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Ein großer Demokrat: Helmut Ridder 1919 - 2007

Zur Gegenwartsmächtigkeit Helmut Ridders - Nachrufe auf einen Freund des Rechts und des Friedens

Am 15. April 2007 starb im 88. Lebensjahr Helmut Ridder. Er war der Demokratiebewegung und der Friedensbewegung immer verbunden gewesen. Wir erinnern im Folgenden an ihn mit einigen Nachrufen akademischer und politischer Freunde und Weggefährten.



Gegen Demokratieverbote. Helmut Ridder ist gestorben.

Nach langer schwerer Krankheit starb am Sonntag Helmut Ridder. Er war einer der Leitfiguren der demokratischen Bewegung in der Bundesrepublik.

Geboren am 18. Juli 1919 in Bocholt, war er von 1952-1959 Professor in Frankfurt/Main, von 1959-1965 in Bonn und von 1965-1988 in Gießen. Außerdem verbrachte er zahlreiche längere Forschungsaufenthalte als Fellow und Gastprofessor in Großbritannien und den USA.

Während er in den fünfziger Jahren mühelos in der Ordinarienuniversität aufstieg, geriet er in gleichem Tempo in Gegensatz zur herrschenden Politik. Die Linke hatte in Helmut Ridder einen zuverlässigen und kritischen Partner, der sich unbeugsam und konsequent für die Demokratie engagierte.

Seine Forschungsschwerpunkte waren Grundrechte, deutsche und europäische Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Medienrecht, Verfassungsgerichtsbarkeit, politisches Strafrecht, Teilgebiete des Urheberrechts und des allgemeinen Völkerrechts.

In den 60er Jahren war Ridder Vorsitzender des Kuratoriums Notstand der Demokratie, das gegen die Notstandsgesetzgebung opponierte, von 1972-1974 Vorstandsmitglied des Bundes demokratischer Wissenschaftler. Außerdem engagierte er sich in der Berliner Konferenz Europäischer Katholiken, der er 1991 auch präsidierte. In der Auseinandersetzung um die Aufhebung des KPD-Verbotes und die sog. Berufsverbote, die er als „Demokratieverbote“ charakte-risierte, spielte er eine führende Rolle. Ridder war Initiator des Krefelder Kongresses „Der Atomtod bedroht uns alle“, bei dem 1989 der „Krefelder Appell“ gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluß verabschiedet wurde und der zur Entwicklung einer neuen Friedensbewegung beitrug.

Helmut Ridder war Mitbegründer und Herausgeber der Neuen Politischen Literatur, von 1964 bis Ende 1998 Mitherausgeber der Blätter für deutsche und internationale Politik, von 1975 bis 1984 Redakteur der Vierteljahresschrift Demokratie und Recht, Mitherausgeber des Alternativkommentars zum Grundgesetz und eines Kommentars zum Versammlungsrecht sowie Autor von ca. 500 Beiträgen in Sammelschriften, Zeitschriften und Zeitungen.

Friedrich-Martin Balzer

In: junge Welt vom 18. April 2007, S.12


Kein Nekrolog.

Zur Gegenwartsmächtigkeit Helmut Ridders.

Von Friedrich-Martin Balzer

Helmut Ridder starb am 15. April in seinem 88. Lebensjahr. Geboren am 18. Juli 1919, wenige Wochen vor der Verkündung der Weimarer Reichsverfassung, hat er dieses Jahrhundert, das Jahrhundert der von deutschem Boden ausgehenden Kriege und Katastrophen analysiert. Für ihn hatte schon Weimar die Demokratie verfehlt und Deutschland befand sich auf der immerwährenden Flucht vor seiner – antidemokratischen und antirevolutionären – Vergangenheit. Die sogenannte NS-Machtergreifung war kein Betriebsunfall der deutschen Geschichte.

Reichspräsident Friedrich Ebert, der gelobt hatte, die Verfassung der Deutschen Republik getreulich zu beachten und zu schützen, hatte sich „nicht nur zur (natürlich erfolglosen) Abwehr der mit dem Verratsvorwurf munitionierten Angriffe von ‚rechts’, sondern auch aus tiefer, dem ‚Bewußtsein der Zeitgenossen’ entsprechender Überzeugung wiederholt dazu bekannt: “Wenn der Tag kommt, an dem die Frage auftaucht: Deutschland oder die Verfassung, dann werden wir Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen“.

Was er von sich und anderen verlangte, war unbedingte Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit gegenüber den Lebenden und den Toten. Mit Widerwillen reagierte er auf die herrschende Rede von der „Wende“. „Dieses vom Denken dispensierende neue deutsche Unwort ohne genitivus subiectivus und genitivus obiectivus, dieses gängigste Chip in der Hektik eines demoralisierten politischen Zahlungsverkehrs, diese semantische Hülse, die alle Realitäten des demokratischen Aufbruchs in der DDR und des Prozesses der ‚deutschen Vereinigung’ verschluckt, paßt zu den Mitläufern, von denen die eiligsten sich sogar darauf verstehen, wie man schon heute Mitläufer von morgen werden kann.“ Er stellte sich die Frage, ob es nicht schlimmer sei, „sich einer guten Tat zuschämen, als eine schlimme Tat zu begehen“. Sind es am Ende die Gleichen „von einer geradezu wilhelminischen Borniertheit heimgesuchten Tölpel des Hurra- und ‚Es ist erreicht’-Sozialismus“? Kurz: Er hielt sich fern von dem „fatalen und trügerischen Siegesrausch der einen im Westen“ und dem „fatalen und trügerischen Unterwerfungsjammer der anderen im Osten“.

Er gehörte zu den wenigen, die immer genau hinsahen. „Aufar-beitung“ der DDR-Geschichte war für ihn nur denkbar „als integrierender Teil der dialogischen Aufarbeitung der schlimmen gesamtdeutschen Geschichte des ganzen Jahrhunderts.“ Stets betonte Ridder „die Notwendigkeit dialogischer Formen ideologischen Streitens“ und stellte sich darauf ein, „daß mangels eines gesamteuropäischen Roten Oktobers die versteinerten Verhältnisse wiederum und immer noch durch das Vorsingen ihrer eigenen Melodie zum Tanzen zu bringen sind“. Anpassung war ihm zuwider. Gegen den Strom zu schwimmen, wenn nötig auch gegen Strömungen innerhalb der Linken, war ihm unerläßlich.

Mit Konfuzius hielt er an dem Gebot der Begriffsschärfe fest: „Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß zu setzen. Also dulde man nicht, daß in den Worten etwas in Unordnung sei. Das ist es, worauf alles ankommt.“

Helmut Ridder hielt nichts von Nekrologen, Gedächtnisartikeln, „die den Gewürdigten zu einem Säulenheiligen erheben und ihn dadurch entindividualisieren, verwechselbar, austausch- und ausleihefähig und posthum, wie schon zu Lebzeiten, noch einmal ‚unschädlich’ machen würde.“

Wir nehmen nicht Abschied von Helmut Ridder oder verabschieden ihn gar. Bei der Trauerfeier für seinen DDR-Kollegen Gerhard Riege sprach der Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität Jena davon, daß das Leben und Wirken eines wissenschaftlich interessierten Politikers nach seinem Tod eine „Vergangenheit ist, über deren zukunftsweisende Gegenwartsmächtigkeit wir durch unseren Umgang mit ihr mitentscheiden.“

Helmut Ridders Schriften gehören nicht in die „Museumsschränke einer landfremd werdenden Universität“, sondern in die Hand aller an wissenschaftlicher Politik Interessierten.

In: junge Welt vom 19. April 2007


Sehr verehrte Frau Dr. Ridder, sehr geehrte Familie Ridder, geschätzte Anwesende.

Der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) nimmt in Trauer Abschied von Helmut Ridder. Für diesen Bund spreche ich hier. Ich heiße Georg Fülberth.

Vom Tag der Gründung an, 1968, bis zum Ende seines Lebens war Helmut Ridder Mitglied unseres Verbandes. 1972 bis 1974 war er im Engeren Vorstand und auch danach immer zur Stelle, wenn es nottat, und es tat ja fast immer not. Ich fürchte, es ist keine laudatio temporis acti, wenn ich vermute, die Jahre mit Helmut Ridder seien unsere besten Jahre gewesen.

Er war unsere weithin hörbare Stimme in allen Fragen der Hochschulgesetzgebung. Helmut Ridder untersuchte darüber hinaus die Frage der angeblich verfassungsfeindlichen Kräfte im Öffentlichen Dienst und erschreckte uns mit der Nachricht, das sei doch gar kein Berufsverbot. Sondern Demokratieverbot, unverhältnismäßige Kostenpflichtigkeit für die Ausübung eines Grundrechts, also schlimmer. Und damit bin ich schon am Angelpunkt seines politischen Denkens. Drei Kriterien hat Helmut Ridder in seiner wissenschaftspolitischen Arbeit angewandt.

Das erste war das Kriterium der Demokratie. Wissenschaft könne demokratisch organisiert werden. Da kommt die Gleichheit nach Maßgabe der Fähigkeit ins Spiel: Alle sollen gemäß dieser Fähigkeit an wissenschaftlicher Arbeit teilnehmen können. Heute wird über Studiengebühren gestritten, manchmal sogar im Licht der Hessischen Verfassung. Man spürt mit Schmerzen: Helmut Ridder fehlt.

Das zweite Kriterium war die Freiheit der Wissenschaft. Eine Konkurrenzorganisation führte sie im Namen, und Helmut Ridder befand, dort sei dieses Thema nicht gut aufgehoben. Er war ein Ordinarius und legte Hand an beim Abtragen der Ordinarienuniversität. Aber er sagte auch: seinesgleichen, die Ordinarien, das sei noch lange nicht das Schlimmste. Wer gegen sie den Staat zu Hilfe rufe und noch mehr als bisher in die Universität hineinhole, werde ihn anschließend nicht mehr los. Und danach kom-me der Investor. Wir haben das damals noch nicht so gesehen, er hat Recht behalten.

Das dritte Kriterium Helmut Ridders war die Wissenschaft selbst. Politischen Voluntarismus mochte er nicht. Der Bundesgenosse der Linken ließ ihr, der Linken, nichts durchgehen, keine Ungenauigkeit aus Gründen der politischen Opportunität. „Sehfahrt tut not!“ – so überschrieb er einen seiner Aufsätze. Und er buchstabierte „Seh“ mit „eh“, eben wie „Sehen“. Wer sich seinen Argumenten stellte, wurde nie völlig bestätigt, eher verunsichert, durchgerüttelt und empfand hinterher die Wohltat eines für einige Zeit wunderbar durchlüfteten Gehirns.

Helmut Ridder in den großen Kämpfen seiner Zeit, eben nicht nur in der Universität: es liegt nahe, auch darüber zu sprechen. Er war einer der ersten Kritiker der Notstandsgesetze und stand mit an der Spitze der Bewegung gegen den NATO-Beschluß zur Stationierung von Mittelstreckenraketen, 1979. Helmut Ridder war es, der Anfang der achtziger Jahre zu den neuen Ostermärschen aufrief. Das kann leider heute nicht mein Thema sein. Vielleicht aber doch so viel: auch hier orientierte er sich an seinen Leitsternen - Demokratie, Freiheit des Denkens und Handelns, eine auch wissenschaftlich zu verantwortende Politik. Damit stand er zwar mitten in den Kämpfen seiner Zeit, aber doch auch darüber.

Helmut Ridder hat Maßstäbe gesetzt, an denen eine künftige demokratische Wissenschaftspolitik sich orientieren sollte. Mag sein, daß die deutschen Hochschulen einmal zu einer Vernunft kommen werden, die sie von ihrer heutigen Funktionsweise un-terscheidet. Das wird die Vernunft Helmut Ridders sein. Für die Lehren, die er uns erteilte, und für die Geduld, die er mit uns hatte, danken wir ihm.

Georg Fülberth


Anzeige in der „jungen Welt“ am Donnerstag, den 19. April 2007

„Mea res agitur“

Wir trauern um Prof. Dr. Helmut Ridder
*18. Juli 1919 - †15. April 2007

Ehrendoktor der juristischen Fakultät in Łόdź (1983)
Ehrendoktor der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1988)

Helmut Ridder war einer der wenigen weißen Raben unter den Verfassungsrechtlern seiner Generation. Während er in den fünfziger Jahren mühelos in der Ordinarienuniversität aufstieg, geriet er in gleichem Tempo in Gegensatz zur herrschenden Politik. Die Linke - Gewerkschaften, Kommunisten, Außerparlamentarische Opposition - hatte fortan in ihm einen zuverlässigen und kritischen Partner.

Helmut Ridder setzte sich unermüdlich für Freundschaft unter den Völkern, insbesondere zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk, und völkerrechtliche Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten ein. Als Mitglied der Krefelder Initiative trug er wesentlich dazu bei, daß die Stimme der Friedensbewegung in den 80er Jahren unüberhörbar wurde.

Wir haben ihm viel zu verdanken und empfinden es als Verpflichtung, seinen unbeugsamen Kampf für Demokratie, Recht und Frieden fortzusetzen.

Friedrich-Martin Balzer, Marburg; Rainer Braun, Berlin; Axel Brück, Gießen; Ar-nold Bruns, Bonn; Bund demokratischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerin-nen/Bundesvorstand; Bundesausschuß Friedensratschlag; Martha Buschmann, Düsseldorf; Manfred Coppik, Offenbach; Peter Delis, Bensheim; Heinz Dreibrodt, Hamburg; Manfred Feustel, Hünxe; Dr. Jutta von Freyberg, Berlin; Georg Fülberth, Marburg; Dr. Wolf-Dieter Gudopp, Frankfurt/Main; Dr. Jürgen Harrer, Köln; Prof. Dr. Hans Heinz Holz, San Abbondio; Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin; Lorenz Knorr, Frankfurt/Main; Prof. Dr. Christoph Koch, Berlin; Brigitte Kus-tosch, Marburg; Dieter Lattmann, München; Dr. Friedrich Leidinger, Hürth; Gode-la Linde, Marburg; Herbert Mies, Mannheim; Egon Momberger, Gießen; Prof. Dr. theol. Hanfried Müller, Berlin; Prof. Dr. theol. Rosemarie Müller-Streisand, Heinz Nagel, Langgöns; Dr. med. Charlotte Neuhöffer, Solingen; Willi van Ooyen, Frank-furt/Main; Prof. Dr. theol. Uta Ranke-Heinemann, Essen; Klaus von Raussendorff, Bonn; Helga Riege, Jena; Prof. Dr. Rainer Rilling, Marburg; Prof. Dr. Peter Römer, Kassel; Erasmus Schöfer, Köln; Prof. Dr. Richard Sorg, Hamburg; Dr. Peter Strutynski, Kassel; Prof. Dr. Gerhard Stuby, Bremen; Horst Trapp, Frankfurt/Main; Dr. Ellen Weber, Gersfeld; Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jena.


Utopisches Recht.

Der Verläßliche. Zum Tode von Helmut Ridder.

Wann immer sich die Linke in der Bundesrepublik um gewichtige Anliegen versammelte – die Bekämpfung der Notstandsgesetze und des KPD-Verbots in den sechziger, die der Nachrüstung in den achtziger Jahren, konnte sie auf den Juristen zählen, der ihr mit verfassungsrechtlichen Stellungnahmen zur Seite stand. Und nicht nur die politische Linke, auch die Gewerkschaften. Schließlich auch die von Helmut Ridder vertretenen Frauen, die 1959 vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den sogenannten „väterlichen Stichentscheid“ obsiegten und damit den Paragraphen 1628 des BGB kippten, der dem Vater in Erziehungsfragen das letzte Wort zubilligte. „Seine Gegner, die glaubten, das Leitbild des christlichen Abendlandes verlange die patriarchalische Familie, belehrte Ridder darüber, daß dem kanonischen Recht die Rechtsfigur des väterlichen Stichentscheides fremd sei“, schreibt Till van Rahden in einer neueren Darstellung dieses eigentümlichen Rechtsfalles. Kaustischer, zuweilen bissiger Witz war dem Katholiken Ridder eigen.

Am 18. Juli 1919, mitten also im Prozeß der Verfassungsgebung des Deutschen Reichs und seiner Länder, wurde Ridder in Bocholt geboren. Immer ging er von der Verfassung aus, die er indes radikaldemokratisch interpretierte. Seine Sympathie galt, wie es in der gestern veröffentlichten und von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries mitunterzeichneten Traueranzeige der Schüler und Freunde hieß, einer „sich antizipierenden Gesellschaft“. Für sein Engagement empfing er 1982 die Ehrendoktorwürde der Universität Lodz. 1988 wurde er Ehrendoktor der Jenenser Friedrich-Schiller-Universität.

Ridder war kein Marxist, darum aber nur um so wertvoller als Bündnis-partner der dezidierten Marxisten im „Bund demokratischer Wissen-schaftler“, zu dessen Vorstand er gehörte. Mit seiner Radikalität überholte er manchmal selbst die Kommunisten: Ihnen hatte er geraten, die Neugründung der DKP nicht zu betreiben, solange das Verbot der KPD aus dem Jahr 1956 noch in Kraft war. Doch die Partei verfuhr pragmatisch. Ridder lehrte in Frankfurt, Bonn und bis zu seiner Emeritierung in Gießen Öffentliches recht und Politische Wissenschaft. Mit ihm, der am vergangenen Sonntag starb, hat die deutsche Linke einen ihrer bedeutendsten Köpfe verloren.

L.J. [Lorenz Jäger]

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.4.2007, Nr. 92, S. 37


Kritischer, katholischer Kommentator. Helmut Ridder ist tot

Von Heiner Halberstadt

Ein unbequemer und unbeugsamer Verfassungsrechtler ist, wie erst jetzt ND bekannt wurde, am 15. April gestorben. Der 1919 im münsterländischen Bocholt Geborene hatte sich der Rechtswissenschaft zugewandt, weil er als einfacher Soldat den verbrecherischen Vernichtungskrieg der Wehrmacht miterleben musste. Seine Kriegserlebnisse und -erfahrungen motivierten ihn, sich für Aufklärung, für Humanismus und Emanzipation im Nachkriegsdeutschland auch auf rechtlichem Gebiet zum Durchbruch zu verhelfen. Tatsächlich sah er sich sehr bald veranlasst, mit kraftvoller Rhetorik restaurative Entwicklungen im Adenauer-Staat anzuklagen, in Kommentaren zum Grundgesetz und im Kampf um dessen progressive Umsetzung.

Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität Münster und später in Gießen engagierte er sich als Vorsitzender des Kuratoriums »Notstand der Demokratie« gegen die »Notstandsgesetze«. Das KPD-Verbot und die Berufsverbote nannte er »Demokratieverbote«, »Außerkraftsetzung von demokratischen Grundrechten«. 1980 war Ridder einer der Initiatoren des »Krefelder Appells« gegen die Raketennachrüstung. Er war Auslöser einer sich im Folgenden entwickelnden machtvollen Friedensbewegung. Darüber hinaus war er Autor und zeitweise Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Er schrieb über 500 Artikel und Aufsätze für diverse Zeitungen und Zeitschriften. Immer wieder mischte sich Ridder in die gesellschaftlichen Debatten in der Bundesrepublik ein als ein kritischer »münsterländischer Katholik«, der sich keiner Autorität beugt. Sein Hauptthema waren: demokratische Rechte im Verfassungsstaat und deren ständige Bedrohung durch eine autoritär bestimmte Klassenherrschaft.

Helmut Ridder war in den 70er Jahren u. a. Vorsitzender der Deutsch-Polni¬schen Gesellschaft. Seine Bemühungen um Völkerverständigung und vielfältigste Zusammenarbeit wurden mit der Ehrendoktorwürde der Universität Lodz anerkannt. In einer Zeit, wo es vermehrter Anstrengung zum Schutz der Demokratie und demokratischer Rechte und Freiheiten bedarf, ist der Tod von Helmut Ridder ein herber Verlust, nicht nur für die deutsche Linke. Juristen seiner Prägung sind leider selten.

In: Neues Deutschland vom 20. April 2007


Ein großer Demokrat

Von Georg Fülberth

Am 15. April 2007 starb Helmut Ridder. Vier Tage später, am 19.4., dem Tag seiner Beisetzung, erschien in der FAZ eine große Anzeige von Vertreterinnen und Vertretern der offiziellen Politik und Wissenschaft, darunter Frank-Peter Steinmeier und Brigitte Zypries. Der gegenwärtige Außenminister war Ridders Assistent an der Universität Gießen und hat bei ihm promoviert. Am selben Tag war in der „jungen Welt“ eine noch größere Anzeige zu lesen: hier äußerten zahlreiche Linke, darunter Herbert Mies und Ellen Weber, ihre Dankbarkeit und ihren Respekt.

Diese Parallele zeigt die unfassbar breite Ausstrahlung eines Mannes, der in Wissenschaft und Politik gleichermaßen Vorbild-liches geleistet hat. Geboren wurde Helmut Ridder am 18. Juli 1919 in Bocholt. Er studierte Rechtswissenschaften, promovierte und habilitierte sich und stieg in der Ordinarienuniversität rasch und mühelos auf. 1952-1959 war er Professor in Frankfurt/Main; 1959-1965 in Bonn; 1965-1988 in Gießen. Mehrere längere Lehr- und For-schungsaufenthalte führten ihn als Gastprofessor nach Großbri-tannien und in die USA. In seinen zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasste er sich mit den Grundrechten, der deutschen und europäischen Verfassungsgeschichte der Neuzeit, dem Medienrecht, der Verfassungsgerichtsbarkeit, dem politischen Strafrecht und dem Völkerrecht. Er war Mitherausgeber des Alternativkommentars zum Grundgesetz (3.. Aufl. 2001) und eines Kommentars zum Versammlungsrecht (1992). Die Fachzeitschrift „Neue Politische Literatur“ wurde von ihm mitbegründet und herausgegeben. Helmut Ridder war Ehrendoktor der Universität Łόdź sowie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Eine solche Bilanz ist schon weit mehr, als ein übliches Gelehrtenleben sonst aufzuweisen hat. Und doch ist sie nur ein Teil der Lebensleistung Helmut Ridders. Hinzu kommt seine Tätigkeit als politischer Mensch.

Ridder sah in der Niederlage Hitlerdeutschlands 1945 und in der Gründung der Bundesrepublik zunächst ein großes Versprechen für einen Neuanfang der deutschen Geschichte. Die Westbin-dung erschien ihm als eine Voraussetzung hierfür. So bejahte er anfänglich sogar das Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.

Doch dann machte er eine Entdeckung, die seine politische Zukunft entschied: die Restauration. Ihrer Bekämpfung widmete er eine rastlose Aktivität. Als juristischer Gutachter unterstützte er die IG Metall im Kampf gegen Aussperrung. 1959 erstritt er vor dem Bundesverfassungsgericht die Streichung des „väterlichen Stichentscheids“ in Erziehungsfragen aus dem Bürgerlichen Ge-setzbuch. Sehr früh machte er die Gewerkschaften auf die Gefahren der Notstandsgesetzgebung aufmerksam. In den sechziger Jahren war er einer der weithin wahrgenommenen Vertreter des „Kuratoriums Notstand der Demokratie“. Von 1964 bis Ende 1998 gab er die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ mit heraus. In einer Buchveröffentlichung 1966 trat er für die Aufhebung des KPD-Verbots ein. Die Neukonstituierung der DKP hielt er allerdings für einen Fehler. Seiner Meinung nach hätte die Legalisierung der KPD verfassungsrechtlich durchgefochten werden müssen. Als dann aber Mitglieder der DKP mit Berufsverboten belegt wurden, nahm er den Kampf gegen dieses „Demokratieverbot“ – wie er es nannte – auf. Als Mit-Initiator und Mitglied des Krefelder Forums „Der Atomtod bedroht uns alle“ rief er Anfang der achtziger Jahre zu den Ostermärschen gegen die NATO-Raketenrüstung auf. Viele Jahre lang war er Vorsitzender der deutsch-polnischen Gesellschaft der BRD e.V.

1972 bis 1974 arbeitete Helmut Ridder im Engeren Vorstand des „Bundes demokratischer Wissenschaftler“ und griff von hier aus in die Auseinandersetzungen um die Hochschulgesetzgebung ein.

In dieser wissenschaftspolitischen Arbeit hat er drei Kriterien angewandt. Das erste war die Demokratie. Wissenschaft könne demokratisch organisiert werden. Alle sollen gemäß dieser Fähigkeit an wissenschaftlicher Arbeit teilnehmen können.

Das zweite Kriterium war die Freiheit der Wissenschaft. Helmut Ridder fand, dieses Thema dürfe man nicht dem „Bund Freiheit der Wissenschaft“ überlassen. Er war ein Ordinarius und legte Hand an beim Abtragen der Ordinarienuniversität. Aber er sagte auch, diese sei noch lange nicht das Schlimmste. Wer gegen sie den Staat zu Hilfe rufe und noch mehr als bisher in die Universität hineinhole, werde ihn anschließend nicht mehr los. Staatsgläubige Linke haben das damals noch nicht so gesehen. Helmut Ridder hat Recht behalten, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Staat, nachdem er die Autonomie der Hochschulen eingeschränkt hatte, die Universitäten inzwischen an eine neue Instanz weiterreicht: an das Kapital der Sponsoren und Investoren.

Das dritte Kriterium Helmut Ridders war die Wissenschaft selbst. Politischen Voluntarismus mochte er nicht. Der Bundesgenosse der Linken ließ ihr, der Linken, nichts durchgehen, keine Ungenauigkeit aus Gründen der politischen Opportunität. „Sehfahrt tut not!“ – so überschrieb er einen seiner Aufsätze. Und er buchstabierte „Seh“ mit „eh“, eben wie „Sehen“.

Die Alleinvertretungsanmaßung der BRD gegenüber der DDR hat Helmut Ridder bekämpft. Als das Bundesverfassungsgericht 1973 befand, Deutschland bestehe trotz der neuen Ostpolitik in den Grenzen von 1973 fort, verspottete er dies als „Kyffhäuser-Urteil“. Durch den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten fühlte er sich keineswegs widerlegt, sondern bestätigt: Er vertrat die Auffassung, daß nach 1945 zwei neue Völkerrechtssubjekte – die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik – entstanden seien, die allerdings 1990 in einem Vertrag ihre Fusion beschlossen haben. Um diesen Vertrag schließen zu können, mussten sie vorher aber einander ge-genseitig als Völkerrechtssubjekte anerkennen. Durch ihren Zusammenschluss sei nicht die bisherige Bundesrepublik erweitert worden, sondern ein völlig neuer Staat entstanden. Diese Feststellung hatte seiner Meinung nach eine aktuelle strafrechtliche Bedeutung: ab 1990 sind Prozesse gegen Bürger der BRD angestrengt worden, die als Kundschafter für die DDR tätig waren. In seiner Gutachtertätigkeit wies Ridder darauf hin, dass ihre Verfolgung nicht statthaft sei. Der Staat, den sie angeblich geschädigt hatten, die alte Bundesrepublik Deutschland, sei am 3. Oktober 1990 ebenso untergegangen wie die DDR.

Helmut Ridder, ein gläubiger Katholik, war kein Marxist. Sein Maß war die radikale Demokratie. Er bestand darauf, kein Staatsrechtler zu sein, sondern Verfassungsrechtler und Öffentlichrechtler. Am Grundgesetz interessierte ihn, was es ermöglichte, nicht was es angeblich verbietet.

Es kommt kaum einmal vor, dass in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“ ein Satz steht, den auch ein Kommunist unterschreiben kann. Am 20. April 2007 war es dann doch so weit. Die FAZ schrieb über Helmut Ridder: “Mit ihm, der am vergangenen Sonntag starb, hat die deutsche Linke einen ihrer bedeutendsten Köpfe verloren.“

Zum Weiterlesen:
Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.): CD: Helmut Ridder für Einsteiger und Fortge-schrittene (enthält Gesamtbibliographie und 100 Veröffentlichungen im Volltext), 2. Auflage, Bonn 2004, 1775 Seiten. Bestellung über www.friedrich-martin-balzer.de

In: Marxistische Blätter, 3/2007


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