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Millionengeschäft mit der Not

EU-Innenkommissar stellt Plan zur Eindämmung von Schleuserfahrten über das Mittelmeer vor

Von Ulla Jelpke *

Die Bemühungen der Europäischen Union zur Flüchtlingsabwehr kosten viele Menschenleben, sind aber dennoch vergeblich: Nach Angaben der EU-Kommission wurden im vergangenen Jahr 276.000 Personen bei einer unerlaubten Einreise in die EU festgestellt. Dies entspricht einer Zunahme von 138 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 203.000 dieser Einreisen erfolgten über das Mittelmeer. Statt für diese Menschen sichere Fluchtwege zu schaffen, will der zuständige Kommissar Dimitris Avramopoulos Schleuser noch stärker bekämpfen als bisher.

Zum ersten Mal, seitdem Daten über das Migrationsgeschehen an den europäischen Außengrenzen durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex gesammelt und aufbereitet werden, gab es eine große Zahl von Überfahrten auch in den Wintermonaten. Früher war die unerlaubte Migration zu Weihnachten hin fast ganz zum Erliegen gekommen, wie Frontex in einer am 24. Dezember veröffentlichten Kurzanalyse schreibt. Doch zwischen dem 1. November und dem Jahresende wurden allein im Rahmen der neuen Frontex-Operation »Triton«, mit der im wesentlichen die italienische Seeaußengrenze überwacht werden soll, 16.400 Migranten aus der Seenot gerettet.

Um auch in den Wintermonaten Menschen über das Mittelmeer bringen zu können, haben die Schleuser zwei neue Strategien entwickelt. Da sind zum einen die Frachter, für die »Frontex« den Begriff »Geisterschiffe« geprägt hat. Schleuser verschaffen sich diese aus dem Betrieb genommenen Frachter und bringen sie in den türkischen Hafen Medis. Dies ist der einzige Hafen, der vom syrischen Hafen Latikia aus noch mit einer Fähre zu erreichen ist. Pro Person zahlen die Flüchtlinge 6.000 Euro für eine Überfahrt. So kommen schnell bis zu vier Millionen Euro bei einem mit 600 oder mehr Menschen beladenen Frachter zusammen. Dem stehen nur geringe Ausgaben für die Benutzung der Frachter und die Versorgung und Bezahlung der Schiffscrew gegenüber, der Gewinn ist also immens. Mindestens zwölf solcher Frachter, für die der Begriff »Geisterschiff« vollkommen unangemessen ist – er bezeichnet auf dem Meer treibende Schiffe, deren Besatzung tot ist – , sind seit September 2014 an Italiens Küsten angelandet.

Die zweite Methode der Schleuser besteht darin, bei der Überfahrt mit Fischkuttern oder Booten von Libyen in Richtung Italien die Routen von Handelsschiffen abzupassen. Sie sind nach dem internationalen Recht zur Rettung verpflichtet, wenn sie auf ein Schiff in Seenot treffen. Im September und Oktober wurden nach Angaben von Frontex 30 Prozent aller Seenotrettungen durch Handelsschiffe vorgenommen. Die Flüchtlinge werden damit in große Gefahr gebracht, allein durch das Umsteigen zwischen den Schiffen auf hoher See.

Und es sieht nicht so aus, als ob sich daran etwas ändern würde. Avramopoulos stellte im Plenum des Europaparlaments einen Plan vor, der nur die üblichen Punkte enthielt. Der Kampf gegen Schleusernetzwerke solle verstärkt werden. Dazu sollen neben der Strafverfolgung auch präventive Aufklärungskampagnen in den Herkunfts- und Transitstaaten beitragen, die über die Risiken der unerlaubten Einreise aufklären. Die Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten solle ausgebaut werden. Damit ist vor allem die Türkei gemeint, weil die Zahl der illegalen Einreisen von dort aus zugenommen habe. An die EU-Staaten ergeht der Appell, das gemeinsame Asylsystem vollständig zu verwirklichen und ein »echtes« europäisches Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge zu entwickeln. Bislang lehnt die Mehrheit der Mitgliedsstaaten eine verbindliche Festlegung auf die Aufnahme einer bestimmten Anzahl von Asylsuchenden direkt aus den Herkunftsstaaten ab. Damit sind die Flüchtlinge auch weiterhin zu der gefährlichen Reise über das Mittelmeer gezwungen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 17. Januar 2015


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