleich welcher Couleur, Gewalteskalationen in
Bürgerkriegs- und Krisenregionen weltweit und nehmen Vertreibung, Elend und Tod billigend
in Kauf. Im Klartext lautet die Anklage gegen die Bundesregierungen: mutmaßliche
Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen, zu Massen- und Völkermord.
Hier findet die Frage „wo beginnt der Krieg?“ eine erste Antwort. Doch Jürgen Grässlin
gibt sich mit Aufklärung und Anprangern längst nicht mehr zufrieden: Seit vielen Jahren
setzt er sich zusammen mit anderen aktiv für konkrete Schritte zur Abrüstung ein – als
Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen
(DFG-VK), als Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler, als Vorsitzender
des Rüstungsinformationsbüros und als Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes „Kleinwaffen
stoppen“, das den Opfern in aller Welt Stimme und Gesicht geben will. Denn, so
unser Preisträger:
„Wer Rüstungsexporte mit den Augen der Opfer sieht, wird sich für eine andere Außen-,
Wirtschafts- und Sicherheitspolitik einsetzen“ (a.a.O., S. 441).
Jürgen Grässlin möchte in der Waffenschmiede Deutschland etwas bewegen und verändern;
dafür initiiert er auch phantasie- und wirkungsvolle Protestaktionen vor und in
Rüstungsbetrieben, organisiert Hilfsprojekte für Waffenopfer, zuletzt die bundesweite
Kampagne „Aktion Aufschrei: Stoppt den Waffenhandel!“ (2011; http://www.aufschreiwaffenhandel.
de). Jürgen Grässlin ist also im besten Sinne auch Friedensaktivist. Als
kritischer Aktionär der Daimler AG brandmarkt er mit anderen kritischen Aktionären in
Redebeiträgen und Anträgen während der jährlichen Hauptversammlungen vor mehreren
tausend Aktionären die Exporte ganzer Waffensysteme an menschenrechtsverletzende
und kriegführende Staaten – zumeist mit beachtlichem Medienecho. Legendär
seine Worte in der vollbesetzten Schleyerhalle in Stuttgart, die er an den ehemaligen
Daimler-Vorstandsvorsitzenden richtete:
„Herr Schrempp, an Ihren Händen klebt das Blut unzähliger Toter“.
Doch dieses couragierte Engagement ist auch mit einem hohen Preis verbunden: Wer
sich mit Waffenkonzernen anlegt, wird hierzulande zwar nicht erschossen, aber gehörig
eingeschüchtert: So jedenfalls ist der nervenzehrende Versuch der Daimler AG und ihrer
Vorsitzenden Zetsche und Schrempp zu werten, Grässlin mit juristischen Mitteln einen
Maulkorb zu verpassen, ihn also mundtot zu machen und finanziell zu ruinieren.
Dieser Versuch ist glücklicherweise auf ganzer Linie gescheitert, weil der Bundesgerichtshof
2009 der Meinungsfreiheit doch noch zum Sieg verhalf. Dieses Urteil ist jedenfalls
wegweisend und ermutigend – insbesondere für Konzern-Kritiker, konzernkritische
Journalisten und Autoren.
Jürgen Grässlin ist trotz solcher Risiken und Gefahren diesen beschwerlichen Weg gegangen.
Wir wünschen ihm weiterhin viel Kraft und Energie und vor allem durchschlagenden
Erfolg. Herzlichen Glückwunsch.
II. Ich komme zur
Informationsstelle Militarisierung e.V., dem zweiten Aachener
Friedenspreisträger 2011. Wenn ich im Folgenden nur noch von „IMI“ rede, dann meine
ich diese Informationsstelle aus meiner Geburtsstadt Tübingen mit ihren Protagonisten,
dem Politologen Michael Haid, der Religionswissenschaftlerin und Soziologin Claudia
Haydt, Vorstandsmitglied Christoph Marischka, dem langjährigen Abgeordneten des
Europäischen Parlaments Tobias Pflüger sowie Dr. Andreas Seifert und dem geschäftsführenden
Vorstandsmitglied Jürgen Wagner.
IMI wurde 1996 von mehreren Personen der Friedensbewegung initiiert - ursprünglich
als Reaktion auf die Aufstellung des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Calw, jener
abgeschotteten Spezialeinheit der Bundeswehr, die nahezu keiner demokratischen
Kontrolle unterliegt und symbolhaft für die Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer
global agierenden Interventionsarmee steht.
IMI ist hat sich seit ihrer Gründung zu einer ehrenamtlich arbeitenden antimilitaristischen
Denkfabrik entwickelt; sie verfolgt laut Satzung den Zweck,
„aktive Beiträge zur Verbreitung des Gedankens der Völkerverständigung zu leisten
und friedliche Konfliktmöglichkeiten zu fördern“.
Die Mitglieder des unabhängigen und gemeinnützigen Vereins verstehen sich als eine
Art Scharnier oder auch Mittler zwischen kritischer Friedensforschung und Friedensbewegung.
IMI liefert fundierte Hintergrund-Informationen, wissenschaftliche Analysen und
Einschätzungen, die für die Friedensbewegung wichtig und nutzbar sind und die man
über das umfangreiche IMI-Internetangebot kostenlos abrufen kann (www.imionline.
de). Zu dem breiten Themenspektrum ihrer Informations- und Bildungsarbeit sowie
ihrer jährlichen Kongresse in Tübingen gehören: Friedens- und Konfliktforschung,
Rüstung und Rüstungsexporte, Umstrukturierung der Bundeswehr, Militarisierung der
Bundesrepublik und in Europa, NATO und Flüchtlingspolitik – oder besser: Flüchtlingsabwehrpolitik
der „Festung Europa“, die jedes Jahr zahlreiche Tote fordert. Insgesamt
nimmt IMI eine wohltuend klare, kritisch-ablehnende Haltung zur deutschen Beteiligung
an Angriffskriegen, zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren und zum Abbau der Bürger-
und Menschenrechte im Zuge des staatlichen Antiterrorkampfes ein.
Dieser „Kampf gegen den Terror“ hat längst rechtsstaatliche Grenzen verwischt – so die
zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen Militär und Polizei, zwischen Verteidigung
und Intervention. Sämtliche Prinzipien militärischer Beschränkung sind inzwischen aufgeweicht,
die Unterordnung unter die Regeln des Verfassungs- und Völkerrechts ist
aufgekündigt – ob in der NATO, der EU oder der Bundeswehr. Das bedeutet das Ende
des Konzepts vom Verteidigungskrieg, wie es nach dem 2. Weltkrieg bis Ende des Kalten
Krieges für Europa, die NATO und für Deutschland zumindest dem Grundsatz nach
gegolten hat. IMI hat diese Entwicklung bestens dokumentiert und kritisch analysiert.
Seit Ende des Kalten Kriegs hat sich die NATO zum weltweiten Interventionsbündnis entwickelt,
weil „neue Risiken“ an jedem Ort der Welt die eigene Sicherheit gefährden könnten, so eine
der Begründungen. Neben Terrorismus werden in offiziellen Nato-Strategie-Papieren auch
„regionale Krisen an der Peripherie des Bündnisses“ als Interventionsgründe genannt sowie die
„Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ in anderen Ländern.
Die EU entwickelt sich innerhalb der NATO, aber auch parallel dazu und in Abgrenzung zu den
USA zu einem eigenen Militärbündnis und zu einer Militärgroßmacht – mit dem Trend zu weltweiten
Kriseninterventions- und Out-of-area-Einsätzen, auch zur militärischen Sicherung europäischer (Wirtschafts-)Interessen. Mit dem europäischen Grundlagenvertrag von Lissabon, der
am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, werden die Mitgliedstaaten zur Aufrüstung ihrer Armeen
verpflichtet – ein einzigartiger Vorgang in der europäischen Verfassungsgeschichte. Über die
stetige Steigerung („schrittweise Verbesserung“) ihrer Militärkräfte („militärischen Fähigkeiten“)
wacht die EU-„Verteidigungsagentur“, die auch Rüstungsforschung unterstützt und Rüstungsbeschaffung
betreibt - also im Kern als Rüstungsagentur tätig ist.
Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien und das Weißbuch des Verteidigungsministeriums,
hochinteressante Dokumente, die IMI detailliert ausgewertet hat, stellen
die Landesverteidigung konsequent auf „Krisenbewältigung“ und „Terrorismusbekämpfung“
um – das heißt: Bundeswehr-Einsätze in aller Welt. Mit fast 7.000 Soldaten nimmt
Deutschland gegenwärtig an elf Auslandseinsätzen teil. Nach dem „Weißbuch“, das
sich streckenweise wie eine präventive Kriegserklärung liest, sollen die Aufgaben der
Bundeswehr ausgedehnt werden auf geostrategische Einsätze zur Sicherung der Rohstoff-
und Energieversorgung, freier Transportwege und ungehinderten Welthandels
sowie zur Abwehr „unkontrollierter Migration“.
Deutschland hat der Devise „Nie wieder Krieg!“ längst schon abgeschworen und sich
selbst an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen beteiligt – direkt, wie gegen Jugoslawien
und Afghanistan, oder aber indirekt. Die Bundeswehr ist auf dem Weg zur internationalen
Einsatztruppe – obwohl ein solches Mandat mit dem Verteidigungsbegriff des Artikels
87a Grundgesetz nicht vereinbar ist. Dort heißt es immer noch unmissverständlich:
„Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf“.
Doch auch jene Bundesregierungen, die – mutmaßlich aus wahltaktischen Gründen -
eine Beteiligung an einer „Koalition der Willigen“ ablehnten, sei es im Irak oder jüngst in
Libyen, zeigen sich gegenüber der NATO und den USA dennoch willfährig: Mit Waffenlieferungen,
Überflugrechten, Aufklärungsflügen, Logistikhilfe und Bomben-Zielauswahl
leisten sie tatkräftig Unterstützung und Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Kriegen mit ihren
verheerenden Folgen. Doch: Völkerrechtswidrig handelt auch derjenige Staat, der
den militärischen Aggressor in seinem völkerrechtswidrigen Tun unterstützt.
Man kann es nicht kürzer und treffender ausdrücken: Krieg ist Terror. Auch Antiterrorkriege
sind Terror - auch wenn sie zu „friedensstabilisierenden“ oder „humanitären Interventionen“
verklärt, im Namen der Sicherheit und Freiheit geführt, zur Rettung der
Menschenrechte hochstilisiert werden. Sie produzieren letztlich das, was sie bekämpfen
sollen, nämlich Krieg und weiteren Terror. Sie töten, verletzen und schänden unschuldige
Zivilisten, stehen in krassem Widerspruch zu Menschenrechten und Gerechtigkeit,
die sich genauso wenig herbeibomben lassen wie Freiheit und Demokratie.
„Der Krieg beginnt hier – also lasst ihn uns hier stoppen!“
Nach diesem Motto setzt sich unsere Friedenspreisträgerin IMI – über reine Aufklärung
hinaus - zum Ziel, hier in Deutschland und Europa auch die zivilgesellschaftliche Gegenwehr,
den Widerstand gegen die Militarisierung von Außen- und Innenpolitik, von
Staat und Gesellschaft, mit Informationen und eigenen Analysen zu motivieren, zu unterfüttern
und damit zu unterstützen.
„Den Kriegszuständen muss eine umfassende Opposition, ein intelligenter Widerstand
entgegengesetzt werden“,
sagt Tobias Pflüger. Der Verein beteiligt sich folgerichtig an bundesweiten Bündnissen
und Kampagnen – so gegen Indoktrinierungs- und Rekrutierungsversuche der Bundeswehr
an Schulen und Universitäten, sowie gegen Militär- und Rüstungsforschung an
Hochschulen, die oft genug unter Bruch der so genannten Zivil- oder Friedensklausel
stattfindet, die militärische Forschung unterbinden soll; und der Verein beteiligt sich
auch an gewaltfreien Protesten, so etwa gegen die jährliche NATO-Sicherheitskonferenz
in München.
Ich möchte drei Themenbereiche aus der Fülle der IMI-Projekte konkretisieren:
-
IMI hat viele hochinteressante Studien veröffentlicht, in denen dokumentiert wird, wie die
Bundeswehr einerseits mit Hilfe von Jugendoffizieren und eigenen Unterrichtsmaterialien an
Schulen die Militär- und Kriegspolitik der Regierung zu legitimieren sucht und andererseits
Jugendliche direkt an Schulen rekrutiert. Auch viele Universitäten bleiben davon nicht verschont,
an denen darüber hinaus seit langem auch Militär- und Rüstungsforschung betrieben
wird. Zu diesem Themenbereich arbeitet unsere Preisträgerin intensiv und sie fordert eine
Rücknahme der zugrunde liegenden „Kooperationsabkommen” zwischen der Bundeswehr
und den Schulministerien von bislang acht Bundesländern. Diese Abkommen ermöglichen
Bundeswehroffizieren weitgehenden Zugang zu Schulklassen sowie zu Ausbildungs- und
Fortbildungsseminaren für Lehrer und Referendare; damit werden der Bundeswehr starke militärische
Einflussmöglichkeiten im Bildungsbereich gesichert - und gleichzeitig weitgehende
Möglichkeiten zur Rekrutierung von Soldaten für künftige Kriege.
- IMI beobachtet und kommentiert kontinuierlich die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die
Militärmissionen der EU, berichtet über Rüstungsprojekte, Sicherheitsforschung, Rekrutierungsprogramme
und neue Formen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit sowohl im Inland
als auch im Ausland. IMI dokumentiert auch die fortschreitende Militarisierung der Außenpolitik
sowie der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inland
steht, der längst schon begonnen hat und der nach vorliegenden Plänen noch ausgeweitet und
verfassungsrechtlich abgesichert werden soll – obwohl Polizei und Militär schon aus historischen
Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind.
- Zur Europäischen Grenzschutzagentur Frontex hat IMI eine hochinteressante Broschüre herausgebracht,
in der es um den Ausbau der „Festung Europa“ durch verstärkte Sicherung der
EU-Außengrenzen geht – mit dem Ziel, Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten, aus Diktaturen
und wirtschaftlichem Elend abzuwehren. Mit verheerenden Folgen: Das Abschottungssystem
Frontex ist letztlich mitverantwortlich für die Flüchtlingstragödie auf dem Mittelmeer,
wo bereits Tausende Menschen bei der Flucht ums Leben kamen. Mit der IMIPublikation
erhalten wir einen Überblick über problematische Einsätze der Agentur, ihre Rolle
bei Abschiebungen und ihre Zusammenarbeit mit Geheimdiensten. In der Broschüre werden
aber auch Ansatzpunkte für eine Kritik geliefert, die weit über juristische und menschenrechtliche
Argumentationen hinausgeht, und IMI dokumentiert Aktionen, die gegen die EUGrenzschutzagentur
stattgefunden haben oder geplant sind.
Dass diese gebrauchsorientierte Aufklärungsarbeit überaus notwendig ist und auch von
einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird, erfahren die IMI-Mitarbeiter fast täglich.
Aber sie mussten auch erfahren, dass dies von anderer Seite offenbar nicht so
gern gesehen und geduldet wird. Wiederholt kam es gegen IMI und einzelne ihrer Mitarbeiter
zu mehr oder weniger offenen Repressionsmaßnahmen. So sah sich etwa IMIVorstandsmitglied
Tobias Pflüger einem Strafprozess wegen Aufrufs zur Desertion ausgesetzt,
weil er deutsche Soldaten dazu aufgefordert hatte, ihre Beteiligung am völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg gegen Jugoslawien zu verweigern. Und das Finanzamt Tübingen
drohte dem Verein, wegen Zweifeln an der Verfassungstreue die rückwirkende
Aberkennung der Gemeinnützigkeit, was den Ruin des Vereins bedeutet hätte. Dank
einer Flut von Solidaritätsadressen konnte diese existenzbedrohende Repressalie gegen
unbequeme Staatskritiker und Kriegsgegner doch noch abgewendet werden.
Wer aber hat IMI die Zweifel an der Verfassungstreue eingebrockt? Es war unser skandalträchtiger
Inlandsgeheimdienst, der auf den euphemistischen Tarnnamen „Verfassungsschutz“ hört - obwohl es sich genau genommen um einen Fremdkörper in der
Demokratie handelt, der weder transparent noch wirklich kontrollierbar ist.
Die heutige Ehrung von IMI fällt just zusammen mit ihrem 15jährigen Gründungsjubiläum. Deshalb meine/unsere herzlichen Glückwünsche zu diesem Jubiläum und zur
heutigen Verleihung des Aachener Friedenspreises, der
„schönsten Auszeichnung, die man sich als Kriegsgegner hierzulande wünschen kann“,
so Vorstandsmitglied Jürgen Wagner. – Ja, und natürlich eine Menge Erfolg bei der weiteren
Aufklärungs- und Motivationsarbeit, die wir dringend nötig haben!
III. Ich komme zum Schluss und noch einmal zurück auf
Jürgen Grässlin. Es ist, wenn
ich richtig gezählt habe, der zweite Preis, der ihm persönlich zugesprochen wurde. Als
erste Auszeichnung, es war im Jahr 2009, erhielt er den „Preis für Zivilcourage“ der
Solbach-Freise-Stiftung. Hier kamen sich übrigens der damalige Preisträger und ich als
sein heutiger Laudator schon einmal insofern recht nahe, als ich anwaltlicher Geburtshelfer
jener Stiftung war, die jährlich diesen Preis für Zivilcourage verleiht. Lieber Jürgen
Grässlin, was kann einem politisch-moralisch bewussten und aktiven Menschen Besseres
widerfahren als eine Auszeichnung für zivilcouragiertes Handeln und heute ein renommierter
Preis für ein Engagement, das zu Völkerverständigung und Frieden beiträgt?
So, wie ich Dich neulich in Freiburg kennen gelernt habe, in einem Lokal mit dem
friedlich klingenden Namen „Haus zur Lieben Hand“, wirst Du Dich nicht auf solchen
wohlverdienten Lorbeeren ausruhen, sondern im Gegenteil: Dich angespornt fühlen,
Dein Lebensthema und Dein Lebenswerk weiterzuverfolgen, um Deiner, um unserer Vision
von einer friedlichen Welt ohne Militär, Waffen und Kriege näher zu kommen. Ich
denke, wir alle sollten Dich – und ganz besonders auch IMI - damit nicht alleine lassen;
es gibt viele Menschen in diesem Lande, die diese existentielle Vision unserer heutigen
Preisträger nicht nur erträumen, sondern sich für ihre Erfüllung auch tatkräftig einsetzen
wollen. Und Jürgen Grässlin, der unverbesserliche Optimist, ist jemand, der sie, der
uns, der die Zivilgesellschaft sozusagen von unten motivieren kann. Auch dafür gebührt
ihm der Aachener Friedenspreis. Wie sagte es der Preisträger selbst so schön:
„Lasst uns, statt Waffen zu exportieren, Sinnvolles produzieren“
Und:
„Wir können viel mehr erreichen, als uns gemeinhin zugetraut wird.“
Also trauen wir uns. Auch wenn wir uns mit Jürgen Grässlin selbstkritisch eingestehen
müssen, „dass wir (bislang) bestenfalls ein paar Sandkörnchen im Getriebe des militärisch-
industriell-politischen Komplexes sind“, so möchte ich dennoch an die berühmten
Worte von Günther Eich erinnern (die auch zu meinem Lebensmotto wurden):
„Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“
Es sind unsere heutigen Preisträger Jürgen Grässlin und die Informationsstelle Militarisierung,
die im besten Sinne unbeirrt nach dieser Devise handeln. Dafür vielen Dank.
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