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Tanz unter dem Vulkan

Kontrastprogramm in Neapel: Rat der Europäische Zentralbank tagte im Bourbonenpalast und beschloß neues Rettungsprogramm für Zocker und Superreiche

Von Rainer Rupp *

Fast wäre das Ratstreffen der Europäischen Zentralbank am Donnerstag unbemerkt geblieben. Die Tagung des zweitgrößten Gelddruckvereins der Gegenwart (nach der US-Zentralbank Fed) in Neapel hatte es nicht leicht, sich im Tagesranking der Topnachrichten zu behaupten. Wenn die Inszenierung der EZB-Bosse unter Führung des Goldman-Sachs-Mannes Mario Draghi dennoch ein Knaller wurde, lag es an den heftigen Protesten gegen die Politik des »unabhängigen Gremiums«. Und an der erhöhten Aufmerksamkeit der Finanzmarktakteure. Tausende Demonstranten hatte am Fuße des Vesuv dafür gesorgt, dass die EZB-Riege keinen geruhsamen Tag hatte. Dabei ließ das brutale Vorgehen der italienischen Carabinieri zur Unterdrückung der Proteste vor dem Tagungsort die Aktionen der Hongkonger Polizei gegen die »Occupy Central«-Bewegung vergleichsweise harmlos aussehen.

Ein Hauch Mittelalter

Zu dem Treffen waren die 18 Chefs der nationalen Notenbanken der Euro-Zone und die sechs Direktoren der EZB angereist. Sie wollten offiziell die Probleme der Peripherie der Euro-Zone diskutieren. Allein die Wahl des Tagungsortes (der Palast eines der zahlreichen früheren italienischen Fürstenhäuser) machte den Kontrast zwischen den abgehobenen Euro-Geldpolitikern und der ökonomischen Realität deutlich. Das inspirierte auch bürgerliche Beobachter. Unter der Schlagzeile »Draghi führt die EZB nach Gomorrha, während Neapel betet«, schrieb die US-Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg: »Die Stadt ist eine deutliche Warnung, wie schlimm die Dinge werden können. Wenn es eine Peripherie in der Peripherie der Euro-Zone gibt, dann ist es Neapel.«

»Die Kluft zwischen der Debatte im königlichen Palast Capodimonte und dem Alltag kann nicht mit der Geldpolitik gefüllt werden«, sagte der Ökonom Riccardo Realfonzo, ein ehemaliger Stadtrat. Und der katholische Erzbischof Crescenzio Sepe erklärte am 19. September den Gläubigen, die in die mittelalterliche Kathedrale zum Fest des Schutzpatrons der Stadt, des heiligen Gennaro, gekommen waren: »Neapel hungert nach Brot und Gerechtigkeit, nach Hoffnung und Zukunft, nach Arbeit, Rechtmäßigkeit und Planung.«

Im vergangenen Jahr hat die Stadt beim sogenannten Elendsindex die Spitzenposition eingenommen. Die Kennziffer gewichtet statistische Werte wie Arbeitslosigkeit, Familieneinkommen oder Obdachlosigkeit. So liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf um ein Drittel unter dem italienischen Durchschnitt, die Arbeitslosigkeit ist mit 25,8 Prozent mehr als doppelt so hoch. Die Hochburg der Verbrecherorganisation Camorra ist seit Beginn der Krise besonders stark vom wirtschaftlichen Siechtum Italiens betroffen. Mit einer Verschuldung von etwa einer Milliarden Euro schrammte die Kommune dieses Jahr gerade so am Bankrott vorbei.

Während der Erzbischof und seine Schäfchen auf ein Wunder hoffen, sind Neapels Aussichten für die Zukunft schlecht. Italien ist im zweiten Quartal 2014 erneut in eine Rezession (definiert als das Schrumpfen des BIP in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Quartalen) gerutscht. Es ist bereits die dritte in sechs Jahren. Laut jüngster Prognose von Finanzminister Pier Carlo Padoan wird die Wirtschaftsleistung 2014 um mindestens 0,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgehen. Laut offizieller Voraussage vom April war ein Wachstum um 0,8 Prozent geplant. Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Anämie (nicht nur in EU-Europa, sondern weltweit) dürfte sich denn auch Padoans Prognose von 0,6 Prozent Wachstum im nächsten Jahr nur mit Hilfe des heiligen Gennaro bewahrheiten. Und das gilt nicht nur für Neapel oder Italien sondern für die gesamte EU.

Doping für Spekulanten

Vor diesem Hintergrund war das EZB-Treffen für die Bürger Neapels eine Zumutung. Fern der Realität palaverten die Bosse der Euro-Zentralbank darüber, was sie seit 2008 vergeblich versuchen: die Rettung des Euro. Draghi fiel dazu ein, noch mehr Geld zu drucken – und dafür privaten Zockerbanken und Finanzjongleuren hochriskante »Finanzprodukte« abzukaufen, angeblich um die Kreditvergabe anzuregen. Doch Unternehmer kaufen keine Kredite, wenn die Marktaussichten schlecht sind. Allerdings brauchen die Zocker an den Aktienbörsen und die Fondsgeier stets frisches Geld, um die Spekulationsblase weiter zu vergrößern. Die EZB dopt also den Kasinobetrieb zu Nutz und Frommen der Superreichen (was wohl auch so beabsichtigt ist) – und reicht das Risiko an die Steuerbürger weiter. Die Massen der Arbeitenden in EU und Euro-Zone hat von diesen Beschlüssen nichts – außer, die Rechnung bezahlen zu müssen. Die Griechen zahlen bereits, Spanier und Portugiesen auch, und bei den Franzosen dürfte es ebenfalls bald ans Eingemachte gehen. Einer aktuellen Studie zufolge leben bereits über 60 Prozent aller Bürger Griechenlands an oder unterhalb der Armutsgrenze.

Im Rahmen der zum Dogma erhobenen neoliberalen Regierungspolitik der EU-Länder spielt die Imagination »Sparpolitik« eine entscheidende Rolle. Hinter diesem verharmlosenden Begriff stehen brutale Kürzungen der Löhne, Gehälter und der Ausgaben für Soziales, Gesundheitswesen und Bildung. Vor allem aber wird der Arbeitsmarkt dereguliert, die Privatisierung von Dienstleistungen vorangetrieben und der Abbau von Demokratie und nationaler Souveränität der Mitgliedsländer forciert.

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Oktober 2014


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